Innerer Kritiker: Die WG in meinem Kopf

Drei Bücher helfen, innere Persönlichkeitsanteile zu erkennen und zu verstehen – und Frieden zu schließen mit den eigenen kritischen Stimmen.

Mein innerer Kritiker kann mich mal – der beherzte Gestus des Titels von Doris Idings Buch über mögliche Wege, Frieden zu schließen mit den kritischen Stimmen in uns, ist zweifellos einladend. Denn wer wollte es nicht loswerden, das gemeine innere Plappern, das uns oft an einem unbefangenen Leben hindert? Dabei gibt es in Idings Darstellung ein buntes Sammelsurium solcher Stimmen. Neben dem bekannten „inneren Kritiker“ nennt sie den Hochstapler, den Soldaten, die Spaßbremse und „Everybody’s Darling“ – eine besonders fiese Instanz, da sie anderen die Wünsche von den Augen abliest, uns selbst aber vermittelt, wir fielen allen zur Last.

Ganz so leicht, wie der Titel suggeriert, lassen sich die teils ärgerlichen, teils quälenden Saboteure allerdings nicht vertreiben – immerhin stellt die Autorin 40 teils aufwendige Übungen vor, mithilfe derer eine innere Transformation und Befreiung erreicht werden kann. Knappe, instruktive Infokästen erklären begleitend, was bei diesen Prozessen im Gehirn geschieht. Der Akzent aber liegt bei Iding auf der Praxis. Wer ohne viel Federlesen loslegen will, findet in ihrem Buch reichlich motivierende Tipps und Anleitungen.

Innere Bewohner kennenlernen

Ruhiger, mehr Geduld fordernd ist Heike Mayers Anthologie Ich steh mir selbst nicht mehr im Weg. Die Therapeutin und Ausbilderin für systemische Arbeit mit inneren Persönlichkeitsanteilen führt die inneren Stimmen im Kontext eines komplexen Persönlichkeitsmodells ein – der Internal Family Systems (ISF).

Innerhalb der ISF werden innere Widersprüche, sich ausschließende Impulse oder Gefühle, die wir gemeinhin als mühsam und verunsichernd erleben, als eine Art WG-Konstellation begriffen, in der jede und jeder eine Stimme hat beziehungsweise zurückgewinnen sollte. Es geht also – ähnlich wie bei Iding – nicht darum, kritische Stimmen zum Schweigen zu bringen, sondern ihnen im Gegenteil als legitimen Bewohnerinnen und Bewohnern unserer selbst Gehör zu verschaffen und sie kennenzulernen.

Für Menschen, die seit Jahren oder Jahrzehnten mit destruktiv-kritischen Stimmen kämpfen, mag dieser Zugang fragwürdig oder „zu schön, um wahr zu sein“ klingen. Gerade ihnen aber sei dieses Buch empfohlen. Denn Mayer gelingt es, so anschaulich zu schildern, wie ein heilsamer Kontakt mit den verschiedenen Anteilen verlaufen kann, wer daran beteiligt ist und worauf es zu achten gilt, dass man unmittelbar neugierig wird und Kontakt ­aufnehmen möchte zu der eigenen inneren WG.

Meditative Übungen laden ein, das Gelesene selbst anzuwenden, Fallgeschichten machen die Aussagen plausibel, punktgenaue Zusammenfassungen jeden Kapitels ermöglichen einen schnellen Zugang.

Im Gespräch mit sich selbst

Inhaltlich sind die Bücher von Iding und Mayer in zentralen Punkten gar nicht so weit voneinander entfernt. Sie unterscheiden sich allerdings deutlich in der Darstellung: Idings Mein innerer Kritiker kann mich mal ist Programm, ihr Gestus ist hip und sie setzt auf ein vertrauliches „Du“. Bei Mayer geht es um allmähliches „Erkennen, Verstehen und Heilen“, das die Mühen der Ebene nicht scheut. Für beide Autorinnen ist das Gespräch mit sich selbst wichtig für die Auseinandersetzung mit den inneren Stimmen.

Das wiederum teilen sie mit Ethan Kross’ Studie Chatter. Die Stimme in deinem Kopf. Der amerikanische Neuro­wissenschaftler und Experte für Emotionsregulation nähert sich dem Phänomen störender Selbstgespräche – chatter – als einer gedanklichen Bewegung, „die sich einstellt, wenn wir ganz nah an ein Problem heranzoomen und dabei so heftige Gefühle entfacht werden, dass jede alternative Betrachtungsweise – zum Beispiel mit einem kühlen Kopf an die Sache heranzugehen – von vornherein ausgeschlossen“ ist.

Es geht dem Autor also weniger um spezifische – etwa kritische – Inhalte der Stimmen, als um deren blockierende Wirkung. Um diesen Blockaden auf die Spur zu kommen, umkreist er sein Thema von verschiedenen Seiten. Dabei argumentieren die ersten Kapitel seines Buches akademisch – in ihnen stellt er zahlreiche Studien vor (beispielsweise zu gehirnphysiologischen Prozessen) –, sie enthalten aber auch aufschlussreiche Details zu der eigentümlichen Verknüpfung zwischen Aufmerksamkeit, Gedächtnis und unseren Selbstgesprächen.

Im zweiten Teil wird die Darstellung eher essayistisch und ist reich an Beobachtungen dazu, wie unsere Lebenswelt und unsere Psyche miteinander verflochten sind. Spannend sind hier vor allem die Überlegungen zu unserem Bedürfnis nach Ordnung sowie der heilenden Wirkung von Naturerlebnissen, zu Placeboeffekten und der Macht von Ritualen auf die Stimmen in unserem Kopf.

Chatter enthält keine Übungen, aber durch die dramaturgisch fesselnd erzählten Beispielgeschichten ergeben sich viele Anregungen und Aha-Erlebnisse, die durch einen praxisorientierten „Werkzeugkasten“ am Schluss ergänzt werden. Ein Buch für Leserinnen und Leser, die es reizt, die Entstehung und Erscheinungsformen blockierender Stimmen sowie deren vielgestaltige Ausdrucksformen im Alltag zu ergründen.

Doris Iding: Mein innerer Kritiker kann mich mal. ­Frieden schließen mit den kritischen Stimmen in mir. Mvg, München 2022, 144 S., € 14,–

Ethan Kross: Chatter. Die Stimme in deinem Kopf. Wie wir unseren inneren Kritiker in einen inneren Coach verwandeln. Aus dem Amerikanischen von Leon Mengden. Btb, München 2022, 302 S., € 22,–

Heike Mayer: Ich steh mir selbst nicht mehr im Weg. Innere Persönlichkeitsanteile erkennen, verstehen und heilen. Knaur Balance, München 2022, 350 S., € 20,–

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Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 1/2023: Selbstmitgefühl
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