In die Zukunft schauen?

Was kommt morgen, in einem Monat, in einem Jahr? Wir wissen es nicht. Doch wir sind in der Lage, verblüffend genaue Prognosen zu erstellen.

Wie viele Flüchtlinge kommen nächstes Jahr nach Europa? Steigt die Terrorgefahr in Deutschland durch den Einsatz der Bundeswehr in Syrien? Wie sollten Sie Ihr Geld heute anlegen, um als Rentner nicht zu verarmen? Drei ganz unterschiedliche Fragen, die eines gemein haben: Sie beziehen sich auf die Zukunft. Die Antworten würden Politikern und Behörden helfen, sich auf das Kommende vorzubereiten. Unterkünfte für Flüchtlinge könnten rechtzeitig gebaut werden, die Polizei könnte gefährdete Orte schützen. Aber…

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gebaut werden, die Polizei könnte gefährdete Orte schützen. Aber auch für uns alle sind diese Einschätzungen bedeutsam. Beispiel Terrorgefahr: Trauen wir uns in diesem Jahr aufs Oktoberfest, oder ist uns das Risiko von großen Menschenansammlungen zu groß?

Echte Fachleute und selbsternannte Experten bieten Vorhersagen an. Sie sitzen in den Hinterzimmern der Macht und beraten Politiker und Unternehmer. Sie kommentieren in Zeitungen und sprechen in Talkshows. Diese Spezialisten geben vor, beispielsweise die beste Strategie gegen die Terrormiliz des Islamischen Staats (IS) zu kennen oder zu wissen, wie das Auseinanderbrechen der Europäischen Union verhindert werden kann. Doch wie gut sind diese Prognosen tatsächlich?

Oft erweisen sich die Vorhersagen von Fachleuten als enttäuschend. Der amerikanische Psychologieprofessor Philip Tetlock weiß das. Schon seit den 1980er Jahren forscht er zur Aussagekraft von Prognosen. 2005 fasste Tetlock 20 Jahre Forschung in seinem Buch Expert Political Judgment. How Good Is It? How Can We Know? zusammen. Demnach sind insbesondere langfristige Prophezeiungen von Spezialisten oft nicht besser als die von jemandem, der rät. Bis heute wird der Wissenschaftler mit dem Satz zitiert: Ein Affe, der mit einem Dartpfeil auf mehrere Optionen wirft, hätte dieselbe Trefferquote wie ein (vermeintlicher) Fachmann.

Können wir also überhaupt etwas über die Zukunft wissen? Ja, das können wir. Das legen Tetlocks neueste Studien nahe, die er in seinem aktuellen Buch Superforecasting. The Art and Science of Prediction beschreibt. Und das Beste: Nicht nur ausgewiesene Experten mit langjähriger Erfahrung sind in der Lage, zutreffende Prognosen zu liefern. Tetlock stellt Strategien vor, die grundsätzlich jedem Interessierten dabei helfen.

Seine aktuellen Erkenntnisse gehen auf eine Zusammenarbeit mit der IARPA (Intelligence Advanced Research Projects Activity), einer Forschungseinrichtung der amerikanischen Geheimdienste, zurück. Die IARPA beschäftigte zu Beginn der Untersuchung rund 20 00 Analysten, die alle Arten von politischen und wirtschaftlichen Ereignissen einschätzten. Doch bis dahin waren diese Prognosen nie geprüft worden.

Nun lud die IARPA Wissenschaftler ein, fünf Prognoseteams zu bilden. Diese traten bei einer Art Turnier gegeneinander an. Ihre Ergebnisse sollten mit den Vorhersagen der eigenen Profis verglichen werden und Hinweise auf grundsätzliche Verbesserungsmöglichkeiten liefern.

