„Alle Gefühle sind unsere Freunde“

Wir mögen negative Emotionen wie Angst, wenn wir zum Beispiel in der Achterbahn sitzen. Aber können sie auch Konsumartikel interessanter machen?

Eine Frau und zwei Mädchen sitzen in der Achterbahn und lachen und schreiben dabei
Bauchkribbeln und sogar etwas Angst überkommen uns beim Achterbahnfahren. Eigentlich negative Emotionen – und dennoch sind sie Teil unserer Freude. © wundervisuals/Getty Images

Professor Desmet, Dr. Fokkinga, ich bin neugierig: Wie sind Sie auf die Frage gekommen, welche Rolle negative Emotionen bei Konsumprodukten spielen können?

Steven Fokkinga: Es hat angefangen, als ich Student war, Pieter war mein Professor. Als Design-Studierende haben wir uns mit der Frage beschäftigt, welche Emotionen man mit Produkten hervorrufen kann. Und mir fiel auf, dass alle Studentinnen und Studenten an positiven Emotionen interessiert waren, während ich mich fragte: Was ist denn mit den negativen Gefühlen?

Natürlich möchte niemand, dass Konsumenten depressiv oder ängstlich werden. Aber wenn man an so etwas wie Motorräder, Achterbahnen oder Horrorfilme denkt: Das alles sind Beispiele dafür, dass Menschen sich freiwillig negativen Gefühlen aussetzen. Und zwar nicht als etwas, mit dem man irgendwie zurechtkommen muss, nein, die negativen Gefühle sind Teil des Spaßes. Das war der Funke, der mein Interesse entzündet hat.

Pieter Desmet: Es war ein interessanter Gedanke von Steven, dass die Konzentration auf positive Emotionen zu einseitig ist. So kamen wir in Kontakt, und daraus hat sich die Dissertation von Steven zu dem Thema entwickelt.

Sie haben gemeinsam einen Artikel mit dem Titel Darker Shades of Joy, etwa: Die dunkleren Bereiche der Freude, verfasst, in dem Sie über sogenannte reiche Erfahrungen schreiben. Damit meinen Sie emotionale Erlebnisse, die auch negative Gefühle umfassen und die wir zum Beispiel bei Horrorfilmen, in dramatischen Theaterstücken oder in kampfbetonten Computerspielen erleben. In der Kunst sind negative Gefühle schon immer Teil des Erlebens. Würden Sie sagen: Bei normalen Konsumprodukten waren negative Emotionen auch immer schon angelegt?

Steven Fokkinga: Das ist eine gute Frage. Erst einmal muss man festhalten, dass es ein neuer Ansatz ist, überhaut nach der Rolle von Gefühlen beim Design von Konsumprodukten zu fragen – damit hat Pieter begonnen. Natürlich empfinden Konsumentinnen und Konsumenten ständig Emotionen, wenn sie mit Produkten umgehen: Die Tonerkartusche ist leer und wir ärgern uns beim Austauschen, die Autotür schließt so sanft, dass es uns beruhigt. Aber diese Gefühle sind nicht immer beabsichtigt. Produkte zu designen mit der Intention, bestimmte Gefühle zu wecken, ist noch nicht sehr verbreitet.

Pieter Desmet: Traditioneller Weise gestalten Designerinnen und Designer einfach, basierend auf Erfahrung und Intuition. Sie können nicht benennen, was ihre emotionale Absicht ist. In unserer Forschung versuchen wir, die Handlungen und Absichten bewusst zu machen, so dass wir den Designstudierenden die Mechanismen dahinter vermitteln können.

Sie beschreiben, dass negative Gefühle auf eine fast magische Weise verändern, wie wir eine Situation erleben und empfinden. Wie funktioniert das?

Steven Fokkinga: Jede Emotion hat Auswirkungen auf die Person, die sie fühlt. Nehmen wir an, ich habe Angst vor Hunden und ich begegne einem auf der Straße. Mein Körper schlägt Alarm, ich entwickle einen Tunnelblick, die Zeit scheint sich zu verlangsamen, der Raum wirkt anders. Das alles sind normale Reaktionen des Körpers, um mit einer lebensbedrohlichen Situation zurechtzukommen, und sie verändern, wie sich ein Erlebnis für uns anfühlt. Jede Emotion tut dies auf ihre eigene Weise.

Aber genießen kann man diese negativen Gefühle ja nur, wenn wir uns nicht in einer lebensbedrohlichen Situation befinden. Es braucht sogenannte „Schutzrahmen“, die ein Erlebnis quasi entschärfen.

