„Ich hatte doch eine glückliche Kindheit...“

… sagen so manche Patienten von Therapeutin Maren Langlotz-Weis. Erst über körpertherapeutische Ansätze kommen sie dann den Erlebnissen auf die Spur.

Das Bild zeigt eine sitzende anorektische Frau.
Körpertherapeutische Übungen, wie das „Tiefe Atmen“ helfen u.a. bei Anorexie-Patient_innen. © Igor Ustynskyy // Getty Images

Frau Dr. Langlotz-Weis, Sie schreiben in Ihrem Buch, dass viele Muster entstehen, bevor ein Kind sprechen kann, und daher nur als Emotionen und Körperempfindungen gespeichert sind. Könnten Sie mir ein Beispiel dafür geben?

Ja, zum Beispiel im Fall emotionaler Vernachlässigung: Eine Patientin von mir ist in den ersten Jahren ihres Lebens nur versorgt worden, das heißt, dass sie lediglich zu essen bekam und neue Windeln. Aber ansonsten hat die Mutter das Baby alleine liegen lassen, weil sie arbeiten musste. Das kleine Mädchen hatte immer nur abends Kontakt, wenn die Mutter nach Hause kam. Und was da in einem Kind vorgeht, das kann es noch nicht benennen, aber der Körper speichert es. Das ist eine tiefe Verzweiflung oder auch Todesangst, die Kinder empfinden, die so vernachlässigt werden.

Um es einmal theoretisch zu erklären: Der Psychologe George Downing sagt, dass wir mit so genannten affektmotorischen Schemata auf die Welt kommen, und zwar Bindung und Abgrenzung. Wir wollen Bindung, wir brauchen den Kontakt, die Nähe, das Versorgtsein, dass wir uns auf jemanden verlassen können. Wir brauchen aber auch genauso die Abgrenzung, die Autonomie, das Selbstständigsein. Beides zeigt sich sehr früh, weil wir beides mitbringen. Bei einem kleinen Baby ist das ein Überlebensmechanismus, es streckt zum Beispiel die Ärmchen, damit die Eltern sich kümmern. Wenn jetzt aber die Beziehung nicht in Ordnung ist und der Säugling wird liegen gelassen, dann gibt es dieses affektmotorische Schema immer noch, es verschwindet nicht einfach. Das Kind muss irgendetwas machen, damit es die Angst nicht so spürt, und das nennt Downing in seiner Theorie „Körperabwehr“, wir in der Verhaltenstherapie nennen das „Vermeidung“.

Was kann das sein?

Das kann sein, dass es sich verpanzert, ganz starr macht, ganz flach atmet, dann spürt man nicht mehr so viel. Viele von uns tun das: Wenn wir in Situationen geraten, die uns überfordern, in denen wir Stress empfinden, dann atmen wir nur noch flach.

Ist das eine Art Überlebensatmung?

Ja. Man spürt dann nicht mehr so viel, die Situation ist dann auch nicht mehr so bedrohlich. Aber man lebt auch so ein bisschen auf Sparflamme. Das ist die eine Reaktion. Die andere ist eine Haltung, die man „schlaffe Lähmung“ nennen könnte. Das heißt, dass gar keine Energie mehr im Körper ist. Man kennt das von manchen selbstunsicheren Menschen, sie wirken so in sich zusammengerutscht. Da sieht man manchmal schon von außen, dass jemand nicht gut für sich einstehen kann.

Wie kann der Körper mir helfen, mich an frühe Situationen aus der Kindheit zu erinnern?

Auch hier kann ich Ihnen ein Beispiel aus meiner Praxis erzählen: Ein Patient, der leitender Angestellter ist, berichtete mir von einer kränkenden Situation auf der Arbeit. Dabei hob er die Arme vor sein Gesicht, als würde er sich vor Schlägen schützen wollen. Daraufhin habe ich ihn gebeten, sich hinzulegen, tief zu atmen, die schützende Bewegung noch einmal langsam und bewusst auszuführen und auf die Bilder zu achten, die in ihm auftauchen. Dabei hat der junge Mann sich an seine Vorschulzeit erinnert, in der er die Mutter als unberechenbar und schlagend erlebt hat. Wenn ich tief atme, kann ich in Begleitung meines Therapeuten zulassen, dass Körpererinnerungen, innere Bilder und Handlungsimpulse auftauchen.

So kann ich an Emotionen herankommen, die ich bewusst nicht erinnere.

Ja. Wir nennen das in der Allgemeinen Psychologie das zustandsabhängige Lernen, state dependent learning. Das heißt, ich erinnere mich an eine Situation umso besser, je mehr Aspekte im Boot sind. Wenn ich nur nachdenke, fällt mir nicht so viel ein, wie wenn ich mich dabei noch bewege. Oder wenn ich weiß, wie etwas gerochen hat. Je mehr Aspekte im Spiel sind, desto lebendiger wird meine Erinnerung. Ich habe immer wieder Patienten, die sagen: „Ich hatte eine glückliche Kindheit, ich weiß auch nicht, warum ich jetzt so Probleme habe.“ Doch wenn ich mit diesen Patienten körpertherapeutisch arbeite, kommen oft Erinnerungen hoch, die sehr gut weggepackt waren, oder vermieden, wie wir in der Verhaltenstherapie sagen.

