„Der Körper ist ein Resonanzraum für unsere Emotionen“

Manchmal spüren wir ein mulmiges Gefühl, ohne dass wir es zu fassen bekommen. Hochschulprofessor Ulrich Siegrist weiß, wie wir ihm nachspüren können.

Die Illustration zeigt einen Mann mit vielen Eindrücken im Kopf, der in die Ferne schaut, wo viele Heizluftballons am Himmel sind
Manchmal machen sich unangenehme Gefühle ganz unterschwellig in uns breit. Im passenden Rahmen können wir ihnen nachgehen und sie schließlich wie einen Ballon loslassen. © Frauke Ditting für Psychologie Heute

Herr Professor Siegrist, Gefühle wie Angst oder Ärger fallen oft heftig und vernehmlich über uns her. Kommt es denn auch vor, dass wir etwas fühlen, ohne diese Empfindung so richtig wahrzunehmen?

Ja, das gibt es, und unsere Sprache kennt vielerlei Ausdrücke für solche meist unangenehmen Gefühlsregungen. Wir sprechen von „Bauchgefühl“, „zittrigen Knien“ oder „Herzklopfen“ – obwohl der Puls objektiv oft nicht schneller ist als vorher. Solche Redewendungen signalisieren: Irgendetwas passiert da in uns, was über…

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ist als vorher. Solche Redewendungen signalisieren: Irgendetwas passiert da in uns, was über das hinausgeht, was wir davon im ersten Moment zu fassen bekommen.

Sie haben das in Ihrem aktuellen Buch „gefühltes Unbehagen“ genannt. Könnten Sie an einem Beispiel verdeutlichen, was damit gemeint ist?

Ich nenne mal eines aus meinem eigenen Berufsalltag: Ich habe eine Anfrage zu einem Auftrag erhalten, der formal sehr passend und attraktiv für mich war. Wir trafen am Telefon eine vorläufige Absprache. Dann legte ich den Hörer auf – und merkte in diesem Moment: Irgendetwas passt da nicht! Etwas arbeitete da in mir, doch ich konnte es nicht in Worte fassen. Ich versuchte also, diesem Unbehagen auf den Grund zu gehen – und stellte fest: Ich hatte etwas übersehen, nämlich dass ich in diesem Fall inhaltlich zu befangen war, um Neutralität zu wahren. Ich musste den Auftrag ablehnen.

Was sind typische Alltagssituationen, in denen wir ein solches unterschwelliges Unbehagen spüren?

Zum Beispiel wenn wir unter Zeitdruck einen Entschluss fassen müssen. Oder in vielen zwischenmenschlichen Situationen, etwa am Arbeitsplatz oder in der Familie: Irgendetwas, was meine Partnerin da eben gesagt hat, irritiert mich, beschäftigt mich, aber ich kann nicht genau benennen, was dieses Etwas ist.

Ist es ratsam, einem solchen diffusen Unbehagen in dem Augenblick nachzuspüren, in dem man es bemerkt? Etwa während eines Meetings im Büro, bei dem mir auf diffuse Weise irgendetwas sauer aufstößt?

Ja, es ist ratsam, dem nachzugehen – aber in der genannten Situation schwer umzusetzen. „Nachspüren“, wie Sie es genannt haben, braucht Zeit. Bis ich mir beim Nachspüren Klarheit verschafft habe, ist das Meeting wahrscheinlich längst beendet, der Beschluss ist getroffen und der Zug abgefahren.

Man kann sich die Situation, die man als unbehaglich empfunden hat, später in einer ruhigen Minute noch mal vor Augen führen. Was wäre ein guter Rahmen dafür?

Nötig ist ein Rahmen – eine Umgebung und eine Zeit –, in dem wir in einen Zustand entspannter Aufmerksamkeit kommen können. Oft taucht das Thema in einer Alltagssituation auf, in der wir uns gar nicht damit beschäftigen, aber ganz automatisch entspannt und aufmerksam sind, etwa beim Joggen. Plötzlich steht mir die Situation wieder vor Augen, mitsamt diesem diffusen Gefühl. Dann habe ich gute Rahmenbedingungen, um dem nachzugehen.

