Fünf Strategien gegen das Grübeln

Psychologie nach Zahlen: Manchmal übernehmen unsere Gedanken die Überhand und wir grübeln stundenlang. Wie Selbstdistanz dagegen helfen kann.

Die Illustration zeigt eine Person auf zwei Planeten, in jeweils anderen Gefühlszuständen
Strategien der Selbstdistanz ermöglichen eine neue, hilfreichere Perspektive auf uns und die Welt. © Till Hafenbrak für Psychologie Heute

Der Strom unserer Gedanken begleitet uns durch den Tag. Meist beschäftigen wir uns mit dem, was gerade ansteht und erledigt werden muss. Doch manch­mal, wenn uns etwas in Erregung und Aufruhr versetzt und einfach nicht aus dem Kopf will, dann wird aus dem vertrauten inneren Monolog ein aufgeregtes Geschnatter: „Wie konnte sie mich nur so bloßstellen!“ „Und wenn ich nun morgen bei der Prüfung einen Blackout habe?“

Inneres Geplapper dieser Sorte ist meist nicht zielführend, es dreht sich im Kreis und klärt nichts. Wie kann man diesen leidvollen und kontraproduktiven Zustand beenden, der sensible Menschen immer wieder überfällt? Der Psychologe Ethan Kross von der University of Michigan schlägt in seinem Buch Chatter (Lesen Sie hier unsere Rezension) verschiedene studienbasierte Strategien vor, die alle auf ein Prinzip hinauslaufen: Selbstdistanz. Wir können den Aufruhr in unserem Kopf dämpfen, indem wir zu uns selbst auf Abstand gehen.

1. Gedanklich zurücktreten

Wenn ein Problem uns gefangen hält und immer mehr aufwühlt, liege das meist daran, dass wir es zu stark heranzoomen, schreibt Ethan Kross. Es füllt dann unser gesamtes mentales Gesichtsfeld aus, „uns kommt jegliche Perspektive abhanden“. Der verengte Blick verhindert jede alternative Betrachtungsweise, der Kontext geht verloren. Was wir dann brauchen, ist Distanz – zum Beispiel mithilfe eines imaginierten Perspektivwechsels: Statt aus der Tunnelsicht des Ich betrachtet man das Problem von außen, auf Abstand, wie die vielzitierte Fliege an der Wand.

Diese Technik hatten Kross, Özlem Ayduk und Walter Mischel 2005 in einer Studie erprobt, die inzwischen schon Klassikerstatus hat: Ihre Testpersonen sollten sich ein besonders kränkendes Erlebnis aus ihrer Vergangenheit vor Augen führen. Die einen taten dies wie üblich und spulten die Episode aus der Ich-Perspektive ab. Die anderen hingegen inspizierten das Erlebnis von der Warte der besagten gleichmütigen Fliege.

Wie sich zeigte, versetzte der mentale Rückblick die Personen der ersten Gruppe in einen ähnlichen Erregungszustand wie einst: „Echter Adrenalinstoß!“ „Grenzenlose Unverschämtheit!“ „Tat echt weh.“ Diejenigen hingegen, die das Vergangene aus Fliegensicht beäugten, hatten von ihrer Wand aus einen weiteren Blickwinkel, der auch das Umfeld der Ereignisse erfasste: „Ich kam jetzt dahinter, was eigentlich zu dem Streit geführt hatte.“ Die Erregung flaute ab.

2. Auf mentale Zeitreise gehen

Nicht nur räumlich, auch zeitlich können wir auf Distanz gehen. Ich versetze mich zum Beispiel zehn Jahre in die Zukunft und blicke von dort aus auf die weit, weit entfernten Ereignisse von heute zurück: Wie winzig sie von hier aus ausschauen! Wie viel seither passiert ist! Oder wie wäre es mit einer Reise in die Vergangenheit, in die Zeit vor meiner Geburt?

