Eigentlich ein schöner Abend: Auf einer Party lernt eine junge Frau einen Mann kennen. Er sieht gut aus und ist charmant. Die beiden ziehen weiter zur nächsten Party. Doch je später der Abend, desto unsympathischer wird ihr die neue Bekanntschaft. Als sie schließlich allein nach Hause gehen will, schafft sie es nicht, ihn loszuwerden. Er steigt mit in ihr Taxi und dringt sogar in ihre Wohnung ein und versucht, sie zu vergewaltigen.
Die junge Frau hat Glück. Alarmiert durch den Lärm, kommt ihr die Nachbarin…
Sie wollen den ganzen Artikel downloaden? Mit der PH+-Flatrate haben Sie unbegrenzten Zugriff auf über 2.000 Artikel. Jetzt bestellen
Hilfe und vertreibt den Mann. Die Vergewaltigung wird verhindert, aber es bleiben die Wut und das erniedrigende Gefühl, sich nicht gewehrt zu haben. Warum hat sie getan, was er wollte, und am Fahrstuhl auf ihn gewartet? Warum hat sie zugelassen, dass er mit ins Taxi steigt?
Der Vergewaltigungsversuch ist eine Schlüsselszene in Siri Hustvedts neuem Roman Damals, einem „Porträt der Künstlerin als junge Frau“. Nach dem Überfall bekommt Hustvedts Protagonistin von einer Freundin ein Messer geschenkt, ein „14-cm-Stiletto-Springmesser“ zur Selbstverteidigung. Das Messer beflügelt ihre Fantasie. Immer wieder muss sie an den Abend denken, geht in ihrer Vorstellung die Ereignisse durch, doch jetzt zückt sie am Ende das Messer: „Sie sah den großgewachsenen Mann vor Angst und Schrecken zittern, und seine Angst erfüllte sie mit Glück.
Stärker als der Täter
Und diesmal schlitzte sie ihm genau an dem hässlichen Rasierschnitt entlang die Wange auf, um ihn zu Tode zu erschrecken.“ Eine Zeit lang tröstet sich Hustvedts Protagonistin mit der Vorstellung, diesmal stärker zu sein als der Täter. Es sind nur Bilder in ihrem Kopf. Und doch helfen sie ihr, über das Erlebnis hinwegzukommen.
Vorstellungen von Rettung, von Trost, ja auch von Rache: Mervyn Schmucker, Psychotherapeut an der Klinik am Waldschlößchen in Dresden, sieht sie als Ausdruck von Selbstheilungskräften. „Sie sind in uns allen angelegt.“ Schmucker arbeitet seit Jahrzehnten mit einer Behandlungsmethode, die den Nachhaltigkeitseffekt von Vorstellungsbildern zu nutzen versucht: imagery rescripting. Das Prinzip: Mithilfe der bildlichen Vorstellungskraft sollen schlimme Erinnerungen verarbeitet werden.
Belastende Bilder ersetzen
Diese Therapie wird inzwischen auch bei Angststörungen wie Phobien, sozialen Ängsten, Panikattacken oder Albträumen angewendet. Bereits als wirksam erwiesen hat sie sich bei posttraumatischen Belastungsstörungen, also bei den oft verheerenden psychischen Langzeitfolgen von Schockerlebnissen wie schweren Verkehrsunfällen, Naturkatastrophen, Kriegserfahrungen, Vergewaltigungen oder Misshandlungen in der Kindheit.
„Wir machen etwas, das zunächst etwas seltsam klingt. Wir nehmen die Situation, die damals so schrecklich war, als Ausgangspunkt und verändern das Drehbuch“, erklärt Thomas Ehring, Professor für klinische Psychologie und Psychotherapie und Leiter der Psychotherapeutischen Hochschulambulanz der Universität München. Es geht darum, belastende Bilder im Kopf durch neue Bilder zu ersetzen. Denn Bilder bestimmen unser Gedächtnis. „Woran können wir uns noch erinnern, wenn wir daran zurückdenken, was vor fünf Jahren passiert ist? Das meiste haben wir doch vergessen“, sagt Schmucker. „Was bleibt, sind Bilder.“
Das Modellieren der inneren Bilder
Mervyn Schmucker experimentierte bereits in den 1980er Jahren an der University of Pennsylvania mit Imagination als Therapie. 1994 veröffentlichte er einen ersten Artikel dazu und prägte den Ausdruck imagery rescripting. Seine Imagery Rescripting & Reprocessing Therapy (IRRT) ist in drei Phasen unterteilt. In der ersten Phase wird der Patient aufgefordert, die Augen zu schließen und sich an ein besonders belastendes Ereignis zu erinnern.
