Der auf Vögel achtet

In der blauen Stunde, bevor es Nacht wird, lauschen wir den Vögeln. Oder schließen die Fenster. Andreas Maier über unseren Umgang mit Tieren.

Die Illustration zeigt eine Blaumeise auf einem Ast, die von einem Mann beobachtet wird
Andreas Meier erzählt, wie unterschiedlich Menschen zu Tieren stehen. © Jan Robert Dünnweller

Ist Ihnen mal aufgefallen… Psst, es ist Abenddämmerung… Hören Sie es? Jetzt machen sie ihr Geräusch, das typische Ticksen. Es klingt wahnsinnig aufgeregt. Als würden sie dem Nächsten nichts gönnen oder warnen vor allem auf der Welt.

Bei uns Menschen nennt es sich die blaue Stunde. Ich weiß nie, ob es die nautische oder bürgerliche Dämmerung ist. Wir Menschen, sofern wir gerade so etwas wie Landschaft vor dem Fenster haben, genießen ja die blaue Stunde, wir lieben sie als den philosophischsten Moment des…

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ja die blaue Stunde, wir lieben sie als den philosophischsten Moment des Tages – zu Zeiten Johann Sebastian Bachs hat man sich um diese Abendzeit die Tobackspfeife angezündet, die Stille genossen und sich vielleicht ebenfalls über das Ticksen Gedanken gemacht.

Hat es die Stille gestört? Die Stille der Welt zur Zeit Bachs?

Die Amseln ticksen grundsätzlich zu dieser Zeit wie aus Empörung. Sie machen: Ticks, ticks, ticks! Ticks, ticks, ticks, ticks, ticks!! Bisweilen eine Viertelstunde oder noch länger. Da, wo ich herkomme, legte es sich in meiner Jugend als Geräuschteppich über das ganze Stadtviertel. Ich genoss das damals. Dass offenbar eine gewisse Aufregung dahintersteckt und es eben keine friedlich-blaue Stunde für die Amseln ist, war mir zu der Zeit noch nicht klar.

Ich habe früher sowieso nicht ganz verstanden, was die Vögel stimmlich so anstellen. Irgendwann konnte ich ihre Gesänge und Rufe unterscheiden, aber warum sie sich jeweils akustisch mal so, mal so verhalten, ist noch mal eine andere Geschichte.

Wertvolle Momente 

Ist Ihnen, wollte ich am Anfang eigentlich fragen, mal aufgefallen, wie unterschiedlich Menschen zu Tieren stehen? Ich meine damit nicht Hunde- oder Katzenleute oder welche mit anderen Haustieren. Nein, ich meine da draußen, bei zufälliger Begegnung. Ein Klassiker ist es, wenn man als vogelaffi­ner Mensch auf einer Straße steht und etwas sieht oder hört, was man lange nicht mehr zu Gesicht oder zu Ohren bekommen hat. Das ist immer ein wertvoller Moment.

Sei es ein Wintergoldhähnchen, sei es eine Gruppe Schwanzmeisen. Nun aber kommen Passanten. Es gibt einen ganzen Katalog an Passanten-Verhaltensweisen. Hauptsächlich laufen sie einfach vorbei – meist verscheuchen sie damit natürlich die Tiere. Andere schauen mich etwas befremdet an, wenn ich so nutz- und zwecklos auf dem Weg stehe. Ihr Blick wirkt ein bisschen abwertend – als hätte ich in ihren Augen zu viel Zeit.

Dann wieder gibt es welche, die mich im Gegenteil mit Sympathie betrachten, auch wenn Vögel nicht ihr Ding sind und sie über Vögel vielleicht gar nichts wissen. Aber sie sehen mich, der auf Vögel achtet, und das finden sie gut. Ich habe auch erlebt, das gefragt wird. „Was ist da in der Hecke?“ Manche stellen sich einfach neben mich und hören ebenfalls zu oder beginnen, mit den Augen zu suchen.

Über die Natur lernen

Oder andere Tiere! Ein merkwürdiges Erlebnis habe ich an der Außenalster in Hamburg gehabt, es war ziemlicher Betrieb auf der Promenade, kurz vor der Lombardsbrücke. Ich ging spazieren. Eine Familie mit Kindern kam vorbei, auch andere Passanten blieben stehen, es gab offenbar etwas zu sehen. Eine Attraktion!

