Frau Professorin Reddemann, in Ihrem Buch Die Welt als unsicherer Ort beschreiben Sie, wie wir mit unsicheren Zeiten umgehen können, etwa mit der Coronakrise. Wieso müssen wir das lernen? Können wir das nicht?
Ich bin immer wieder erschüttert, wie häufig Menschen die Existenz von realen Bedrohungen und Unsicherheiten verleugnen. Es gibt heute einen Zeitgeist, eine Art Versprechen, dass wir alles hundertprozentig kontrollieren können. Dass wir unser Schicksal selbst in der Hand haben. Um diesen…
Sie wollen den ganzen Artikel downloaden? Mit der PH+-Flatrate haben Sie unbegrenzten Zugriff auf über 2.000 Artikel. Jetzt bestellen
alles hundertprozentig kontrollieren können. Dass wir unser Schicksal selbst in der Hand haben. Um diesen Machbarkeitswahn umzusetzen, verfolgt man unterschiedliche Strategien: Es gibt etwa das implizite Versprechen, dass man gelassen wird, wenn man meditiert. Oder dass die Welt durch den technischen Fortschritt immer besser wird. Oder dass man Krankheiten wie einem Herzinfarkt vorbeugen kann, indem man täglich zehntausend Schritte geht. Doch das stimmt nicht: Wir können trotzdem krank werden.
Sie scheinen den Wunsch nach Machbarkeit und Kontrolle skeptisch zu sehen. Warum?
Er zeigt eine Unverbundenheit mit den Realitäten des Lebens, die uns schwächt. Uns ist die Sichtweise verlorengegangen, dass es Dinge gibt, die wir nicht beeinflussen können. Auch deshalb bekommen wir Angst, wenn es anders kommt. Oder wir müssen sie abwehren, weil nicht sein darf, was nicht sein soll. Es gibt im Buddhismus einen Grundsatz, dass wir Geborenwerden, Sterben und bestimmte Krankheiten nicht bestimmen können. Eine Definition von Bedrohung lautet dort: „Bekommen, was man nicht haben will. Nicht bekommen, was man haben will.“
Nur wenn wir uns nicht komplett überrannt fühlen, wenn wir es gelegentlich mit dieser Art Bedrohung zu tun bekommen, können wir mit dem Leben angemessen umgehen. Die Coronapandemie und der Ukrainekrieg sind ein gutes Beispiel: Wir wollten sie nicht, haben sie aber bekommen.
Wie kann man aus psychologischer Sicht angemessen damit umgehen?
Wir sollten genau hinschauen und prüfen, was für eine Bedrohung tatsächlich da ist. Dazu ist es wichtig, sich zu informieren, sich aber auch nicht mit Nachrichten zu überschwemmen. Die Angst, die man angesichts von Kriegsnachrichten erlebt, ist sicher zum Teil berechtigt. Aber eine weitere Realitätsprüfung ist wichtig: Was bedeutet diese Einschätzung in diesem Moment für mich? Heute, wo ich jetzt stehe und gehe, bin ich nicht in Gefahr. Was in Zukunft sein wird, kann ich nicht wissen. Es ist unangenehm, aber in Wahrheit haben wir diese Sicherheit nie.
Wie kann man lernen, die Ungewissheit auszuhalten?
Mit der Welt als einem unsicheren Ort umzugehen fällt vielen Menschen auch deshalb schwer, weil sie durch direkte oder in der Familie bestehende Erfahrungen von Krieg, Flucht und Vertreibung erfahren haben, dass sie nicht vertrauen können, dass sie nirgendwo sicher sind. Traumatische Erfahrungen in Kindheit und Jugend führen zu großer Ohnmacht und Hilflosigkeit. Auch als erwachsene Person fühlt man sich dann wieder schnell ausgeliefert. Um mit bedrohlichen Situationen umgehen zu können, ist es deshalb wichtig, vertrauen zu lernen, dass man sie heute als Erwachsener meistern kann.
Aber wie gelingt das, wenn man traumatisiert ist?
