Erst stehe ich 45 Minuten im Stau und als es dann weitergeht, bin ich irgendwie so durcheinander, dass ich auch noch die Ausfahrt verpasse. Also noch mal zehn Kilometer weiterfahren, bevor ich wenden kann. Ich merke, wie es in mir hochkocht, eine Mischung aus Ärger, Verzweiflung und Selbstverurteilung. Ich bin Psychotherapeut und sollte eigentlich wissen, wie man im Alltag gelassen bleibt und gut mit seinen Gefühlen umgeht. Aber bei ehrlicher Betrachtung hilft mir das gerade auch nicht weiter. Die Gefühle…
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nicht weiter. Die Gefühle machen, was sie wollen.
Immerhin bin ich so bewusst, dass ich überhaupt mitbekomme, was da in mir hochkocht. Erst als ich wieder an der richtigen Ausfahrt angekommen bin, klingen die Emotionen langsam ab. Hinterher ärgere ich mich gleich noch mal: Warum gerate ich bei so einem nichtigen Anlass in solche Zustände?
Wir sind täglich mit belastenden und unangenehmen Gefühlen konfrontiert, die geschilderte Situation mit Stau und Umweg ist dabei nicht mehr als eine Alltagsärgerlichkeit. Viele Gefühle sind weit herausfordernder. Etwa die Angst vor einer schweren Erkrankung nach einem medizinischen Zufallsbefund. Oder die Sorgen um den 15-jährigen Sohn, der nicht nur Drogen nimmt, sondern auf dem Schulhof sogar damit dealt. Oder die Trauer über die ungewollte Kinderlosigkeit. Oder der Schmerz, wenn die alternde Mutter langsam dement wird. Gerade die vergangenen Jahre haben uns einiges abverlangt beim Fühlen belastender Emotionen: die Enttäuschung über die abgesagte Hochzeit im Coronalockdown, die Konfrontation mit Zukunftsängsten durch den Ukrainekrieg und den Klimawandel.
Vermeiden, grübeln, wegdrücken: Warum das keine gute Strategie ist
Wie wir mit herausfordernden Emotionen auf eine gute Art und Weise umgehen, haben wir in der Schule ganz sicher nicht gelernt und oft auch nicht im Elternhaus. Bis in die 1980er Jahre versuchten Eltern oft sogar, eigene belastende Gefühle vor den Kindern zu verbergen. Dann ging die Mutter zum Weinen ins Schlafzimmer oder der Vater in den Keller. Das hat sich in den letzten Jahrzehnten verändert. Heute erhalten Eltern eher die Empfehlung, ihren Kindern die eigenen Gefühle zu zeigen: Kinder sollen auf diese Weise die Erfahrung machen, dass Gefühle – auch die weniger angenehmen – natürlicherweise zum Leben dazugehören, nach einer gewissen Zeit wieder vergehen und die Eltern sich gar nicht davor fürchten.
Doch sind wir wirklich gegenüber allen Gefühlen so offen? In jüngster Zeit scheint eher eine andere Strategie den Ton anzugeben: die dauernde Suche nach angenehmen Gefühlen. Wer immer gut drauf sein muss, nur tolle Momente posten will oder auf Instagram in die Kamera strahlt, wird zwangsläufig weniger attraktive Gefühle bekämpfen oder verdrängen.
Wer das versucht, hat eine Menge zu tun, denn es gibt eine lange Reihe solcher belastender und herausfordernder Gefühle: Da sind zunächst einmal Gefühle, die zwar unangenehm sind, denen wir uns aber meistens gewachsen fühlen, beispielsweise milde Formen von Angst, Ärger oder Traurigkeit. Wenn sie intensiver werden, fällt es uns schon schwerer, gut mit ihnen zurechtzukommen: Starke Angst kann sich zu einer Panikattacke auswachsen, tiefe Verzweiflung kann zu Suchtverhalten oder sogar zu Suizidgedanken führen.
Und so manche Gefühle sind extrem belastend, intensive Schuld- und Schamgefühle etwa oder Selbsthass. Viele Emotionen sind zudem tabuisiert. Wer unter starker Eifersucht, Missgunst oder Schadenfreude leidet, schämt sich meistens auch noch für diese Gefühle und muss dann zusätzlich mit der Scham fertigwerden.
Ist das Bauchgefühl ein guter Ratgeber?