Wenn man diese Episode dann rückblickend in Augenschein nimmt, fällt einem vielleicht auf, dass man sich über eine Kollegin geärgert hat oder frustriert war über die ganze Situation am Arbeitsplatz. Der Unmut richtet sich also auf andere, auf das Umfeld. Aber dabei sollte man nicht stehenbleiben, so schreiben Sie. Warum?

Weil daraus keine Lösung entsteht. Die Lösung entsteht nicht, indem ich mich noch mehr als ohnehin schon damit beschäftige, was die andere Person in meinen Augen alles falsch gemacht hat. Die Lösung entsteht nicht von außen, sondern von innen heraus, indem ich auf mich achte.

Ein Beispiel: Wir haben im Team etwas beschlossen und ich stelle nun fest, dass sich manche nicht daran halten. Das ärgert mich massiv. Beim Joggen kommt das alles hoch und ich beschließe, dem Ärger nachzugehen. Ich versuche zu erspüren und zu ergründen, was genau diese Situation, über die ich mich ärgere, in mir ausgelöst hat.

Warum ist Ihnen diese emotionale Selbsterkundung wichtig, warum nicht einfach auf der Sachebene beschreiben, was da falsch gelaufen ist?

Die Sachebene zu beschreiben ist hilfreich und wichtig. Aber das, was mich da stört, entsteht ja aus meinem emotionalen Erleben heraus. Es resultiert daraus, dass bestimmte Bedürfnisse, die ich habe, nicht angemessen gewürdigt oder befriedigt werden. In unserem Beispiel wäre dies mein Bedürfnis, mich in dem Projekt einzubringen – was eben nicht möglich ist, wenn andere mir nicht so zuarbeiten, wie wir das vereinbart hatten.

Es ist manchmal gar nicht so einfach, dem auf die Spur zu kommen, was da emotional in einem vorgeht. Sie beschreiben, dass man dazu zum Beispiel visuelle Bilder befragen kann, die einem dabei in den Sinn kommen.

Das Ziel ist dabei, einen Zugang zu bekommen zu dem, was sich da in mir am Rande des Bewusstseins oder knapp unter dessen Oberfläche abspielt. Ein Beispiel: In einer Beratung erzählt mir eine Teamleiterin von einer schwierigen Konstellation in ihrem Team, verbunden mit Kündigungen und einer hohen Fluktuation.

Ich bitte sie, sich diese für sie belastende Situation in Ruhe vor Augen zu führen und dabei die Aufmerksamkeit nach innen, auf ihre eigene Person zu richten: Wie geht es ihr damit? Und dann entwickelt sie im Gespräch ein Bild, nämlich das Bild eines Raumanzugs. Sie sagt: „Ich muss diesen Raumanzug immer zum Selbstschutz anziehen.“ Sie schämt sich dafür, dass sie gefühlt mit einem solchen Raumanzug durch ihren Arbeitsalltag geht.

Mit diesem Bild kann sie dann weiter arbeiten: Was sind die Vorteile dieses Schutzanzugs? Was sind die Probleme? Und welchen Ersatz könnte sie sich für den Raumanzug schaffen, damit sie sich nicht schämen muss? Dieses Bild hat ihr weitergeholfen, auch ganz konkret in ihrer Konfliktsituation.

Ein weiterer Zugang zum unterschwellig Gefühlten ist in Ihrer Darstellung der „affektiv-emotionale Kanal“. Welche Art von Hinweisen findet man dort?

Unterschwellige Emotionen können nicht gleich in Worte gefasst werden. Oft weiß man zwar: „Da war ich total glücklich“, oder: „Das hat mich maßlos geärgert.“ Aber dies beschreibt eben nur den Teil des Gefühls, der dem Bewusstsein zugänglich ist. Jetzt geht es darum, sich schrittweise mehr Zugang zu verschaffen, indem man dieses Gefühl weiter exploriert. Ich kann mich etwa fragen: Was ist denn noch alles mit diesem Glücksgefühl, diesem Ärger, dieser Trauer verbunden?

