Intensiver leben

Status: Innere Leere. Berührende und freudvolle Emotionen sind in Vergessenheit geraten. Wie können wir lernen, das Leben wieder intensiver zu spüren?

Eine schwarze Figur, wirbelt mit seinen Armen einen bunten Wirbel
Unsere Sinne mit dem Hier und Jetzt verbinden: Das kann uns helfen, das Leben in all seinen Farben zu genießen. © Sahra Mazzetti für Psychologie Heute

Ich habe eine Meise, strenggenommen sogar mehrere. Es könnten Blaumeisen sein, das schließe ich aus der Farbe ihres Gefieders. Seit einigen Jahren teilen wir uns einen Lebensraum, unseren Garten. Nietzsche wird der Satz zugeschrieben: „Schenke keinem Gedanken Glauben, der nicht im Freien geboren ist.“ Wache ich bei Tagesanbruch auf und ein angstvoller Gedanke spielt mit einer diffusen Unruhe Fangen, setze ich mich auf die Treppe, die in den Garten führt. Tirili, tirili schallt es aus Richtung der Tanne. Die…

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setze ich mich auf die Treppe, die in den Garten führt. Tirili, tirili schallt es aus Richtung der Tanne. Die Vögel trällern, als gelte es, einen Wettbewerb zu gewinnen, ihr Gesang trifft mich unvermutet in meiner Mitte und verändert meine Gefühlsfarbe von kaltem Grau zu warmem Orange. Welch Schön­heit.

Wir erschaudern bei einem David-Bowie-Song und bei dem Anblick der ersten Krokusse im Februar, die Worte der Lyrikerin Amanda Gorman bei der Amtseinführung des US-Präsidenten bescheren uns Gänsehaut, eine von Birken umsäumte Lichtung flirrt im Licht – und irgendetwas passiert mit uns. Wir leben im Augenblick. Die sensorischen Empfindungen sind auf scharf gestellt, die Erkenntnisräume weiten sich. Der Moment ist larger than life. Es gibt nur Jetzt.

Bei Aldi-Rotwein auf der WG-Party

Die Sehnsucht nach einem intensiven Leben ist vielen Menschen wohlbekannt. Eine prototypische Selbstbeschreibung dieser Tage könnte lauten: Ich habe ja an und für sich ein gutes Leben, mir fehlt es an nichts. Mein Job ist halbwegs interessant, die Bezahlung stimmt. Ich bin gesund. Eigentlich habe ich es zu etwas gebracht. Eigentlich besteht kein Grund zur Klage. Eigentlich ist alles okay.

Erinnerungen kommen auf an Zeiten, in denen man glaubte, eine bessere, irgendwie plastischere, farbigere Version der Welt zu bewohnen. Das Erleben war unmittelbar, man war ergriffen, überrascht und fühlte sich angenehm stimuliert. Die Kindheit und Jugendjahre waren reich an solchen Momenten: das erste Eis zu Saisonbeginn im Freibad, bei Aldi-Rotwein auf einer WG-Party tanzen und lachen, bis die Bauchmuskeln brennen. Der erste Kuss. Der letzte Tag vor den großen Ferien.

Genau diese Gefühle und Stimmungen versuchen wir heute wieder herbeizuführen. Wir kaufen ein Auto, das verspricht, uns auf Abenteuer zu führen, reisen in Städte mit vibrierendem Kultur- und Nachtleben, buchen Wochenenden in Wellnesshotels, um mal wieder ganz bei uns selbst zu sein. Und es passiert mit uns: nichts. In einem Interview mit dem Tagesspiegel beschreibt der Soziologe Hartmut Rosa dieses Phänomen wie folgt: „Versprochen wird eine Begegnung, verkauft aber eine Ware. Was wir aber brauchen, ist eine andere Weise des Begegnens. Nicht kontrollieren und beherrschen, sondern in Kontakt treten.“ Dann entstehe ein „vibrierender Draht zwischen uns und der Welt“.

Voller Ehrfurcht im Bett

Auch die Psychologie treibt die Frage um, wie wir (wieder) zu einem reicheren Gefühlsleben gelangen können. Mit dem Ziel, innere Prozesse anzuregen, die uns in Erstaunen versetzen, berühren, ergreifen, verwundern oder emotional überwältigen. Mit dieser Idee befassen sich die Psychologieprofessoren Dacher Keltner von der University of California, Berkeley und Jonathan Haidt von der New York University. Die beiden US-Amerikaner begründeten 2003 mit der Veröffentlichung ihres Konzepts Approaching awe, a moral, spiritual, and aesthetic emotion ein florierendes Forschungsgebiet.