Tetlock leitete eines dieser fünf Teams. Der Psychologieprofessor von der Universität von Pennsylvania rekrutierte Laien, die für eine kleine Aufwandsentschädigung bereit waren, Teil seines Good Judgement Projects (GJP) zu werden. Alle Mannschaften lieferten von 2011 bis 2015 jeden Morgen um 9 Uhr die vorher bestellten Prognosen. Insgesamt stellte die IARPA Hunderte Fragen: Werden die Russen nach der Krim in den nächsten sechs Monaten noch weitere Gebiete der Ukraine annektieren? Wird innerhalb des nächsten Jahres ein Land die Eurozone verlassen? Wie viele weitere Länder werden in den nächsten acht Monaten Fälle des Ebolavirus melden? Wird Indien oder wird Brasilien in den nächsten zwei Jahren einen ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat bekommen? Wird das Regionalparlament von Kurdistan dieses Jahr noch ein Referendum zur Unabhängigkeit umsetzen?

Laien liefern bessere Prognosen als Experten vom Geheimdienst

Diese Fragen betrafen komplexe globale Sachverhalte. Das sind keine Themen, mit denen sich der Durchschnittsamerikaner sonst im Alltag beschäftigt. Doch Tetlocks Freiwillige arbeiteten sich ein: Sie recherchierten im Internet, sammelten Fakten, wägten die verschiedenen Standpunkte ab, stellten mathematische Berechnungen an und entwickelten so ihre Vorhersagen.

Die Ergebnisse waren eindeutig: Gute Prognosen waren mehr als Zufall. Bereits nach einem Jahr schnitt Tetlocks Team außergewöhnlich gut ab. Seine 2800 Laien lieferten teilweise bessere Prognosen als Geheimdienstexperten. Und das, obwohl die Fachleute über bessere Daten verfügten. Nach zwei Jahren stand die GJP-Mannschaft so gut da, dass alle anderen Konkurrenten entlassen wurden.

Einer kleinen Gruppe, etwa zwei Prozent von Tetlocks Team, gelang es, herausragend gute Prognosen zu erstellen. Der Psychologe nennt diesen Kreis die Superprognostiker. Einer dieser Superprognostiker ist Bill Flack. Flack studierte Mathematik, scheiterte aber an seiner Doktorarbeit. Sein Geld verdient er in einer Behörde, in seiner Freizeit beobachtet er Vögel. Ein unauffälliger Typ – der herausragende Prognosen lieferte. Ein anderer ist der Rentner Doug Lorch, ehemaliger Programmierer bei IBM. Er bearbeitete etwa tausend Vorhersagen pro Jahr. Trotz dieser hohen Zahl traf er oft ins Schwarze, insgesamt war er der Viertbeste der Mannschaft.

Was aber zeichnet die Besten der Besten aus? Eine hohe Intelligenz und ein breites Allgemeinwissen spielen eine Rolle. Psychologische Tests ergaben: Die Superprognostiker waren intelligenter als 80 Prozent der Bevölkerung. Damit sind es kluge Menschen, aber eben keine absoluten Überflieger, keine Genies. Zudem hatten sie keine Scheu vor Mathematik. Viele studierten Mathematik, eine Naturwissenschaft oder Informatik. Doch keineswegs alle: Zu den Superprognostikern zählt auch Joshua Frankel, ein Filmemacher aus Brooklyn.

Was Superprognostiker gemeinsam haben

Den herausragenden Zukunftsdeutern waren einige Persönlichkeitsmerkmale gemein. Tetlock beschreibt sie als eher vorsichtige, neugierige und selbstkritische Menschen. Vor allem zeichnet sie eine enorme Lust am Denken aus. Sie stellen sich gerne Fragen und bilden sich ihre eigene Meinung zu einem Sachverhalt. Das spiegelte sich in psychologischen Tests wider, die Tetlock mit den Laien durchführte. Diese ergaben ein starkes „Kognitionsbedürfnis“, eine hohe „Offenheit für Erfahrungen“ und eine aktive „Aufgeschlossenheit gegenüber anderen Standpunkten“. Gemeinsam war den Superprognostikern auch, dass sie weder an Schicksal glaubten noch daran, dass ein Gott die Geschicke der Welt bestimmt.