Wenige Themen haben in den vergangenen zwanzig Jahren in der Psychologie so viel Interesse geweckt wie die Erforschung unserer Gefühle und die Frage, was eine gute Emotionsregulation auszeichnet. Allein von 2000 bis heute haben sich die jährlich erscheinenden Untersuchungen zu diesem Thema mehr als verzehnfacht. Unser Wissen über Gefühle ist immer differenzierter geworden, aber vieles davon ist noch nicht wirklich in unserem Allgemeinverständnis angekommen.
Noch immer gibt es arg vereinfachende oder gar falsche Empfehlungen zu Gefühlen: „Wut tut gut, lass sie raus!“ „Gefühle können nicht irren!“ „Hör auf dein Bauchgefühl!“ In ihrer Simplifizierung sind alle drei Empfehlungen nicht hilfreich.
In einer großen Metastudie wurden über 100 Forschungsarbeiten zum Zusammenhang von psychischen Problemen und dem Umgang mit Gefühlen untersucht. Dabei zeigte sich, dass manche Verhaltensweisen besonders problematisch sind. Dazu zählen das Vermeiden von Situationen, die das Gefühl auslösen, ferner Grübeln und das Wegdrücken des Gefühls. Diese Strategien begünstigen psychische Erkrankungen massiv. Die Zusammenhänge mit den wünschenswerten Strategien sind hingegen weniger gesichert.
Wir wissen also sehr genau, was wir eigentlich nicht tun sollten. Wer angstauslösenden Situationen aus dem Weg geht und stattdessen nächtelang darüber nachgrübelt, der begünstigt das Auftreten psychischer Krisen. Ebenso, wer seine Traurigkeit über einen Verlust oder eine Enttäuschung nicht zulässt und sich stattdessen sofort ablenkt oder so tut, als mache ihm das gar nichts aus.
Wer seine Gefühle fühlt, entlastet sein Gehirn
Eine der häufigsten Strategien beim Umgang mit Gefühlen ist sicher unser Versuch, das Gefühl wegzudrücken. Wir stürzen uns in die Arbeit, surfen stundenlang im Netz oder wehren uns körperlich gegen unsere Gefühle, indem wir die Zähne zusammenbeißen. All das mag kurzfristig sogar wirkungsvoll sein. Wer einen Horrorfilm schaut und sich selbst einen Adrenalinkick verpasst, der braucht währenddessen seine Traurigkeit über den Auszug des jüngsten Sohnes nicht zu spüren, doch verarbeitet ist das Gefühl dadurch noch lange nicht.
Das Wegdrücken lässt unsere Gefühle nicht wirklich abklingen, wie eine an der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich durchgeführte neurowissenschaftliche Studie eindrücklich zeigt. Dort erhielt eine Gruppe von Versuchspersonen die Aufgabe, über sich nachzudenken und die Frage „Wer bin ich?“ zu beantworten. Mit diesem Auftrag versuchten die Forschenden, bei den Versuchspersonen eher mentale Prozesse zu aktivieren. Die zweite Gruppe hingegen erhielt den Auftrag, die eigenen Gefühle wahrzunehmen.
Nun wurde im Gehirn beobachtet, wie die für die Emotionsverarbeitung zuständigen Hirnareale darauf reagierten. Es kam zu dem zunächst paradox erscheinenden Ergebnis, dass bei jenen Versuchspersonen, die über sich nachdenken sollten, die emotionale Verarbeitung stärker war als bei denen, die ihre Gefühle fühlen sollten.
Doch das Ergebnis wirkt nur paradox. Denn wie sich herausstellte, wurde bei jenen Versuchspersonen, die fühlen sollten, die Emotionsareale des Gehirns durchaus aktiviert – aber nur kurz. Danach wurde die emotionale Hirnaktivierung rasch wieder herunterreguliert. Warum? Offenbar meldete das Gehirn: Die Gefühlsbotschaft ist angekommen, Auftrag erledigt!
Jene Versuchspersonen hingegen, die über sich nachdenken sollten, konnte ihre Gefühle nicht hinreichend fühlen, deshalb blieb die Hirnaktivität erhalten. Das Gehirn interpretierte das Verhalten der Versuchsperson so, dass die Gefühlsbotschaft offensichtlich noch nicht wirklich wahrgenommen wurde, weshalb es sie unermüdlich weiter sendete. Gefühle, so die Forschungsgruppe, sind wie ein Wecker: Hört man ihn, so kann man ihn ausstellen, wird er aber nicht wahrgenommen, so klingelt er unentwegt weiter.