Dann geht es oft darum, ein Bewusstsein dafür zu schaffen, dass erlebte Gefühle aus einer anderen Zeit stammen und nicht den Grad der tatsächlichen Bedrohung widerspiegeln. Ein Teil meiner Arbeit besteht darin, Patientinnen und Patienten ein Gefühl dafür zu geben, dass sie heute als Erwachsene mehr Möglichkeiten haben, sich für die verängstigten inneren Anteile sichere Orte zu suchen und sich in der Welt souveräner als in Kindertagen zu bewegen.
Wenn Menschen während der Coronapandemie voller Angst zu mir gekommen sind, habe ich sie dazu eingeladen, sich mit mir gemeinsam anzuschauen, wie alt die Angst ist, mit der sie im Moment zu tun haben. Viele Menschen spüren gleich, dass es vor allem eine kindliche Angst ist, bemerken aber oft auch erwachsene Anteile in sich, die Angst und Hilflosigkeit mit anderen Mitteln bewältigen können.
Mehr zum Thema lesen Sie hier:
Was für Möglichkeiten haben wir? Geht es darum, den Radius unseres Lebens auch in Krisenzeiten auszuschöpfen? Ja, es ist wichtig, mich als ganzer Mensch, der zum Teil Angst hat, aber eben auch schöne Dinge tun kann, bewusster wahrzunehmen. Es gilt, auch die bereichernden Dinge aufzusuchen und zu registrieren: in die Natur zu gehen, sich mit Musik zu umgeben. Ich selbst fand es beispielsweise tröstlich, dass auch in diesem Jahr die Bäume wieder grün wurden. Das macht mich dankbar, kann Angst verringern, denn ich fühle mich mit der Natur und dem Kosmos verbunden. Es hilft aber auch, die Verbundenheit mit anderen Menschen zu spüren.
Das müssen Sie erklären.
Wenn wir uns bedroht fühlen, empfinden wir uns oft als verlassen. Auch da sind frühe Ängste im Spiel. Doch in der realen Welt sind wir mit anderen Menschen verbunden, das machen wir uns nur oft gar nicht klar. Wir sind mit Freundinnen und Familie verbunden, mit Kolleginnen und Nachbarn. Das gibt Zuversicht. Dabei reicht es laut meiner Erfahrung sogar, die ganz grundlegende Verbundenheit bewusster zu spüren, die wir mit vielen Menschen haben, zum Teil auch mit solchen, die wir gar nicht kennen.
Ich mache dazu gerne kleine Übungen und bitte meine Patienten, darüber nachzudenken, was sie zum Frühstück gegessen haben, wer alles nötig war, damit sie ein Brötchen essen können, einen Apfel, eine Tasse Kaffee trinken. Bei solchen Übungen kann man spüren: Es sind so viele Menschen an dem beteiligt, was ich tue, wie ich lebe, was ich denke. Ich bin nicht allein.
Sie schreiben, dass besonders die Menschen von der Pandemie betroffen sind, die schon vorher traumatisiert waren. Was kann da helfen?
Ich finde es wichtig, in Krisensituationen mitzufühlen, andere im Blick zu haben, die beispielsweise unter der Isolation während der Pandemie besonders gelitten haben. Diese verletzlichen Menschen könnte man häufiger fragen: Was würde dir helfen? Wollen wir zusammen essen, auch wenn es virtuell ist? Wollen wir telefonieren? Oder man formuliert eine Verbundenheit und Mitgefühl, sagt etwa: „Fühl dich umarmt“, selbst wenn man sich nicht real umarmen kann. Die Kraft der Imagination, die in meiner Arbeit eine große Rolle spielt, hilft auch in solchen Situationen.
Ich bin zuversichtlich, dass wir als Menschen kreativ genug sind, uns immer wieder Dinge zu überlegen, mit denen wir Krisen meistern können. Dieses Zutrauen finden wir eher, wenn wir uns mit anderen Menschen verbunden fühlen.
Luise Reddemann, Jahrgang 1943, ist Psychiaterin, Psychoanalytikerin und Begründerin der „psychodynamisch-imaginativen Traumatherapie“. Sie hat viele Jahre lang eine psychosomatische Klinik in Bielefeld geleitet.