Ich schaue mir Fotos meiner Urgroßeltern an, stelle mir vor, wer sie waren, wie sie gelebt und mit welchen Schwierigkeiten sie sich herumgeschlagen haben mögen. Wir alle sind Glieder in einer langen Generationenkette, die bis zu den Jägern und Sammlerinnen und weiter zurückreicht. Sogar eine Archäologiedoku wirkt manchmal beruhigend. Zugegeben: Solch eine mentale Zeitreise löst keines meiner gegenwärtigen Probleme, aber sie relativiert diese.

3. Tagebuch führen

Der Psychologe James Pennebaker (Lesen Sie hier das Porträt über ihn) hat die entlastende Wirkung nachgewiesen, die es haben kann, wenn man sich emotional Aufrüttelndes von der Seele schreibt. Schon wenn Testpersonen sich eine Viertelstunde Zeit nahmen, um sich eine bedrückende Lebensepisode vor Augen zu führen und niederzuschreiben, was sie in der Erinnerung daran bewegte, wurde ihnen wohler ums Herz. Wer sich dies per Tagebuch zur Gewohnheit machte, stärkte sein Wohlbefinden und sogar sein Immunsystem. Ethan Kross empfiehlt, auch dabei auf Abstand zu gehen: „Wenn wir das, was wir erlebt haben, aus der Perspektive eines Dritten, der die Geschichte erzählen will, betrachten, schafft das Tagebuch eine Distanz zwischen uns und unseren Erlebnissen, und wir fühlen uns losgelöster von ihnen.“

4. In der dritten Person zu sich sprechen

Dieses Prinzip übertrug Kross auf Selbstgespräche. Es mag wie ein mentaler Taschenspielertrick anmuten, wurde aber empirisch mehrfach bestätigt: Gegen inneren Aufruhr hilft es, wenn man sich selbst gut zuredet – aber nur dann, wenn man dabei die Person wechselt. Wenn ich von mir selbst in der ersten Person denke und rede („Warum bin ich gestern bloß so aus der Haut gefahren?“), steigert mich das noch mehr in meine Erregung hinein, und zur Wut gesellen sich dann vielleicht auch noch Scham und Selbstanklage.

Wenn ich mich hingegen selbst wie eine andere Person anspreche („Warum bist du so aus der Haut gefahren, Thomas?“ oder „Mach mal halblang, du solltest jetzt einen Gang zurückfahren“), lässt der innere Tumult nach, wie Kross und sein Team 2014 in einem Stressexperiment nachwiesen.

Als ähnlich hilfreich erwies sich in einem weiteren Experiment, von sich selbst in der dritten Person zu denken: Die Testpersonen sollten beschreiben, was sie beim Anblick verstörender Bilder empfanden. „Was empfindet Jason bei diesem Bild?“, brachte ihre Hirnströme weniger in Wallung als: „Was empfinde ich bei diesem Bild?“ Gerade die vielgepriesenen „Ich-Botschaften“ sind laut Ethan Kross also bei Selbstgesprächen nicht hilfreich, und ausgerechnet das verpönte „man“ hilft mitunter, ein scheinbar hochpersönliches Problem als etwas zu begreifen, an dem auch viele andere Menschen zu knabbern haben.

5. Ordnung und Rituale schaffen

Wenn in uns selbst aufgeregtes Durcheinander herrscht, dann beruhigt es, wenn draußen Ordnung und Berechenbarkeit walten. Hierzu zählt etwa eine aufgeräumte Wohnung: Alles an seinem Platz. Oder festgelegte Rituale, alltägliche Handlungen, die wir in der immer gleichen Abfolge erledigen: Kniebeugen, Zähneputzen, Tischdecken. Am besten sind Rituale in einer Gemeinschaft: Schlemmerrunde, Yoga­stunde, Chor, selbst der immer gleiche Trinkspruch.

„Obwohl viele unserer Rituale (das stille Gebet, die Meditation) Erbgut unseres Kulturkreises oder unserer Vorfahren sind, können auch selbstersonnene rituelle Handlungen hilfreich sein“, schreibt Ethan Kross. Im Ritual tritt das Ich zurück, alles läuft von allein ab. Auch das schafft Selbstdistanz.

Quelle

Ethan Kross: Chatter. Die Stimme in deinem Kopf. Btb, München 2022

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Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 4/2023: Schüchtern glücklich sein
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