Indem ich diesen Emotionen nachspüre, ergibt sich allmählich ein klareres Bild von dem, was da in mir arbeitet. Bei jedem bewusst empfundenen Gefühlszustand ist immer auch ein nicht sofort zugänglicher Anteil dabei. Da schwingt immer mehr mit. Wenn ich mich innerlich damit beschäftige, bekomme ich mehr Zugang dazu.

Der vielleicht wichtigste Kanal, um einem diffusen Unbehagen nachzuspüren, ist der Körper. Auf welche Empfindungen sollte man achten?

Der Körper ist ein Resonanzraum für unsere Emotionen. Gefühle können sich im Körper abbilden. Erfahrungsgemäß ist gerade der Brust-Bauch-Raum sehr empfänglich dafür. Es lohnt sich also, dieser Körperregion Aufmerksamkeit zu schenken: Habe ich ein Engegefühl? Habe ich Herzklopfen? Was ist mit meiner Atmung? Kribbelt da etwas? Und empfinde ich genau diese Art von Körperresonanz vielleicht immer in ganz bestimmten Situationen?

Ich habe das probeweise auf der Fahrt zu diesem Interview im ICE exerziert. Vier Reihen vor mir saßen zwei dauertelefonierende Männer, jeder ihrer Sätze von extremer subjektiver Wichtigkeit. Die fanden sich toll und mich ärgerte dieses Gehabe. Als ich nun diesem Ärger in meinem Körper nachspürte, bemerkte ich tatsächlich eine Spannung im Bauchraum, die nach oben hin ausstrahlte. Was hätte ich anstellen können, um die Bedeutung dieser Empfindung näher auszuloten?

Zum Beispiel einen Dialog mit diesem Körpergefühl führen. Klingt abgefahren, ist aber ein Weg, um eine Verbindung zwischen dem Kognitiven und dem unterschwellig Gefühlten herzustellen. Sie könnten diese Empfindung fragen: Was willst du mir sagen? Diese große Frage kann man in handlichere kleine Fragen herunterbrechen, etwa: Was brauchst du gerade? Oder: Was ist deine Richtung? In Ihrem Beispiel: Die Richtung weist nach oben, vielleicht will da etwas „oben heraus“.

Indem Sie nun gedanklich immer hin- und herpendeln zwischen dem Körperempfinden und der Situation, die es ausgelöst hat, bekommen Sie seine Bedeutung immer klarer zu fassen. „Einen Griff finden“ nennen wir das im Coaching. Dieser Griff kann ein Symbol, eine Metapher sein. Jemand sagt zum Beispiel: „Was ich da spüre, fühlt sich an wie eine rote Kugel.“ Rote Kugel? Damit können Außenstehende natürlich nichts anfangen, aber für die Person selbst ist es ein Begriff, mit dem sie gut beschreiben und „greifen“ kann, was da in ihr vorgeht.

Der Körper als Hinweisgeber spielt eine ganz zentrale Rolle im Focusing, einer Therapie- und Selbsterfahrungsmethode. Könnten Sie die Grundzüge ganz kurz skizzieren?

Alles, worüber wir eben gesprochen haben, ist bereits Focusing. Laut dem Begründer dieser Methode, dem 2017 verstorbenen Therapeuten und Philosophen Eugene Gendlin, heißt Focusing schlicht, Zeit mit etwas körperlich Empfundenen zu verbringen, das zunächst unklar ist – bis dieses Unklare näher in den Fokus kommt und ich etwas damit anfangen kann. Dazu hat Gendlin ein umfangreiches Programm entwickelt, in dessen Verlauf dieses Körpergefühl schrittweise klarer wird und eine Bedeutung bekommt.

Diese „gefühlte Bedeutung“, der Felt Sense, ist ein Schlüsselbegriff im Focusing. Was ist damit gemeint?