Das englische Wort awe lässt sich dabei nur unzureichend ins Deutsche übertragen. Ehrfurcht beinhaltet die Wörter Ehre und Furcht, was die Assoziation mit Einschüchterung oder gar Gefahr weckt. Zudem wirkt das Wort wie aus der Zeit gefallen, wohl nur wenige kämen auf die Idee, den Begriff in einer Unterhaltung zu verwenden, etwa: „Das war ja ein riesiger Mond letzte Nacht – da habe ich voller Ehrfurcht im Bett gelegen.“ Das klingt schräg und würde der Empfindung nicht gerecht. Man behilft sich deshalb mit Übersetzungen wie „ehrfurchtsvolles Staunen“.

Das Forscherduo Dacher Keltner und Jonathan Haidt ist der Überzeugung, ehrfurchtvolles Staunen vermittle uns das Gefühl, „in der Gegenwärtigkeit von etwas Großem zu sein, das unsere Vorstellung von der Welt transzendiert“. Für die Psychologen kommt diese Erfahrung einem „innerpersönlichen Wunder“ gleich. Die Wirkung solcher ebenso geheimnisvollen wie komplexen Erfahrungen gehe weit über das Angenehme und Illustre hinaus. Für die Wissenschaftler wirken sich derlei ästhetische Erfahrungen, also Sinneswahrnehmungen auf zwei Ebenen aus: Sie haben zum einen die Kraft, das psychische Wohlbefinden nachhaltig zu verbessern, und zum anderen die Macht, persönliche und spirituelle Wachstumsprozesse anzuregen.

Gipfelerfahrungen

Die Awe-These der beiden Forscher inspirierte in der Folge zahlreiche Psychologinnen, Neurowissenschaftler und Sozialwissenschaftlerinnen weltweit zu eigenen Experimenten und Studien. Mittlerweile existieren mehrere hundert Artikel dazu. Die Sozialwissenschaftlerin Judith Moskowitz von der North­western University bezeichnet die Ehrfurchtsforschung als cutting edge, also hochgradig innovativ.

Dabei haben die Forschenden das Rad nicht neu erfunden. Abraham Maslow beschäftigte sich vor mehr als einem halben Jahrhundert mit der so­genannten Gipfelerfahrung, der peak experience. Der bedeutende Sozialpsychologe beschrieb diese Erlebnisse in seinem 1964 erschienenen Buch Religions, Values, and Peak Experiences (Religionen, Werte und Gip­felerfahrungen) als „Momente des höchsten Glücks und der Erfüllung“. Diese seien selten, euphorisch, ozeanisch, tiefbewegend.

Gipfelerfahrungen haben Abraham Maslow zufolge meist nichts mit Religion zu tun, sie entstammten großen Augenblicken von Liebe und Sexualität, Inspiration und Kreativität, ästhetischen Erfahrungen durch Kunst, insbesondere die Musik. Frauen erlebten sie mitunter bei der Geburt, alle Geschlechter auch bei sportlichen Betätigungen wie Tanzen oder Tauchen sowie bei der Verschmelzung mit der Natur.

Maslow sah darin Erfahrungen, die uns ermöglichen, unser Bewusstsein zu erweitern und zu spüren, dass wir Teil von etwas Großem sind, das uns selbst übersteigt. Daraus erwüchsen Momente tiefer Verbundenheit, Momente von unbedingter Zugehörigkeit, Momente der Aufhebung allen Getrenntseins, Momente des Einsseins mit der Welt.

Während die Psychologie in der Mitte des vergangenen Jahrhunderts um die Frage kreiste: „Was macht den Menschen krank?“, stellte Maslow das Konzept auf den Kopf und wollte wissen: „Was macht den Menschen gesund?“ Um das herauszufinden, befragte er eben­solche Personen und stellte dabei fest, dass sie fast ausnahmslos über Gipfelerfahrungen berichteten, zu denen er auch spirituelle Erlebnisse zählte. Er schloss daraus: Zum mental gesunden ganzheitlichen Menschsein gehören peak experiences zwingend dazu.