Steven Fokkinga: Ja, gemeint ist ein Rahmen, der uns erlaubt, das Ereignis zu erleben und die negativen Gefühle zu spüren, aber eben in geschützter Form. Ein Beispiel: Wir sehen einen Tiger im Zoo. Würden wir ihm ungeschützt auf der Straße begegnen, wären wir außer uns vor Angst. Aber wenn wir ihn im Käfig sehen oder hinter Glas, werden wir immer noch erleben, wie mächtig und bedrohlich er ist, aber es hat keine Folgen. Das ist die Essenz des Schutzrahmens. Der negative Stimulus bleibt, aber wir erleben ihn in dem Wissen, dass wir in Sicherheit sind.

Pieter Desmet: In einer automatisierten Reaktion spüre ich die Angst, auf der kognitiven Ebene weiß ich, ich überlebe. Das ist sozusagen ein Clash dieser beiden Ebenen.

Sie haben vier solcher Schutzrahmen definiert – können Sie diese einmal beschreiben?

Steven Fokkinga: Das Konzept des Schutzrahmens beruht auf der Arbeit des britischen Psychologen Michael Apter. Wir haben es auf die Designtheorie übertragen und – zusätzlich zu den drei Schutzrahmen von Apter – noch einen vierten entwickelt. Der erste heißt Schutzzonen-Rahmen, er beschreibt genau den Fall mit dem Tiger im Käfig: Sie sind nah dran an dem furchterregenden Objekt, aber es gibt eine Barriere, die Sie schützt.

Pieter Desmet: Ein anderes Beispiel dafür wäre der gläserne Balkon über dem Grand Canyon. Man sieht den Abgrund, kann aber nicht fallen.

Steven Fokkinga: Der zweite Rahmen heißt Abtrennungsrahmen. Hier ist das Objekt, das die negativen Gefühle auslöst, physisch nicht anwesend, sondern wird repräsentiert, zum Beispiel durch das Foto eines Tigers. Das ist der Mechanismus, der auch für Horrorfilme gilt – das Grauen ist auf dem Bildschirm, nicht in meiner Wohnung. Die dritte Rahmen-Variante ist der sogenannte Kontrollrahmen. Hier sind wir zwar in Gefahr, können sie aber kontrollieren, ein klassisches Beispiel ist der Bergsteiger, der sich mit einem Seil sichert.

Und schließlich gibt es noch den Perspektiven-Rahmen. Er unterscheidet sich ein wenig von den anderen drei, weil er uns nicht effektiv schützt, sondern einen weiteren Blick auf die Dinge ermöglicht und so die negative Emotion abmildert. Ein Beispiel: Sie stehen sehr früh am Morgen auf, was Sie hassen. Aber Sie schaffen dadurch sehr viel Arbeit weg und sind anschließend stolz darauf. Das verleiht Ihnen eine breitere Perspektive auf das eigentlich negative Gefühl des frühen Aufstehens.

Jetzt haben wir viel über die Theorie gesprochen. Können Sie mir Beispiele nennen von Produkten, die auf reiche Erlebnisse abzielen und negative Emotionen integrieren?

Pieter Desmet: Im Konsumbereich sind Erzeugnisse, die auf reiche Erlebnisse abzielen, noch Nischenprodukte. Sie sind oft eher künstlerisch motiviert als für einen Massenmarkt gestaltet. Ein Beispiel, das wir auch in unserem Aufsatz damals erwähnt haben, ist der Wecker Tyrant, Tyrann. Drei Minuten nach der Weckzeit, die man eingestellt hat, beginnt er, wahllos Menschen aus der eigenen Kontaktliste anzurufen, damit man nicht aufs Kissen zurücksinkt, sondern sofort aufsteht. Der Tyrann ist ein Beispiel für ein Produkt, das mit negativen Emotionen arbeitet, nämlich mit der Scham, dass Freunde von einem um 5.45 Uhr einen Anruf erhalten.

Steven Fokkinga: In der Welt von Apps findet man Beispiele, die ein wenig Crossover sind, also zwischen der wirklichen und der Gaming-Welt angesiedelt sind. Ich selbst habe eine Lauf-App entwickelt, die einem helfen soll, schneller zu werden. Sie hat ein Monster integriert, das einen verfolgt. Die negative Emotion ist in diesem Fall die Angst.

Es ist ein schmaler Grad zwischen Kunst, Games etc. und einem Konsumprodukt. Ein Konsumartikel soll immer funktional sein, nie reine Unterhaltung. Wenn es ausschließlich ein Computerspiel ist, nennen wir es nicht mehr Produkt. Bei der Lauf-App kann man zumindest sagen: Wir nutzen die Angst, gejagt zu werden, auf funktionale Weise.