Richtig über belastende Gefühle reden
Drücken wir unsere Gefühle also beiseite, so sind sie nicht einfach weg, sondern sorgen teilweise sogar für eine hochstressige Daueraktivierung im Gehirn. Und genau daraus können psychische und körperliche Probleme entstehen: So erhöht sich unter anderem das Risiko, an einer Depression zu erkranken, der Blutdruck kann ansteigen, psychosomatische Symptome können auftreten oder eine allgemeine körperliche Anspannung.
Unangenehme Gefühle wegzuschieben, statt ihnen Beachtung zu schenken, ist also keine empfehlenswerte Taktik – und das hat sich halbwegs herumgesprochen. Doch bisweilen verwenden wir trickreiche Strategien, um diese Vermeidungshaltung vor uns selbst zu verschleiern. Eine davon ist der typische Psychotalk über Gefühle: Wir meiden unsere Gefühle, indem wir vermeintlich über sie sprechen.
Seit Jahrzehnten wird uns vermittelt, wie wir psychologisch korrekt über uns und unsere Empfindungen reden sollen. Man rät uns etwa, Ich-Sätze zu verwenden und unsere Gefühle zu benennen. Das tun wir dann auch – oder wir glauben zumindest, dass wir dies tun. Denn tatsächlich benutzen wir bei solchem Psychotalk zwar sehr oft das Wort „Gefühl“, ohne aber wirklich über unsere Gefühle zu sprechen. Denn es sind Pseudogefühle, über die wir bei solchen Anlässen reden.
Angst, Freude, Traurigkeit oder Ärger, diese und viele andere sind unsere wirklichen Gefühle. Die Pseudogefühle oder Als-ob-Gefühle tragen zwar das Wort „Gefühl“ oder „fühlen“ in sich, haben aber in Wirklichkeit nichts mit einem Gefühl zu tun. Wenn wir sagen: „Ich habe das Gefühl, dass es morgen schönes Wetter gibt“, sprechen wir genauso wenig über ein Gefühl, wie wenn es heißt: „Ich habe das Gefühl, dass du mich nicht magst.“
Pseudogefühle können wir an bestimmten Redewendungen erkennen wie „Ich habe das Gefühl, dass…“ oder „Ich fühle mich wie…“. Wenn wir einen Satz so einleiten, wird in dem, was dann folgt, nicht wirklich über ein Gefühl gesprochen. „Ich habe das Gefühl, dass du mich nicht respektierst“ ist eben kein Gefühl, sondern letztlich eine Interpretation, also ein kognitiver Prozess. Dem wahren Gefühl können wir aber ganz leicht auf die Spur kommen, nämlich indem wir uns fragen: Was für ein Gefühl kommt auf, wenn ich denke, dass du mich respektlos behandelst?
Kognition ist nicht alles: Gefühle in der Psychotherapie
„Wenn ich denke, dass du mich respektlos behandelst, werde ich ärgerlich und traurig.“ Eine solche Aussage würde die Gefühle wirklich benennen – und bei meinem Gegenüber sicherlich mehr Empathie wecken als der als Gefühl verkleidete Vorwurf, dass ich mich von ihm oder ihr respektlos behandelt „fühle“. Das echte Gefühl, nämlich das der Verletztheit anzusprechen ist aber nicht immer einfach, denn damit lassen wir unseren Schutzschirm fallen und entblößen unser Inneres. Und so lavieren wir uns oft lieber mit einem Pseudogefühl um das eigentliche Gefühl herum.
Wie reagiert die Psychotherapie auf die neueren Erkenntnisse, dass auch unangenehme Gefühle ihr Recht und ihre Funktion haben, und welche Hilfe bietet sie konkret an, um konstruktiv mit solchen Gefühlen umzugehen? Noch bis vor etwa einem Jahrzehnt herrschte Uneinigkeit darüber, welchen Raum Gefühle in der Therapie überhaupt bekommen sollten. Die sehr verbreitete kognitive Verhaltenstherapie legte den Fokus eher auf – wie der Name schon sagt – kognitive Prozesse. Andere Methoden, etwa körpertherapeutische Ansätze oder die Traumatherapie, betonten hingegen schon früh, wie wichtig es ist, sich auch den Gefühlen der Klienten zuzuwenden.