Von einem Meditationskurs zum nächsten

Die Wissenschaft mag den Zeitgeist prägen, das Gleiche gilt aber auch umgekehrt. Schaut man sich die Gegenwart genauer an, findet man durchaus Gründe, weshalb das Interesse an außergewöhnlichen Erfahrungen, an einem intensiveren Leben derzeit so viele Menschen umtreibt: Unsere Terminkalender sind prallvoll. „Wir hetzen von Meditationskurs zu Meditationskurs“, wie der Gesundheitsforscher Arndt Büssing von der Universität Witten/Herdecke augenzwinkernd sagt.

Doch ganz egal wie emsig wir uns bemühen, unser Dasein bleibt etwas gleichförmig. Bewusst wird uns das mitunter, wenn wir an Geburtstagen oder zum Jahreswechsel die vergangenen Monate Revue passieren lassen und uns fragen: Mehr war da nicht als Alltag?

Psychologe Dacher Keltner beschreibt in seinem bislang nur auf Englisch veröffentlichten Buch Awe. The Transformative Power of Everyday Wonder, wie sich unser Alltag verändere, wenn wir nicht versuchten, ihn mit Erlebnissen und Events vollzustopfen, sondern das Staunen wieder lernten. Zwei Phänomene charakterisierten diese Erfahrung: deren „wahrgenommene Größe“ und „das Bedürfnis, an diese Größe des Lebens heranzuwachsen“. Sehe man sich etwas so Riesiges und Grandioses wie den Grand Canyon an oder begegne man einer charismatischen Persönlichkeit, fordere dies unser normales Verständnis der Welt heraus. Daraufhin änderten sich unsere kognitiven Strukturen, das Neue, Überraschende werde in unsere bestehenden Vorstellungen von der Welt integriert.

Acht Wunder des Lebens

Dacher Keltner benennt acht Wunder des Lebens, sie stellten die häufigsten Stimuli dar: moralische Schönheit (beispielsweise Kampfesmut), gemeinsam für eine Sache zu brennen (etwa ein politisches Anliegen), Natur, Musik, visuelle Kunst, Spiritualität (Erfahrungen, die das Selbst übersteigen), Sterblichkeit (existenzielle Erfahrungen) und Erleuchtungsmomente (tiefe Einsichten).

Um herauszufinden, welcher der genannten Auslöser über die größte Wirkmacht verfügt, befragte das Team um den Emotionsforscher weltweit rund 2600 Personen nach deren intensivsten Erfahrungen. Es zeigte sich, dass die moralische Schönheit uns in ehrfürchtiges Staunen versetzt wie nichts anderes. Sehen oder hören wir von Menschen, die mutig, großherzig oder ethisch integer handeln, sind wir ergriffen.

Weniger Angst, Grübeln und Stress

Was passiert bei Awe-Momenten in unserem Gehirn? Einen Erklärungsansatz liefern Experimente, bei denen Probandinnen beeindruckende Naturvideos sahen, während sie im Kernspintomografen lagen. Die Forschenden um den Psychologieprofessor Michiel van Elk konnten beobachten, wie in den Gänsehautmomenten die Aktivität im Ruhezustandsnetzwerk (default mode network) abnahm. Dieses Areal ist an ichbezogenen Vorgängen wie Selbstkritik, Ängsten und negativen Gedanken beteiligt. Befinden wir uns in einem Flow-Zustand, meditieren oder konsumieren psychedelische Drogen, fährt das Ruhezustandsnetzwerk ebenfalls herunter.

Noch sind nicht alle neurologischen Mechanismen, die in Momenten des Berührtseins ablaufen, geklärt. Dennoch liegen mehrere dutzend Studien vor, die eine positive Wirkung auf unser psychisches Wohlbefinden und unsere mentale Gesundheit belegen können: Ehrfurchtserlebnisse bewirken etwa eine optimistischere Grundstimmung, sie führen zu höherer Lebenszufriedenheit. Negative Gedanken, Grübelschleifen (Rumination), Ängste und Stress nehmen ab.

Einige der Probandinnen berichteten, mehr Verbundenheit zu spüren, wodurch sich auch Beziehungen verbesserten. Experimentell zeigte sich bei den Studienteilnehmenden eine erhöhte Bereitschaft, sich gemeinnützig zu engagieren oder Geld zu spenden. Der Psychoimmunologie wiederum gelang der Nachweis eines positiven Einflusses auf das Immunsystem, die Werte für Entzündungsmarker im Blut nahmen ab.

Mehr staunendes Innehalten

Wondering awe nennt Arndt Büssing seinen Forschungsgegenstand, der Begriff lässt sich mit „staunendes Innehalten in Ehrfurcht“ übersetzen. Büssing hat selbst eine Vielzahl von Studien mit gesunden und kranken Menschen durchgeführt. Ihm gelang etwa der Nachweis, dass Personen, die über häufige und intensive Awe-Erlebnisse berichteten, besser mit den Belastungen der Coronapandemie zurechtkamen. Staunen hilft also beim Coping.

