Kein Albtraum, sondern Tatsache

Die Pandemie löst bei vielen Ängste und Depressionen aus. Luise Reddemann zeigt, wie man Menschen durch Krisenzeiten begleiten kann.

In wenigen Nationen gibt es wohl so viele Menschen, die der psychologischen Forschung Material über die Dynamik kollektiver Traumatisierungen liefern können wie in Deutschland. Zwei Weltkriege, dazwischen ein Angebot, den Größenwahn eines erst idealisierten und dann entwerteten Führers zu teilen, am Ende Demütigung, Flucht und Vertreibung, gebrochen im Stolz, unfähig zur Trauer.

Wenn in einem Land mit dieser Geschichte eine Pandemie bekämpft wird, Politik und Medien täglich von Fallzahlen, Intensivbetten und Infizierten sprechen, braucht es keine sonderliche Begabung zur Orakelweisheit, um vorherzusagen, dass erheblich mehr Menschen mit Ängsten und Depressionen psychotherapeutische Hilfe brauchen.

Jedes Kind kommt mit einem guten Vorrat an Widerstandskraft auf die Welt. Es wird ohne ein Mindestmaß an Zuwendung und Aufmerksamkeit nicht überleben, aber es wird auch kürzere und sogar längere Perioden überstehen, in denen die Familie nicht funktioniert, die Eltern überlastet sind, Sucht oder Krankheit den Frieden stören. Allerdings gibt es Ereignisse, die den Rahmen sprengen, die Kontinuität des Erlebens zerreißen und so die Fähigkeit dauerhaft schwächen, die „normalen“ Stresssituationen im Leben, wie den Verlust eines geliebten Menschen, Arbeitslosigkeit oder eben auch die Bedrohung durch eine Epidemie, zu bewältigen.

Unsichere Welt

Das neue Buch Luise Reddemanns, das weit über die unmittelbare Aktualität hinaus mit einem weiten Blick die Welt schlechthin als unsicheren Ort begreift, trägt den Untertitel: „Psychotherapeutisches Handeln in Krisenzeiten“.

Reddemann schreibt einen schönen, klaren Stil. „Wir hatten Mitgefühl mit PatientInnen, die durch schwere Traumatisierungen so etwas wie ein Sicherheitsgefühl nie gehabt oder früh verloren hatten. Wir dachten aber nicht, dass wir nun alle davon heimgesucht würden, uns – bis auf weiteres – in der Welt an keinem Ort mehr sicher fühlen zu können. Wenn uns von weisen Menschen gesagt wurde, dass es keine Sicherheit gebe, weil die Welt so nicht gemacht sei, haben wir das schnell beiseitegeschoben und uns wieder beruhigt. Und nun ist dieser Albtraum wahr geworden. Und es ist kein Albtraum, es ist eine Tatsache.

Verstörende Durchhalteparolen

Die Autorin wird vielen aus der Seele sprechen, die sich über die Einseitigkeit der von den politischen Entscheidern eingeholten Expertisen geärgert haben. Gesellschafts- und Kulturwissenschaften kamen so wenig zu Wort wie Psychotherapeutinnen oder Psychoneuroimmunologen. Immer wieder greift Reddemann die traumatische Geschichte Deutschlands auf: Die Durchhalteparolen im „Coronakrieg“ und den Befehlston „empfinde ich als verstörend 75 Jahre nach Ende des Krieges und der NS-Zeit“.

Sie selbst sei, 1943 geboren, noch nach den Grundsätzen der nationalsozialistischen Erziehungs­ideologin Johanna Haarer erzogen worden, die weit in die Nachkriegsjahre reichten und darauf hinauslaufen, dass Mütter kein Mitleid mit den Ängsten ihrer Kinder haben sollen.

Ort der Geborgenheit

Reddemann hat sich als Therapeutin merkbar mit dem Gegenbild zu dieser kalten (oder um Kälte bemühten) Mutter identifiziert. Sie will ihren Patientinnen und Patienten eine haltgebende Beziehungserfahrung anbieten, um den traumatischen Stress zurückzubilden.

In Reddemanns Buch lässt sich die wachsende Differenzierung der psychodynamischen Traumatherapie auch sprachlich nachverfolgen – es ist nicht mehr vom „sicheren Ort“ die Rede, der imaginativ aufgesucht wird, sondern von einem „Ort der Geborgenheit“, eine doch vorsichtigere Formulierung, die zu dem jetzt thematisierten Gedanken einer unentrinnbaren Unsicherheit passt. Auch das „innere Kind“, das in therapeutischen Gesprächen gesucht wird, hat den „jüngeren Anteilen“ Platz gemacht.

Reddemann gibt hilfreiche Hinweise, wie mit Patienten umzugehen ist, deren Traumafolgestörung (ob schon behandelt oder nicht) durch die allgemeine Verunsicherung aktiviert worden ist. Es zeigt sich, dass sich der existenzielle, nicht machbare Teil einer Behandlung, die persönliche Beziehung, durchaus mit aktivem, übendem Vorgehen verträgt, vorausgesetzt die Therapeutinnen und Therapeuten sind bereit, sich selbst infrage zu stellen und mit ihren Patientinnen auf die Suche zu gehen, was im einzelnen Fall, in jeder einzelnen Begegnung hilfreich ist.

Luise Reddemann: Die Welt als unsicherer Ort. Psychotherapeutisches Handeln in Krisenzeiten. Klett-Cotta, Stuttgart 2021, 160 S., € 24,–

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