Eröffnet die Digitalisierung nicht insgesamt mehr Spielräume für Produkte, die einem ambivalente Gefühle bieten?

Pieter Desmet: Ja, da würde ich Ihnen zustimmen. Industriedesign wurde hauptsächlich von den technologischen Anforderungen bestimmt. Wie man eine Wasserpumpe gestaltet, hängt davon ab, wie sie funktionieren soll, damit Menschen sie gut bedienen können. Die Digitalisierung eröffnet uns neue Spielräume, Interaktionen zu gestalten, und damit auch mehr Möglichkeiten für reiche Erfahrungen.

Schauen Sie die App BeReal an. Zu bestimmten Zeitpunkten muss man ein Foto machen und teilen. So entstehen echte Eindrücke, man darf sich und die Umgebung nicht inszenieren, man muss das Bild genau in dem Moment aufnehmen. Das generiert reiche Erfahrung. Auf der einen Seite sieht man vielleicht etwas unvorteilhaft aus oder macht gerade etwas Langweiliges. Aber im gleichen Moment schafft man in seiner Community einen Moment von Echtheit.

Steven Fokkinga: Die Realität von physischen Konsumartikeln ist, dass man sie designt, baut und produziert. Und all das kostet viel Geld, so dass man besser sicherstellt, dass es einen Markt dafür gibt. Firmen wollen auf der sicheren Seite sein, und wenn nun ein Mitarbeiter vorschlägt „Lass uns negative Gefühle in unsere neue Sessel-Linie oder in unsere Laptops implementieren“, werden sie definitiv auf Misstrauen und Widerstand stoßen. Bei Apps kann man Dinge ausprobieren, und wenn es nicht funktioniert, ändert man es wieder. Die digitale Welt ist da experimentierfreudiger.

Welche Auswirkungen haben Ihre Gedanken über negative Emotionen, die Sie ja vor etwa zehn Jahren publiziert haben, auf das Design von Konsumartikel gehabt?

Pieter Desmet: Ich bin nicht sicher, ob es Designerinnen und Designer direkt inspiriert hat, etwas Entsprechendes zu produzieren. Aber wir haben Resonanz aus vielen Ländern auf unsere Veröffentlichungen bekommen. Viele junge Designer gehen in die Welt hinaus und kennen die Theorie – und wer weiß, wie sich das in Produkten ausdrückt, in zehn, 20 Jahren?

Wäre es nicht schön, wenn reiche Produkte produziert würden, die die Ambiguitätstoleranz bei ihren Nutzerinnen und Nutzern fördern würden? So dass man über den Umgang mit den Produkten lernt, dass die Welt nie eindimensional ist, sondern uns eine ganze Reihe an unterschiedlichen Erfahrungen bietet?

Steven Fokkinga: Ja, viele Erfahrungen mit Produkten sind nicht nur positiv oder nur negativ, viele sind ambivalent, reich, wie immer man es nennen möchte. Es ist, wie wenn man einen neuen Job startet: Es ist total interessant und aufregend und beängstigend, alles auf einmal. Und wir können nicht sagen: Wir nehmen diese Gefühle auseinander, wir nehmen nur die positiven oder nur die negativen – sie sind alle Teil derselben Gleichung.

Pieter Desmet: Ich unterrichte Studierende ja seit 25 Jahren in Design for Expierence, und in dem Kurs zu Emotionen ist die Einheit über reiche Erfahrung immer das Highlight für die Studierenden. Sie verstehen, dass das eher ein Nischenbereich ist, aber sie sind begeistert, weil es sie so viel über ihre eigenen Erfahrungen im Leben lehrt.

Wir sprechen über Design. Aber eigentlich sprechen wir darüber, wie Menschen sich auf die Welt beziehen, nicht nur auf die materielle, sondern auch auf die soziale Welt. Ich sage den Studierenden immer: Alle Gefühle sind unsere Freunde, positive wie negative. Sie sind da, um uns zu helfen. Deine Angst und deine Wut sind deine Freunde genauso wie dein Stolz oder dein Glück.

Pieter Desmet ist Professor für Design for Expierence an der Technischen Universität Delft in Delft.

Steven Fokkinga ist Mitbegründer und Managing Partner der Forschungs- und Design-Agentur Emotion Studio in Rotterdam.

Hier findet sich eine Open Ressource-Datenbank zu Emotionen, die die beiden aufgebaut haben, mit vielen Informationen zu jeder Emotion: emotiontypology.com

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Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 3/2023: Alles fühlen, was da ist
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