Die von Dacher Keltner und Jonathan Haidt postulierte Größe des Stimulus – der Grand Canyon – hält Büssing für nicht notwendig. Eine außergewöhnliche Erfahrung bedürfe nicht zwingend eines außergewöhnlichen Triggers. Es gehe eben nicht darum, immer spektakulärere Dinge zu erleben, ungewöhnlicher zu reisen, exklusiver zu essen, ausgefeilter einzukaufen. Ein kleiner, unscheinbarer Trigger tue es auch – etwa der Stadtwald. „Wir können uns darin üben, mehr Dankbarkeit und staunendes Innehalten zu erfahren“, sagt Arndt Büssing.

Der Schlüssel liege in der Sensibilisierung unserer Wahrnehmung und der Reflexion unserer Gedanken und ­Gefühle. Hierzu hat der Gesundheitsforscher ein Interventionsprogramm entwickelt, das öffentlich zugänglich ist und zudem wissenschaftlich evaluiert wird (uni-wh.de/staunen). Mindestens zwei Wochen lang sollen die Teilnehmenden dem Interventionsmodul folgen und kurze Auszeiten im Alltag einlegen. Die Struktur sieht vor, jeden Morgen mit einer kurzen Stille zu begehen, das kann eine Meditation, ein Gebet oder einfach nur das In-sich-Hineinhören sein. Täglich gibt es eine Lektion, die sich auf etwas Konkretes bezieht: An einem Tag sind es die Wolken, die vorüberziehen, an einem anderen ein Apfel oder Brot.

Die Wahrnehmung des Schönen

Eine Übung namens Die Wahrnehmung des Schönen im Alltäglichen regt folgendermaßen an: „Das Brot ist angeschnitten und lädt zum Probieren ein: Den Geschmack genießen und ihm nachspüren.“ Dabei geht es nicht nur um das fokussierte Riechen, Schmecken oder Fühlen, sondern auch darum, das Brot wertzuschätzen und es nicht als Selbstverständlichkeit zu betrachten. Im Laufe des Tages werden die Teilnehmenden dazu angehalten, einen kurzen Spaziergang zu machen und sich dabei auf den gegenwärtigen Moment zu konzentrieren.

Am Abend kann in einem Journal nachgespürt und notiert werden: Was hat mich heute überrascht? Wofür bin ich dankbar? Was nehme ich mir vor? Das Ziel der Intervention, so Büssing, bestehe darin, nachhaltig zu einer granularen Wahrnehmung zu gelangen, in sich hineinzuhören, mit den eigenen Emotionen in Kontakt zu treten und zu reflektieren. Mit einem Wort: Bewusstheit.

Die Welt besteht nicht nur aus uns

Ein anderes Setting entwickelte die Psychologin Virginia Sturm von der University of California in San Francisco, sie schickte ihre Forschungsteilnehmerinnen und -teilnehmer auf awe walks. Dazu teilte sie die Probandinnen in zwei Gruppen ein, beide wurden gebeten, sich mindestens einmal die Woche für mindestens 15 Minuten unter freiem Himmel zu bewegen. Die erste Gruppe bekam keine weiteren Anweisungen, die zweite hingegen sollte sich während der Spaziergänge nicht durch das Handy ablenken lassen. Die Teilnehmenden wurden zudem gebeten, sich Einzelheiten in der Natur sehr genau anzusehen und sich auf ihre Sinneswahrnehmungen zu konzentrieren. Beide Gruppen sollten am Ende das Spaziergangs dann doch das Handy zücken und ein Selfie von sich aufnehmen.

Die Auswertung von mehreren hundert Fotos ergab: Diejenigen, die keine Unterweisung erhalten hatten, fotografierten sich über acht Wochen hinweg auf immer gleiche Art. Deutliche Unterschiede wiesen hingegen die Selfies derjenigen auf, deren Aufmerksamkeit geschärft wurde. Das eigene Gesicht war darauf zunehmend kleiner abgebildet und machte vermehrt der Natur Platz.