Diese Erkenntnis setzt sich inzwischen mehr und mehr durch, und es ist zu einer Angleichung der therapeutischen Ansätze gekommen. Die neurowissenschaftlichen Befunde sind einfach zu erdrückend, um den Emotionen nicht einen immer größeren Raum zu geben. Gefühle, so wissen wir heute, bestimmen ganz zentral unser Handeln und unsere Motivation, sie entscheiden mit darüber, ob wir psychische Krisen entwickeln oder den Herausforderungen gewachsen sind. Moderne integrative Therapieansätze, etwa achtsamkeitsbasierte Therapiemethoden, die Schematherapie oder die Akzeptanz- und Commitmenttherapie, betonen allesamt den Einbezug von Emotionen in ihre Arbeit.
Hier können Sie mehr zum Thema „Gefühle zulassen“ lesen:
Emotionen sind die Antwort auf unsere Umwelt
Zugleich wird der Blick auf unsere Gefühle immer differenzierter. Es zeigt sich, dass es keine allgemeinen Empfehlungen zum Umgang mit Gefühlen gibt, sondern zunächst verstanden werden muss, um welches Gefühl es sich handelt und wie es entstanden ist.
Viele unserer Alltagsgefühle sind eine stimmige Antwort auf eine konkrete Situation: Wenn wir in Gefahr sind, wird Angst aktiviert; wenn man uns bedroht, werden wir ärgerlich. Diese Gefühle passen zur jeweiligen Situation und es gehört zur psychischen Gesundheit, sie wahrnehmen zu können. Sie sind meistens mit einem gesunden Handlungsimpuls verbunden, dem wir folgen sollten.
Am Beispiel der Trauer lässt sich der Umgangsstil mit diesen Gefühlen gut verdeutlichen. Trauer ist eine Emotion, die natürlicherweise auftritt, wenn wir etwas für uns Wichtiges verloren haben. Das kann der Verlust eines geliebten Menschen sein. Trauer – natürlich sehr viel weniger intensiv und anhaltend – kann aber auch aufkommen, wenn sich ein Urlaub neigt, wir uns vom Sommer verabschieden müssen oder ein Auszug aus einer geliebten Wohnung ansteht. Wir werden traurig, vielleicht fließen sogar Tränen, wir ziehen uns möglicherweise zurück oder wir suchen Beistand bei einem anderen Menschen.
Öffnen wir uns eine gewisse Zeit für die Trauer, so klingt sie langsam von allein wieder ab. Selbst den Tod eines geliebten Menschen können wir nach einer sehr belastenden Zeit irgendwann „verschmerzen“, wenn wir dem Schmerz den Raum geben, den er braucht. Fachpersonen nennen diese Art von Gefühlen meistens primäre adaptive Gefühle: primär, weil es das spontan auftretende Gefühl ist, und adaptiv, weil es für uns hilfreich ist.
Ärger als Schutzmaske für andere Gefühle
Doch nicht alle Gefühle meinen es so gut mit uns und sollten einfach ihren Raum bekommen. So haben wir recht oft Emotionen, die nur dazu dienen, ein anderes, weitaus unangenehmeres Gefühl nicht fühlen zu müssen. Typisches Beispiel: Werden wir kritisiert oder auf einen wunden Punkt angesprochen, so reagieren wir oft mit Ärger. Dabei löst die Kritik meistens spontan ein anderes Gefühl aus, wir fühlen uns minderwertig und sind beschämt. Das aber erleben wir als besonders unangenehm und wir versuchen, uns vor diesem Gefühl zu schützen, indem wir ärgerlich werden. In der Psychotherapie spricht man daher von den Deckemotionen oder auch von sekundären Emotionen.
Das Überdecken von Gefühlen durch andere Gefühle funktioniert sogar bei angenehmen Empfindungen. Werden wir gelobt, so können wir uns manchmal gar nicht wirklich freuen, sondern schauen eher verlegen und beschämt zu Boden. Dabei ist Freude natürlich die einzig stimmige Emotion, die auf ein Lob oder ein Kompliment folgt.