Tetlock ist deshalb überzeugt: Die Fähigkeit, gute Prognosen abzugeben, ist keine mystische Gabe. Sie fußt vor allem auf einer bestimmten Art des Denkens. Darin folgt er den Erkenntnissen des Psychologen und Nobelpreisträgers Daniel Kahneman, der zwischen „intuitivem Denken“ und „bewusstem Denken“ unterscheidet. Die besten Prognostiker gehen besonders versiert mit diesen beiden Denksystemen um. Sie zeichnet aus, dass sie sich nicht auf ihr intuitives Denken verlassen – sie überprüfen ihr Bauchgefühl, indem sie noch einmal gründlich überlegen. So geht auch der Schachweltmeister Magnus Carlsen vor. Er könne manchmal nicht sagen, warum ein Zug richtig sei – er fühle sich einfach richtig an, sagt er. Und fügt hinzu: „Ich hab die Lösung nach zehn Sekunden – den Rest der Zeit kontrolliere ich, ob diese Intuition richtig war.“ Carlsen folgt also seiner ersten Idee, die auf einer Wiedererkennung Zigtausender gespeicherter Muster beruht. Aber er weiß, dass die Intuition ihn fehlleiten kann und bewusstes Denken sein Urteil verbessert.

Ermutigung zum selbständigen Denken

Tetlocks Superprognostiker vermieden außerdem typische Denkfallen, in die viele bei Schätzaufgaben sonst leicht tappen. Eine erste Falle betrifft die „Stärke des ersten Eindrucks“: Unser erster Eindruck bestimmt unsere weitere Interpretation häufig mit. Haben wir erst einmal eine Haltung entwickelt, neigen wir dazu, uns nur noch Informationen zu suchen, die diese Annahme bestätigen. Daher ist unsere Suche nach neuen Informationen selektiv – auch wenn wir das nicht wollen.

Eine andere Denkfalle betrifft die „Regression zur Mitte“. Dabei handelt es sich um ein Phänomen, das wir im Alltag oft vergessen. Alle Ereignisse variieren um einen Mittelwert herum. Wenn beispielsweise unsere Rückenschmerzen an einem bestimmten Tag geringer sind als an den Tagen zuvor, suchen wir dafür Gründe: Lag es an den Medikamenten, die wir geschluckt haben? Was wir dabei meist übersehen: Auch ohne Behandlung schwankt die Intensität von Rückenschmerzen. Auf schlechte Tage mit vielen Schmerzen folgen irgendwann gute Tage. Und das ganz ohne ein Zutun von außen.

Allzu oft machen wir es uns auch schlicht zu einfach. Wir ersetzen häufig unbemerkt eine schwierige Frage durch eine leichte. Aus der komplexen Frage „Ist es sinnvoll, in Ford-Aktien zu investieren?“ machen wir: „Mögen Sie die Marke Ford?“ Die Folge könnte sein: Wir investieren in Ford-Aktien – aber nicht wohlüberlegt, sondern wegen der Sympathie zur Marke.

Eine weitere Falle besteht darin, dem Wunschdenken nachzugeben. Geht es etwa um eine Prognose zur Stärke einer Partei bei der nächsten Bundestagswahl – so möchten wir vielleicht, dass gerade die CDU besonders gut abschneidet. Wer diesen Denkfehler erkennt, kann ihn vermeiden.

Und schließlich verlieren wir uns manchmal im Dschungel der Recherche oder lassen uns von Unwichtigem ablenken. In einer Studie zeigte sich etwa, dass Menschen, die schätzen sollten, ob jemand eine Straftat begangen hatten, sich davon beeinflussen ließen, wenn dieser Mensch als „unfreundlich“ beschrieben wurde. Sie hielten ihn dann (unzulässigerweise!) eher für schuldig.

Die Erkenntnisse von Tetlock sind eine Ermunterung zum selbständigen Denken. Seine Superprognostiker sind keine Intelligenzbestien, sie verbrachten auch nicht den Großteil des Tages mit der Recherche am Computer. Sie waren eher akribisch arbeitende fleißige Bienchen, die unvoreingenommen Fakten sammelten und daraus immer wieder neue Berechnungen anstellten. Das bedeutet für uns: Im Kleinen können wir das auch. Wir können selbst recherchieren, brauchen weder Zugang zu Geheimwissen noch ein Spezialstudium, bevor wir uns eine Meinung zum Fortgang globaler Ereignisse anmaßen dürfen.