Small self nennt sich dieser Effekt, bei dem das Individuum sich auf eine gute Art selbst nicht so wichtig nimmt. Und noch etwas veränderte sich: Die Mundwinkel gingen merklich höher, die Probanden lächelten vermehrt. In den Fragebögen konnten die Teilnehmenden zudem über eine Spirale des gesteigerten Wohlbefindens berichten und über mehr Mitgefühl. „Derartige Erfahrungen rücken unsere Perspektive zurecht und zeigen uns, dass die Welt nicht nur aus uns besteht“, resümiert Virginia Sturm.

Staunen wir, wird in unserem autonomen Nervensystem der Parasympathikus aktiviert. Er steuert Körperfunktionen wie Herzschlag, Atmung und Verdauung. Dann atmen wir tiefer und langsamer, auch der Herzschlag verlangsamt sich, die Hirnareale, die für Angst, Wut oder Stress zuständig sind, werden heruntergefahren, so Sturm. „Im Ergebnis fühlen wir uns ruhiger, entspannter und verbunden mit unserem Körper.“

Rührung gibt es nicht

„Im Kino gewesen. Geweint“, vertraut Franz Kafka seinem Tagebuch im Oktober 1921 an. Rund hundert Jahre später erforscht Dr. Eugen Wassiliwizky am Max-Planck-Institut für empirische Ästhetik in Frankfurt am Main die Grundlagen der Rührung. Der Neuropsychologe findet es „frappierend“, dass die wissenschaftliche Beschäftigung mit einer so wichtigen Emotion erst in den letzten zehn Jahren aufgekommen ist.

„Rührung taucht in fast keinem der klassischen Emotionskataloge auf, fast so als gäbe es sie gar nicht.“ Man könnte sie als eine Schwester des ehrfurchtsvollen Staunens betrachten. Abgrenzen lassen sich dem Psychologen zufolge die beiden ästhetischen Affekte unter anderem hinsichtlich ihrer Auslöser: Während das ehrfurchtsvolle Staunen mit höherer Wahrscheinlichkeit in Verbindung mit Naturerlebnissen und Kulturgütern wie etwa grandiosen Bauwerken stehe, knüpfe Rührung mehr an Individuen an, meistens Menschen oder menschenähnliche Akteure.

Wie ehrfurchtsvolles Staunen ist auch die Rührung eine fein austarierte Mischung von positiven und negativen Emotionsanteilen. Der Psychologe spricht von „antithetischen Valenzen“, da positive Affekte sich mit negativen verbinden. Während sich beim ehrfurchtsvollen Staunen die wahrgenommene Schönheit eines Wasserfalls mit der Furcht vor dessen Wucht paaren kann (man denke an Niagara), verbinden sich beim Berührtsein häufig Freude und Traurigkeit. Die elterlichen Tränen auf der Schulabschlussfeier der Tochter oder des Sohnes speisen sich aus dem Stolz auf das Erreichte und den Wermutstropfen, den Nachwuchs nun loslassen zu müssen. Das Sentiment ist bittersüß.

Gänsehaut-Momente

Die Künste lebten von der Auslösung negativer Emotionen in verschiedenen Proportionen. Kunstwerke, die ausschließlich positive Emotionen auslösen, könnten uns nicht wirklich emotional berühren und fielen schnell der Langeweile zum Opfer. Dominierten in einem Werk indes nur Schmerz, Furcht, Ekel oder Elend, sei das für die Adressatinnen eine zu deprimierende Erfahrung. Erst die richtige Mischung der antithetischen Valenzen mache Rührung aus.

Der Heldentod veranschaulicht diese Ambivalenz: Das Publikum sieht der Feuerwehrfrau, dem Revolutionsführer oder dem Soldaten in ihrem Kampf zu. Findet die Heldin oder der Held den Tod, rettet aber beispielsweise einen anderen Menschen, erleben Zuschauerinnen und Zuschauer zwar Leid, aber auch moralisch gefärbte Freude oder Erhebung.

Reine Freude steht dagegen im Vordergrund, wenn wir eine Sportlerin dabei verfolgen, wie sie nach zahlreichen Rückschlägen und Niederlagen schlussendlich den Sieg erringt. Der Moment des Triumphs ist jedoch nur deshalb rührend, weil die schmerzhaften Erinnerungen an die durchlittenen Beeinträchtigungen der Heldin beim Zuschauen noch mitschwingen. Wir bekommen eine Gänsehaut. Diese ist ein sogenannter Marker für starke Rührungsmomente.