Eine Klientin von mir schilderte, dass sie ein sehr ausgelassenes und heiteres Kind war, ihre Eltern damit aber gar nicht umgehen konnten und sie oft den Spruch „Freu dich ja nicht zu früh“ zu hören bekam. Als erwachsene Frau stellte sich bei ihr sofort ein mulmiges Gefühl ein, sobald sie einen Anflug von Freude empfand – als ob da etwas nicht stimmte. Solche unpassenden Gefühle verschwinden durch Therapie nicht einfach. Man kann aber lernen, ihnen nicht zu folgen, sie nicht für wahr zu halten. Wir brauchen viel Selbstreflexion und eine hohe Bereitschaft, unsere Empfindungen ehrlich zu beobachten, um solchen Prozessen auf die Spur zu kommen.
Belastende Gefühle als Teil der eignenen Biografie
Besonders belastend sind für viele Menschen jene Gefühle, die gar nicht in die jeweilige Situation hineinpassen: Man ist unter Freunden und fühlt sich trotzdem einsam; man hat ständig Angst, selbst bei einem nichtigen Anlass; das Gefühl von Traurigkeit will gar nicht mehr weichen. Solche Gefühle sind meistens durch biografische Erfahrungen verursacht. Da ist die ehemalige Klientin von mir, die als Kind von ihren suchtkranken Eltern oft allein gelassen wurde und die in der Partnerschaft eine extrem starke Eifersucht entwickelt hat. Solche biografischen Emotionen fühlen sich immer wieder gleich an und gehen zumeist mit intensiven Gefühlen von Ohnmacht und Verzweiflung einher.
Biografisch verankerte Gefühle sind hartnäckig. Anders als andere Emotionen ebben sie nicht ab, indem man ihnen bewusst Aufmerksamkeit schenkt. Bei Gefühlen dieser Sorte ist uns gerade nicht damit gedient, sie immer wieder aufs Neue zu fühlen. Sie können nur in dem zeitlichen Umfeld verändert werden, in dem sie entstanden sind. Hier kommt die Psychotherapie ins Spiel, denn in frühere Situationen zurückzugehen ist ohne professionelle Begleitung kaum möglich.
Wenn meine schon erwähnte Klientin in einer Imagination in die kindliche Verlassenheitssituation zurückkehrt und dort eine neue Erfahrung macht, dann kann es zu einer tieferen emotionalen Veränderung kommen: wenn etwa ein freundlicher Selbstdialog der Erwachsenen von heute mit der kindlichen Seite von damals stattfindet oder wenn ich als Therapeut mein Mitgefühl mit dem Schmerz von damals ausdrücke oder freundlich mit der verletzten Seite spreche.
Auch wenn jedes Gefühl gewissermaßen verstanden werden muss, um einen heilsamen Umgang damit zu finden, so ist eines doch immer notwendig: die freundliche Annahme unserer Gefühle. Neulich meinte eine Klientin zu mir: „Wenn man belastende Gefühle hat, dann stimmt mit einem doch was nicht!“ Dabei haben alle Gefühle eine sinnhafte Funktion und sind Ausdruck unserer Lebendigkeit. Wenn wir sie da sein lassen und uns nicht für unsere Gefühle verurteilen, dann können wir sie erkunden und besser verstehen, was sie uns zu sagen haben.
Alexithymie
Etwa zehn Prozent der Bevölkerung, so aktuelle Schätzungen, sind von der sogenannten Alexithymie, einer Gefühlsblindheit betroffen. Sie zeigt sich in der Unfähigkeit, eigene Gefühle wahrzunehmen und diese auszudrücken. Alexithymie hat zahlreiche negative Folgen, so können damit einige psychische Erkrankungen einhergehen, etwa die Magersucht. Betroffene tun sich mit der Wahrnehmung eigener Bedürfnisse und mit sozialen Beziehungen schwer.
Andreas Knuf ist Psychologischer Psychotherapeut mit eigener Praxis. Er ist in der Weiterbildung von Therapeutinnen und Therapeuten tätig und schreibt regelmäßig für Psychologie Heute.
Zum Weiterlesen
Andreas Knuf: Ruhe, ihr Quälgeister. Wie wir den Kampf gegen unsere Gefühle beenden können. Arkana, München 2013
Andreas Knuf: Nix wie fühlen! Achtsamer Umgang mit Gefühlen in Beratung, Therapie und Coaching. Arbor, Freiburg 2022