Vor allem Traumapatienten können solche Bilder meistens ohne Schwierigkeiten abrufen, denn sie drängen sich ihnen geradezu auf. Besonders verstörend sind die sogenannten Flashbacks, bei denen Erinnerungen mitten im Alltag und ohne Vorwarnung plötzlich so heftig nach oben kommen, dass das traumatische Ereignis noch einmal mit allen Sinnen wiedererlebt wird. Dann ist der oder die Betroffene plötzlich wieder das Kind, das von seinem Vater misshandelt oder missbraucht wird und voller Angst in seinem Kinderzimmer auf den Täter wartet.
Jedes Trauma ist anders, doch immer ist es mit schrecklichen Bildern verbunden. Und selbst wenn es keine offensichtlich traumatischen Erlebnisse gibt oder sogar ein Gedächtnisverlust besteht, kommen bei Patienten oft bruchstückhafte Bilder und Sinneseindrücke vergangener Erlebnisse hoch, mit denen gearbeitet werden kann, sagt Schmucker. „Wenn man die Augen zumacht und auf sein inneres Bild fokussiert, beginnt dieses Bild, sich zu entwickeln. Darin liegen viele Hinweise für Gefühle und Konflikte.“
Das Drehbuch umschreiben
Die Bearbeitung der traumatischen Erinnerungen ist nach den offiziellen deutschen Leitlinien ein zentraler Bestandteil der Behandlung von posttraumatischen Belastungsstörungen, beispielsweise im Zuge einer Verhaltenstherapie oder einer psychodynamischen Psychotherapie. „Es hilft bereits, die Patienten dazu zu bringen, die Erinnerungen nicht mehr zu vermeiden“, erklärt Ehring. Durch die wiederholte Konfrontation soll unter anderem eine Habituation bewirkt werden, also eine Gewöhnung. Doch immer wieder zum Trauma zurückzukehren bedeutet für den Patienten ebenso wie für den Therapeuten eine Herausforderung.
Dagegen wird imagery rescripting zu den sanfteren Methoden gerechnet. Zwar steht auch hier am Anfang eine möglichst detaillierte Konfrontation mit dem Erlebten. Doch statt die Szene wieder und wieder originalgetreu und plastisch in der Vorstellung durchzuspielen, bis sie an Schrecken verliert, geht es beim imagery rescripting darum, das Drehbuch für die Situation umzuschreiben.
Perspektivwechsel
Dabei soll nicht die Wirklichkeit überschrieben werden, sondern die mit ihr verbundenen Bilder und Vorstellungen – bis von einem traumatischen Erlebnis nicht viel mehr übrigbleibt als eine schlechte Erinnerung, die aber keine Macht mehr über die Gegenwart hat. Denn wer an einer posttraumatischen Belastungsstörung leidet, den belastet weniger das traumatische Ereignis an sich, als vielmehr die Bedeutung, die es für einen hat. Die Patienten fühlen sich beschmutzt und wertlos bis zum Selbsthass. Sie leiden an Scham, Schuld und Ohnmachtsgefühlen und vermeiden alle Situationen, die das Trauma erneut in ihnen wachrufen könnten.
Bei belastenden Kindheitserlebnissen beispielsweise tritt in einer zweiten Therapiephase das heutige, erwachsene Ich des Patienten in die imaginierte Szene von damals hinein und stellt sich dem Täter entgegen. Es gibt einen Perspektivwechsel: Der Patient betrachtet die Szene nicht mehr mit den Augen des Kindes, sondern mit denen des Erwachsenen. Das Ziel: Das heutige Ich soll den Täter zur Verantwortung ziehen und außer Gefecht setzen.
Der betrunkene Stiefvater
Wie schwer das den Betroffenen fallen kann, beschreiben Schmucker und der Psychiater Rolf Köster in einem Praxishandbuch in der Fallgeschichte „Marianne“. Die 45-Jährige fühlt sich ihrem brutalen, prügelnden Stiefvater auch als Erwachsene noch immer hilflos ausgesetzt. Selbst 14 Jahre nach seinem Tod quält sie weiterhin die Vorstellung, dass er noch irgendwo lebt, geheim und unter einem anderen Namen, und sie jederzeit wieder misshandeln könnte.