Im Kernspintomografen ließ sich beobachten, dass in Gänsehautmomenten die Hirnareale des Belohnungssystems aktiv sind. Ästhetische Emotionen wie Rührung können uns Gefühle des Wohlbefindens und Glücks bereiten. Der Neuropsychologe Wassiliwizky ist davon überzeugt, dass das nicht nur irgendwie nett ist, sondern auch eine evolutive Funktion hat. Er vermutet, gemeinsam erlebte bewegende Momente könnten die Bindung zwischen den Anwesenden stärken.

Blick zum Firmanent

Auch Hightechmessungen ändern nichts daran: Hochgradig intensive oder gar überwältigende Emotionen umgibt immer eine Aura des Unerklärlichen. Unsere Vorfahren blickten hinauf zum nächtlichen Firmament und dabei geschah etwas, das ihr inneres Erleben transformierte. Wie sonst ließen sich die Abbildung des Himmels und anderer Naturphänomene in steinzeitlichen Höhlen erklären? Vor nicht allzu langer Zeit erwuchs aus der Faszination für die Gestirne das geradezu vermessene Unterfangen, Menschen ins Weltall zu katapultieren.

Zu den spannendsten Fragen an das noch recht junge Gebiet der Ehrfurchtsforschung gehört: Sind wir alle gleichermaßen disponiert oder gar begabt für awe? Der Gesundheitsforscher Arndt Büssing ist sich sicher: Die Fähigkeit sei den meisten Menschen gegeben. Rund 10 bis 15 Prozent gelinge dies indes nicht so gut oder gar nicht. „Es ist schwierig, herauszufinden, worin die Gründe liegen“, so Büssing. Laut seinen Untersuchungen tendieren Frauen häufiger zum Staunen als Männer; ältere Menschen eher als jüngere. Seinen Befragungen zufolge berichteten besonders religiöse und spirituelle Menschen sowie Yogapraktizierende von emotio­nalen Highs.

Gibt es eine Relation zwischen ehrfurchtsvollem Staunen und dem Big-Five-Persönlichkeitsinventar mit seinen Dimensionen Extraversion, Neurotizismus, Gewissenhaftigkeit, Verträglichkeit und Offenheit für neue Erfahrungen? Das haben mehrere Studien ausgelotet. Offenere Menschen berichteten demnach etwas häufiger von intensiven Hochgefühlen. Allerdings unterscheiden sich die Untersuchungen hinsichtlich der Effektstärke von openness to experience, mit der nachweislich auch eine erhöhte Bereitschaft zur inneren Erkundung einhergeht.

Wie ich der Welt begegne

Büssing glaubt, entscheidend seien weniger unsere Big-Five-Eigenschaften als die Möglichkeit, unser Erleben selbst zu beeinflussen. „Es geht um die Form der Gefasstheit, um die Art und Weise, wie ich der Welt begegne.“ Der Wissenschaftler betrachtet Ehrfurcht als ­einen Weg, zu dem man sich aufmacht. Folglich können wir uns darin üben, ein bewussteres Leben zu führen. Es fängt damit an, dass wir unsere Wahrnehmung gezielt auf die einzelnen Sinne richten und dem inneren Widerhall nachspüren.

Ein Blick in den Nachthimmel könnte ein Anfang sein.

Lesen Sie außerdem zum Thema "Intensiver leben" aus derselben Ausgabe:

Big Five Inventory

Es ist ein mehrdimensionales psychologisches Modell, das die Hauptdimensionen der Persönlichkeit erfasst. Das Fundament des Fünf-Faktoren-Modells wurde in den 1930er Jahren gelegt, den Test entwickelten die US-Psychologen Paul Costa und Robert McCrae Ende der 1980er Jahre. Er gilt als empirisch fundiert und als Instrument zur Bestimmung von Persönlichkeitseigenschaften. Die Auffassung, diese blieben über die Lebensspanne hinweg konstant, ändert sich derzeit.

Quellen

Dacher Keltner, Jonathan Haidt: Approaching Awe, a moral spiritual, and aesthetic emotion. Cognition & Emotion, 2003. DOI: 10.1080/02699930302297

Sturm Viktoria u.a.: Big smile, small self: Awe walks promote prosocial positive emotions in older adults. Emotion, 2022. 22(5), 1044–1058. DOI: org/10.1037/emo0000876

Robert McCrae: Aesthetic chills as a universal marker of openness to experience. Motivation and Emotion, 2007. 31(1), 5–11. DOI:10.1007/s11031-007-9053-1

Winfried Menninghaus: (2019). What are aesthetic emotions? Psychological Review, 2019. 126(2), 171–195. DOI: 10.1037/rev0000135

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 12/2023: Intensiver leben