Ich kann mich gut daran erinnern, wie meine Mutter mich selbst als Kind hin und wieder auf ein Tier hinwies und es benannte, damit ich etwas „über die Natur“ lerne. Oder weil es Kindern normalerweise Spaß macht, ein Eichhörnchen oder etwas so Seltsames wie eine Nutria zu sehen. Dieses Verhalten reproduzierten die Eltern am Alsterufer, aber wie! „Da, eine Maus! Guck, da ist eine Maus, eine echte Maus!“

Seltsamerweise protestierten die umstehenden Passanten nicht, sondern sahen nur allesamt wie die anwesenden Kinder dem Viech nach. Es war eine ziemlich groß geratene Ratte. Da das aber offenbar keiner wusste (was ich bis zu diesem Augenblick für unmöglich gehalten hatte), reagierten alle rattenungemäß, denn mit dem Wort „Maus“ verbindet man gemeinhin Lieblicheres, man nennt ja bisweilen sogar den oder die Lebensgefährtin so. „Ratte“ nennt man den oder die Lebensgefährtin eher nach dem Scheidungsprozess.

Es geht auch ganz andersherum. Einmal joggte ich wie üblich durch den Frankfurter Stadtwald. Ich kam auf gerader Strecke auf eine kleine Waldkreuzung zu, an der bereits mehrere Menschen in seltsam gebückter Haltung standen. Ich fragte: „Was ist da?“ Antwort: „Eine Blindschleiche.“ Ich befand mich nun bereits selbst in besagter seltsam gebückter Beobachtungshaltung, da kamen noch andere Spaziergänger, und als jemand fragte: „Was ist denn da?“, sagte ich meinerseits: „Eine Blindschleiche.“

Vereinigt im Zeichen der Blindschleiche

Es war wie eine surreale Theaterszene, all die Gebückten dort im Wald. Man beobachtete das Tier eine Weile, dann richtete man sich auf, verabschiedete sich höflich voneinander (im Wald!) und ging seines Weges. Menschen vereinigt im Zeichen der Blindschleiche!

Zwischen meiner Frau und mir gibt es Momente, die unsere ganze Geschichte miteinander wie in einem Kristallisationspunkt zusammenfassen. Dazu gehört, wenn vor allem meine Frau einen „Grünen“ sieht. Es passiert stets irgendwann im Frühsommer. Warum die Jahres-Erst-Erblickung eines „Grünen“ – es handelt sich um eine gewöhnliche Eidechse – so leitmotivisch in unserem Leben geworden ist, weiß ich nicht zu sagen.

Oder etwa das Thema Natur und Geräusch. Mir kann passieren, was will, Vogelgeräusche stören mich einfach nicht. Die meisten empfinde ich als ausnehmend schön. Etwas scheine ich damit zu verbinden. Aktuell haben wir neben den wunderbaren Mönchsgrasmücken, einem Girlitz und einigen Meisen auch eine Taube vor dem Fenster, die – okay, ich gebe es zu – um sechs Uhr in der Frühe schon etwas nervt.

Aber sie führt nicht dazu, dass ich das Fenster schließe. Morgens kommen im Sommer auch stets zwei, drei Bienen ins Schlafzimmer. Da kann schon passieren, dass wir das Fenster zumachen. Damit keine der beiden Seiten zufällig zu Schaden kommt.

Aus all dem erschließt sich in schöner Weise übrigens gar nichts. Denn ich kenne genügend Leute, die Vögel ebenfalls lieben, aber doch das allabendliche Ticksen nicht unbedingt hören wollen, und mehr noch das morgendliche, denn da stört es sie noch mehr.

Andreas Maier ist vielfach ausgezeichneter Schriftsteller. Auf elf Bände hat er seinen Zyklus „Ortsumgehung“ angelegt, 2021 ist der achte Band mit dem Titel Die Städte erschienen (Suhrkamp). In Psychologie Heute erdichtet er an dieser Stelle jeden Monat das Blaue vom Himmel.

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 5/2022: Was treibt mich an?