In den Sitzungen bittet sie der Therapeut, sich eine traumatische Szene aus ihrer Kindheit vorzustellen. Es ist ein furchtbares Bild, das sie noch immer in Flashbacks verfolgt: wie der betrunkene Stiefvater sie als Kind die Kellertreppe hinunterstößt und sie dann mit seinen Stiefeln ins Gesicht und in den Bauch tritt. Ihr Therapeut hält sie an, sich – so schwer es auch fällt – an alle Details dieser Szene zu erinnern und nun in der Vorstellung als ihr „heutiges Ich“ hinzuzutreten. Marianne will dem Kind helfen, doch die Angst von damals ist noch immer zu groß. Auch als Erwachsene fühlt sich Marianne unfähig, sich gegen den Täter zu wehren.
Der Therapeut schlägt ihr vor, sich ein Hilfsmittel zu suchen, vielleicht braucht sie sogar eine Waffe, um den Täter zu vertreiben? Doch das lehnt Marianne ab: Der Täter könnte damit sie umbringen. Erst als sie vor ihrem inneren Auge fünf Polizisten in den Keller kommen lässt, können diese den Stiefvater überwältigen und abführen. Der ganze Vorgang findet nur in der Fantasie der Patientin statt. Und trotzdem verlieren damit die alten Erinnerungen an Gewicht. Erst jetzt ist es Marianne möglich zu glauben, dass ihr Peiniger von damals wirklich tot ist.
Eine neue Wendung
Eine Aufforderung an die Patientin, sich zu bewaffnen – könnte das nicht auch gefährlich werden? Schmucker wiegelt ab. Denn imagery rescripting bedeutet nicht, in der Gegenwart einen Racheplan zu entwickeln. Vielmehr kehrt der Therapeut mit seiner Patientin in die Vergangenheit zurück, um im Nachhinein dem bereits Geschehenen eine neue Wendung zu geben. In der Vorstellung soll das Opfer statt Hilflosigkeit einmal erleben, stärker als der damalige Täter zu sein, zur Not auch, indem es ihn mit einer Waffe bedroht.
„Wer als Kind immer wieder Gewalt erfahren hat, leidet oft auch als Erwachsener an dem Gefühl, hilflos zu sein und niemandem etwas entgegensetzen zu können. Es gibt Menschen, die die Erfahrung gar nicht kennen, wie es sich anfühlt, in einer Beziehung geachtet zu werden und sich im Streit auch mal verteidigen zu können“, erklärt Thomas Ehring.
Fantasierte Erfahrungen seien zwar nicht dasselbe wie Erfahrungen im echten Leben, hätten aber auch einen starken Effekt, so Ehring. Vor allem wenn sie nicht einmal, sondern immer wieder in mehreren Therapiesitzungen gemacht würden. „Was damals passiert ist, das war so und das bleibt auch so, das ist Teil der Biografie. Aber es strahlt nicht mehr so auf das heutige Leben aus“, beschreibt Ehring die Wirkung.
Erwachsenes Ich, verletztes Kind
Doch noch wichtiger als das machtvolle Auftreten gegen den einstigen Täter ist die Begegnung mit dem verletzten „damaligen Ich“. Denn in einer dritten Phase dieser Therapiemethode stellt sich der Patient schließlich vor, dass er sich als erwachsenes Ich um sich selbst als Kind kümmert: Er kann in der damaligen Situation zu dem Kind hingehen, es trösten, mit ihm sprechen, ihm erklären, dass es keine Schuld hat, und das Kind an einen sicheren Ort bringen. Damit wendet sich der Patient zugleich einem Teil seiner Persönlichkeit zu, den er bis heute in sich trägt: das verletzte, verstörte Kind.
Auch Marianne macht während der Therapie diese symbolhafte innere Begegnung mit diesem Kind, das noch in ihr steckt. Das kleine Kind lässt sich zunächst nicht von ihr trösten, sondern versteckt sich in einem Schrank. Ihrem Therapeuten gesteht Marianne, dass sie dieses missbrauchte, schreiende Kind hasst. Erst nach mehreren Therapiesitzungen gelingt eine langsame Annäherung, bis sich das Kind schließlich von Marianne in den Arm nehmen lässt. Dieses intensive Erlebnis in der Vorstellung hat eine starke Wirkung: Es hilft ihr, langsam ihren Selbsthass abzubauen.
Traumbilder aus der Seelentiefe
Die Idee, die Vorstellungskraft für die Behandlung von psychischen Erkrankungen einzusetzen, ist fast so alt wie die Psychotherapie selbst. Der Schweizer Psychiater C.G. Jung arbeitete bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit „aktiver Imagination“ und nutzte innere Bilder, um eine Verbindung vom Bewussten zum Unbewussten zu schaffen.