Um wieder ein Beispiel zu nennen: Eine Frau berichtet von schwierigen Gesprächen mit Vorgesetzten und sagt dann: „Jetzt, wo ich das erzähle, merke ich immer noch, wie es in mir pocht!“ Obwohl die Situation lange zurückliegt, signalisiert ihr das Pochen: Da arbeitet noch immer etwas in mir. Als die Frau der Empfindung nachspürt, entfährt ihr nach einer Weile der Satz: „Ich will mir das nicht mehr bieten lassen!“

Sie spürt also, dass sie die vermeintlich abgeschlossene Sache nicht auf sich beruhen lassen will. Dieser Felt Sense ist noch nicht die Lösung des Konflikts, aber er gibt die Richtung vor, und entlang dieser Empfindung werden die weiteren Schritte erarbeitet.

Begleitet uns der Felt Sense ständig durch den Alltag?

Nein. Zwar ist bei allem, was wir erleben, eine körperliche Resonanz vorhanden, eine „organismische Bewertung“, wie wir das auch nennen: Unser Organismus bewertet unentwegt jede unserer Alltagserfahrungen. Doch eine Bedeutung im Sinne des Felt Sense kann diese körperliche Resonanz erst dann entfalten, wenn wir gezielt unsere Aufmerksamkeit darauf lenken und uns gedanklich damit beschäftigen. Focusing ist kein – wie soll ich sagen? – emotionales Gedudel, sondern ein rationales Verfahren: Ich versuche, mit meinem Verstand zu erfassen, was sich da körperlich tut.

In welchen Alltagsmomenten macht sich diese Stimme des Körpers besonders bemerkbar?

Etwa dann, wenn diese organismische Bewertung im Widerspruch steht zu der vorläufigen Bewertung des Verstandes. Oft sind das Situationen, in denen bei der Person ein wunder Punkt getroffen wird, an dem sie besonders sensibel reagiert: Ich glaube etwa, ich sei ein ausgeglichener Mensch und habe alles im Griff, doch plötzlich beginnt das Herz zu rasen und ich spüre, wie ich die Contenance verliere.

Nach dem Felt Sense, also nachdem ich der Bedeutung eines solchen Körpersignals nachgegangen bin, folgt im Focusing als nächster Schritt idealerweise ein Felt Shift. Was versteht man darunter?

Um noch mal auf das Beispiel von eben zurückzukommen: Aus dem „Ich will mir das nicht mehr gefallen lassen“ erwuchs in der Beratung zunehmend ein konkreter Plan für den Berufsalltag: „Ich werde solche Termine nicht mehr wahrnehmen.“

Dieser Schritt war wie ein Aha-Erlebnis, das mit einer auch von außen deutlich wahrnehmbaren Veränderung einherging: Die Sitzposition der Frau veränderte sich, es ging ein Lächeln über das Gesicht. Es trat eine körperlich spürbare Erleichterung ein. Das meinen wir mit Felt Shift: ein gefühltes Umschalten, eine Wendung zum Positiven.

Was fange ich nun mit diesem Aha-Erlebnis an?

Focusing wird in der Umsetzung sehr konkret und praktisch: Welche Schritte gehe ich nun am Arbeitsplatz? Mit wem will ich wann reden? Wie teile ich meine Zeit ein? Doch wenn ich all dies dann im Alltag umsetze, begleitet mich dabei noch immer der „innere Griff“, der Zugang zu meinem körperlichen Erleben, und sorgt dafür, dass ich nicht so schnell vergesse, was ich mir erarbeitet habe.

Auf welche Weise haben sich die Menschen, die Sie im Coaching begleitet haben, während des Focusings verändert?

Nicht alles ist von Erfolg gekrönt [lacht]. Doch oft handeln die Menschen danach stimmiger im Alltag, stimmiger mit sich selbst und deshalb mit einer größeren Gelassenheit, ohne ihre Zielgerichtetheit zu verlieren.

Ulrich Siegrist lehrt Kommunikation und Beratung an der Katholischen Hochschule Freiburg. Außerdem arbeitet er als Coach und Organisationsberater. Er ist aktives Mitglied in der Deutschen Gesellschaft für Supervision und Coaching und in der Gesellschaft für Personzentrierte Psychotherapie und Beratung.

Zum Weiterlesen

Ulrich Siegrist: Experienzielles Coaching. Körper und Emotionen konstruktiv nutzen. Reinhardt, München 2022

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 3/2023: Alles fühlen, was da ist