Tetlocks Erkenntnisse sind aber auch ein Appell, einmal gefasste Überzeugungen zu überprüfen. Seine Ergebnisse legen nahe: Unser Bild von der Welt wird größer und genauer, wenn wir zusätzlich zur eigenen Haltung noch die Perspektiven der anderen einnehmen, indem wir uns in sie hineinversetzen und sie zu verstehen versuchen. Wenn wir unsere ideologische Brille absetzen und selbst überlegen: Was sind Argumente dafür oder dagegen, mal abgesehen davon, was meine Moral oder Religion mir empfiehlt?

  • Philip E. Tetlock, Dan Gardner: Superforecasting. The art and science of pediction. Crown Publishers International, New York 2015

  • Daniel Kahneman: Schnelles Denken, langsames Denken. Siedler, München 2012

5 Gebote für gute Prognosen:

1. Wählen Sie nur Fragen, bei denen eine Prognose möglich ist

Wer wird in zwölf Jahren der Präsident der USA sein? Eine seriöse Schätzung ist unmöglich, denn über eine derart lange Zeitspanne gibt es zu viele Unwägbarkeiten. Leichter ist es schon zu prognostizieren, wer 2017 bei der Bundestagswahl in Deutschland das Rennen machen wird. Grundsätzlich gilt: Je weiter Ereignisse in der Zukunft liegen, desto schwerer sind sie einzuschätzen.

2. Zerlegen Sie komplexe Fragen in ihre Einzelheiten

Wie viele Klavierstimmer gibt es in Chicago? Komplexe Fragen wie diese können wir beantworten, wenn wir sie in kleinere Einheiten zerlegen. In diesem Fall: Wie viele Menschen leben in Chicago? Wie viele von ihnen besitzen ein Piano? Wie oft muss so ein Instrument gestimmt werden? So können wir leichter schätzen, wie viele Klavierstimmer in Chicago arbeiten.

3. Achten Sie auf die Gewichtung der Innen- und der Außensicht

Prognoseprofis wissen: Nichts ist zu 100 Prozent neu. Es ist immer ein Vergleich möglich, der uns weiterhilft. Dabei lohnt es sich, Innen- und Außenperspektive ins Verhältnis zu setzen. Wenn der Kollege meint, er werde sein Projekt in zwei Tagen fertigstellen, sagt er das vielleicht, weil er als Optimist wirklich daran glaubt. Ein Außenstehender mag sich jedoch erinnern, wie viel Zeit der Kollege bei früheren Aufgaben brauchte. Die realistische Schätzung könnte dann zum Beispiel zwei Wochen sein.

4. Auf die Balance kommt es an

Überprüfen Sie Ihre Vorhersage regelmäßig: Lesen Sie, dass es einen Trend zum Klavierspielen in Chicago gibt, sollten Sie die von Ihnen geschätzte Zahl der Klavierstimmer leicht nach oben korrigieren. Dabei empfiehlt es sich in der Regel, kleinschrittig vorzugehen: Die Zahl der Klavierstimmer wird sich nicht von heute auf morgen verdoppeln. Seien Sie andererseits radikal, wenn es sein muss: Verbietet das Verfassungsgericht eine politische Partei, erhält diese bei der nächsten Wahl ganz sicher keine Stimmen mehr.

5. Suchen Sie nach Standpunkten, die Ihrer Überzeugung widersprechen

Nehmen Sie auch Meinungen zur Kenntnis, die Ihren Ansichten widersprechen. Sind Sie überzeugt vom Erfolg der Kampfeinsätze in Syrien, sollten Sie mit Kriegsgegnern sprechen und deren Argumente kennenlernen. Nur wer sich in Andersdenkende hineinversetzt, kann andere Möglichkeiten für den Ausgang von Ereignissen überhaupt berücksichtigen.

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 4/2016: Mitten im Leben