Vor allem in den Fallbeschreibungen des französischen Psychiaters Pierre Janet, die schon Ende des 19. Jahrhunderts entstanden, finden sich Behandlungen, die verblüffende Ähnlichkeiten zum systematischen imagery rescripting haben. Eine seiner Methoden, traumatische Erinnerungen zu überwinden, bezeichnete Janet als „Substitution“ – das Ersetzen durch neutrale oder sogar positive Bilder.
Die Rolle der Vorstellung
In den 1950er Jahren entwickelte der Psychotherapeut Hanscarl Leuner, die katathym-imaginative Psychotherapie. Patienten sollen dabei Tagtraumbilder wie etwa eine Wiese, einen Fluss, einen Berg oder ein Haus vor dem inneren Auge entstehen lassen. Diese Bilder können symbolisch den seelischen Zustand, mögliche Beziehungskonflikte, aber auch Ressourcen des Patienten darstellen und ihm Heilungsmöglichkeiten aufzeigen.
Die kognitive Verhaltenstherapie ließ dagegen Fantasie und Vorstellungen lange außer Acht. Doch gerade bei Traumata gerät sie damit an Grenzen: Der Patient kann mit dem Verstand folgen, aber sein belastendes Gefühl bleibt das gleiche. Anders beim imagery rescripting: „Eine intensive bildliche Vorstellung hat sehr ähnliche Effekte auf die Gefühle wie eine tatsächliche Erfahrung“, erklärt Thomas Ehring und gibt ein Beispiel: „Wenn jemand, der Angst vor Spinnen hat, sich intensiv vorstellt, dass eine Spinne ihm am Körper hochläuft, dann löst das ähnliche Angst oder Ekelgefühle aus, als würde es wirklich geschehen.“
Eine neue Erinnerung – fast
Bildgebungsverfahren zeigen, dass bildliche Vorstellungen teilweise in den gleichen Gehirnarealen verarbeitet werden wie echte sensorische Wahrnehmungen, nämlich vor allem im visuellen Kortex. Tatsächlich scheint das Gehirn manchmal kaum einen Unterschied zwischen Wahrnehmung und Vorstellung zu machen.
Der norwegische Psychologe Bruno Laeng forderte Versuchsteilnehmer auf, sich einen sonnigen Tag oder einen dunklen Raum vorzustellen. Dabei blickten sie auf eine neutrale graue Wand, in ihrem Sichtfeld gab es keine Veränderung. Laeng stellte jedoch fest, dass sich die Pupillen der Probanden vergrößerten, wenn es vor ihrem inneren Auge dunkel war, und sich genauso verkleinerten, wenn es in ihrer Vorstellung heller wurde.
Vorgestellte Bilder werden offenbar nicht nur ähnlich verarbeitet wie die Bilder aus der realen Welt, sondern auch ähnlich in unserem Gedächtnis abgespeichert. Die Hirnforschung geht schon seit längerem davon aus, dass das episodische Gedächtnis, das unsere autobiografischen Informationen speichert, nicht in Stein gemeißelt ist. Der Psychologe Daniel Schacter von der Harvard-Universität bezeichnet Erinnerung als einen „adaptiv-konstruktiven Prozess“: Jedes Mal, wenn wir uns erinnern, werden unsere Erinnerungen neu kombiniert, und ihr Gefüge verändert sich.
Risiko: falsche Erinnerungen
Auf Dauer präsent bleibt vor allem, was mit intensiven Gefühlen verbunden ist – ein Zusammenhang, der in der Gedächtnisforschung schon lange bekannt ist. Aus der therapeutischen Praxis berichten Schmucker und Köster, dass die Erfahrungen auf der „inneren Bühne“ mitunter so starke Gefühle bei den Patienten auslösen, dass der Therapeut sie daran erinnern muss, dass sich das alles nur in ihrer Vorstellung abspielt.
Durch diese emotionale Intensität können die neuen – positiven – Bewältigungsbilder sogar stärker werden als die alten Opferbilder: „Dann sind das die Bilder, die den Betroffenen durch den Kopf gehen, wenn sie an die schlimmen Ereignisse in der Vergangenheit denken“, sagt Schmucker. Eine Verwechslungsgefahr besteht dabei nicht: Die Patienten wissen, dass die neuen Bilder nicht der Realität entsprechen. Es sind neue Erlebnisse in der Vorstellung, keine neuen Erinnerungen.