Sie haben lange Jahre mit Anorexie- und Bulimie-Patienten gearbeitet. Welche Rolle kann da die Arbeit mit der tiefen Atmung spielen?

Wenn ich tief atme und auf meinen Körper achte, dann lerne ich mich selbst besser kennen – und auch besser akzeptieren. Und wenn eine Therapeutin dann so interessiert und detailliert nachfragt und neugierig darauf ist, was da gerade mit mir passiert, dann erfährt mein Körper eine Wertschätzung, eine Validierung. Das ist nichts, was mit einem Fingerschnipsen passiert, aber wenn wir es öfter machen, dann wächst in der Patientin langsam so etwas wie das Gefühl: Ich bin ok, mein Körper ist ok, ich bin wichtig. Das ist auch ein Art Nachbeeltern, wie wir es von der Schematherapie her kennen.

Sie sagen ja auch, dass Anorexie-Patientinnen eine tiefe Atmung oft vermeiden.

Genau. Weil dann der Busen deutlicher zu sehen ist. Und in der schlimmsten Phase wollen sie den am liebsten gar nicht haben, weil sie nicht weiblich sein wollen.

Welche Rolle kann körperorientierte Verhaltenstherapie bei Depressionen spielen?

Bei der Behandlung von Depressionen geht es ja auch darum, Gefühle wieder wahrzunehmen. Man kann leider nicht ein Gefühl selektiv wegdrücken, die anderen Gefühle verschwinden dann auch oder sind nicht mehr stark ausgeprägt. Und das ist es ja, woran Depressive am meisten leiden: ein Gefühl der Gefühllosigkeit. Das Leben ist immer grau, da ist nichts mehr bunt. Diese Emotionen können mit der Körpertherapie wiederkommen. Auch hier habe ich ein Beispiel: Zu mir kam eine Patientin mit schwerer Depression nach einem stationären Aufenthalt. Als ich ihr das körperorientierte Verfahren erklärt hatte, legte sie sich ohne Begeisterung hin und atmete tief. Mir fiel auf, dass sie dabei die Hände rasch auf und zu machte und rieb. Sie sagte, sie hätte oft kalte Hände. Ich fragte sie, ob ich ihr die Hände wärmen dürfe, was sie mir gleichgültig erlaubte. Ich nahm also eine ihrer Hände zwischen meine und bat die Frau, weiter tief zu atmen. Und da begann sie zu weinen und Dinge zu sagen wie „dass mal jemand etwas für mich tut“ und „immer habe ich alles allein stemmen müssen“. Hier hat sie also zum ersten Mal wieder Gefühle gespürt und die Dinge kamen in Fluss.

Können Sie sagen, für wen eine körperorientierte Verhaltenstherapie besonders geeignet ist?

Ja, ich sage es mal umgangssprachlich: für die Verkopften. Für Menschen, die sehr reflektiert sind und schon drei Therapien hinter sich haben und das eigentliche Probleme trotzdem nicht gelöst kriegen. Und natürlich für alle Patienten, bei denen sich die Symptomatik auch körperlich zeigt, wir sprachen über Anorexie, aber auch Schmerzpatienten können davon sehr profitieren.

Und in welchen Fällen würden Sie abraten?

Eine echte Kontraindikation gibt es bei Patienten in der floriden Phase einer Psychose. Anders ist es, wenn ein Patient diese Phase hinter sich hat, dann kann es sogar sehr hilfreich sein. Einer meiner Kollegen, Frank Röhricht in London, arbeitet mit psychotischen Patienten körperpsychotherapeutisch und erzielt gute Erfolge. Vorsichtig wäre ich auch bei Borderline-Patienten, da besteht die Gefahr, dass zu schnell zu viel an Gefühlen herauskommt. Und ich würde – zumindest zu Beginn der Therapie – meinen Patienten keine körpertherapeutischen Übungen als Hausaufgabe aufgeben. Weil man dabei eben Überraschungen erleben kann und dann bin ich alleine.

Manche sprechen bei den körperorientierten Verfahren ja von einer „vierten Welle der Verhaltenstherapie“ – nach den behavioralen Anfängen, der kognitiven Wende und der dritten Welle, die Ansätze wie die Akzeptanz- und Commitmenttherapie oder auch achtsamkeitsbasierte Verfahren umfasste. Wie sehen Sie das?

Ich bin da skeptisch.

Warum?

Zum einen, weil ich denke, dass sich die körperorientierten Verfahren eigentlich gut in die dritte Welle der Verhaltenstherapie einsortieren lassen. Und man muss auch nicht ständig neue Wellen kreieren. Aber auch, weil das Arbeiten mit dem Körper insgesamt für Verhaltenstherapeuten nichts revolutionär Neues ist. Lernen ist ein Prozess, der auch über den Körper funktioniert, so waren die Prinzipien schon immer eng miteinander verbunden.

Dr. Maren Langlotz-Weis ist Psychologische Psychotherapeutin mit Praxis in Ladenburg und Autorin des Buches Körperorientierte Verhaltenstherapie

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Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 12/2020: So gelingt Entspannung
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