Allerdings: Wie bei jeder Therapie, die mit Erinnerungen arbeitet, besteht auch beim imagery rescripting ein mögliches Risiko, dass der Patient im Laufe der Behandlung falsche Erinnerungen entwickelt. Vor allem bei Patienten mit Erinnerungslücken, die der Therapeut versucht, durch – möglicherweise auch suggestive – Fragen zu schließen, ist Vorsicht geboten. Sonst steht plötzlich etwa ein Missbrauch in der Kindheit im Raum, der tatsächlich nie stattgefunden hat. Wie leicht falsche Erinnerungen erzeugt werden können, ist unter anderem durch die Arbeiten der Psychologin Elizabeth Loftus gut belegt.
Das Messer bleibt unbenutzt
Inzwischen wird imagery rescripting an rund 30 Kliniken in Deutschland angewandt. Außerdem behandeln ein paar tausend niedergelassene Psychotherapeuten im deutschsprachigen Raum ihre Patienten mit der Methode, schätzt Schmucker. In einer vielzitierten Überblicksarbeit verglichen der Psychologe Nexhmedin Morina von der Universität Münster und seine Kollegen 19 Studien zur Wirksamkeit. Ergebnis: Das Verfahren scheint schon nach wenigen Sitzungen einen starken Effekt zu haben.
Und was wird am Ende aus Siri Hustvedts Romanheldin und ihrem Springmesser? Das Messer liegt immer noch versteckt hinter den Büchern im Regal, sein martialischer Einsatz bleibt eine Idee. Doch diese Idee hilft der jungen Frau, innerlich zu wachsen. Sie entdeckt ihre Wut, lange unterdrückt, die seit ihrer Kindheit mit jedem Mal zugenommen hat, wenn sie erlebt hat, wie eine Frau erniedrigt oder sogar misshandelt wurde. Ohne Messer, doch mental bewaffnet, beginnt sie sich zu wehren, etwa gegen einen überheblichen Philosophieprofessor, der die junge Studentin nicht ernst nimmt. Am Ende ist sie stärker als je zuvor.
Flashforwards
Traumatisierte Menschen werden oft von „Flashbacks“ heimgesucht, von Sinneseindrücken und Szenen eines verstörenden Erlebnisses aus der Vergangenheit. Aber auch „Flashforwards“ können quälend sein, so Emily Holmes von der Universität Oxford. In einer Pilotstudie mit suizidgefährdeten Patienten stellte sie fest, dass alle 15 Teilnehmer von lebhaften Bildern einer imaginierten Selbsttötung berichteten, die sie in Momenten großer Verzweiflung gegen ihren Willen heimsuchten. Ein Mann stellte sich etwa immer wieder vor, wie er von einer bestimmten Klippe in den Abgrund sprang.
Solche Vorstellungsbilder sind keineswegs harmlos. Studien haben gezeigt, dass Aktionen, die man sich bildlich vorgestellt hat, mit höherer Wahrscheinlichkeit auch ausgeführt werden.
Doch Flashforwards lassen sich auch zu guten Zwecken nutzen, etwa indem man sich gezielt und lebhaft in der Ich-Perspektive Szenen bevorstehender Ereignisse in einem rosigen Licht vorstellt. Zum Beispiel wie man entspannt und konzentriert in der Prüfung sitzt. Oder wie man eine Arbeit mit lauter positiven Kommentaren zurückerhält. Bei Teilnehmern, die das eine Woche lang täglich übten, verringerten sich depressive Symptome.
Emily A. Holmes u.a.: “They flash upon that inward eye”. The Psychologist, 24/5, 2011, 340–343
Literatur
Arnoud Arntz: Imagery Rescripting for Personality Disorders. Cognitive and Behavioral Practice. 18, 2011. 466-481
Siri Hustvedt: Damals. Rowohlt, 2019
Bruno Laeng & Unni Sulutvedt: The Eye Pupil Adjusts to Imaginary Light. Psychological Science, 25/1, 2014. 188–197
Nexhmedin Morina, Jaap Lancee und Arnoud Arntz: Imagery rescripting as a clinical intervention for aversive memories: A meta-analysis. Journal of Behavior Therapy and Experimental Psychiatry 55, 2017, 6–15
Sandra Raabe, Thomas Ehring, Loes Marquenie, Miranda Olff & Merel Kindt: Imagery rescripting as a stand-alone treatment for posttraumatic stress disorder related to childhood abuse. Journal of Behavior Therapy and Experimental Psychiatry, 48, 2015, 170–176
Daniel Schacter: Adaptive Constructive Processes and the Future of Memory. The American psychologist. 67, 2012, 603–13
Mervyn Schmucker, Rolf Köster: Praxishandbuch IRRT: Imagery Rescripting & Reprocessing Therapy bei Traumafolgestörungen, Angst, Depression und Trauer. Klett-Cotta, 2019 (4. Auflage)