Es kann alles auch ganz anders sein

Wir verwandeln unsere Erfahrungen in Geschichten, die wir erzählen. Doch diese können zu einem Gefängnis werden. Können wir uns daraus befreien?

Als „systemisch“ wird ein therapeutischer Ansatz bezeichnet, der sich ab Mitte des vorigen Jahrhunderts zunächst als „Familientherapie“ etablierte, dann aber zunehmend unabhängig vom Familiensetting spezifische Konzepte und Methoden entwickelte. Eine wesentliche Rolle spielen bei diesem Ansatz die Kommunikation und die von den Klienten erzählten Geschichten. In der systemischen Beratung werden Menschen darin unterstützt, zu den von ihnen selbst erzählten Geschichten „selbstreferente“ Positionen einzunehmen.…

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darin unterstützt, zu den von ihnen selbst erzählten Geschichten „selbstreferente“ Positionen einzunehmen. Das bedeutet, dass jemand sozusagen der eigene Beobachter werden kann und so über mehr Wahlmöglichkeiten verfügt, indem er ein Bewusstsein dafür entwickelt, für die Art und den Inhalt seiner Storys selbst verantwortlich zu sein.

Im Beratungsprozess geht es daher immer wieder um die Frage, wie ein Mensch seine Geschichten anders, neu sehen kann, denn häufig sind sie im Laufe der Zeit zu einem Gefängnis geworden: Es passiert „immer dasselbe“, der andere (Kollege Mitarbeiter, Partner oder wer auch immer) ist „so“ und nicht anders. „Menschen sind unverbesserliche und geschickte Geschichtenerzähler – und sie haben die Angewohnheit, zu den Geschichten zu werden, die sie erzählen. Durch die Wiederholung verfestigen sich die Geschichten zu Wirklichkeiten, und manchmal halten sie die Geschichtenerzähler innerhalb der Grenzen gefangen, die sie selbst erzeugen halfen“, schreiben die Psychologen Jay S. Efran, Michael D. Lukens und Robert J. Lukens.

Es geht nicht darum, auf Biegen und Brechen positive Beschreibungen zu finden

Um die Tore dieses Gefängnisses öffnen zu helfen, hat die systemische Psychotherapie verschiedene Techniken entwickelt, darunter vor allem das sogenannte Reframing, die Umdeutung von Ereignissen und Situationen. Dabei geht es nicht darum, auf Biegen und Brechen positive Beschreibungen zu finden. Vielmehr geht es um die Bereitschaft, Inhalte und Beschreibungen immer wieder zu hinterfragen, immer wieder in einem anderen Licht wahrzunehmen. Denn die Art, wie wir über ein Problem sprechen, bestimmt die Qualität eines Problems, ja ob es überhaupt ein Problem ist oder nicht. Wenn der Sinngehalt der wahrgenommenen Realität von der eingenommenen Perspektive abhängt, dann kann man einem Geschehen dadurch einen anderen Sinn geben, dass es in einen anderen Rahmen gestellt wird.

Im Reframing löst man sich aus der Faszination am Defizit, richtet den Blick auf Chancen und Möglichkeiten und ­versucht, einen prägnanten Unterschied zu der bisherigen Wirklichkeitssicht ­herzustellen. Die wichtigste Funktion ­eines Reframings ist die „Verstörung“ der ­bisherigen Sicht der Dinge. Wenn alles auch anders sein könnte, ist schon viel ­dafür getan, dass die Dinge nicht mehr so festgefahren und rigide erlebt werden wie bisher.

Der Philosoph und Kybernetiker Gregory Bateson hat darauf hingewiesen, dass die Bedeutung einer Information von sogenannten „Kontextmarkierungen“ ­abhängt, von Kennzeichen, die zeigen, wie ein Ereignis zu verstehen ist. Eine Kontextmarkierung ist also ein Weg, über den Lebewesen den sozialen Sinn ihrer Kommunikation herstellen: Eine Aussage wie „Jetzt mache ich dich fertig!“ gewinnt ihre Bedeutung aus dem Kontext, in dem sie steht – in einer düsteren Hafenkneipe von einem angetrunkenen Wüterich mit der entsprechenden Betonung gesagt, bedeutet die Aussage etwas ganz anderes als lachend beim Schachspiel. Dieser soziale Sinn, der Rahmen (frame) bestimmt, wie eine Äußerung zu verstehen ist. Ein veränderter Rahmen kann die komplette Bedeutung einer Kommunikation verändern. Es lassen sich drei verschiedene Formen von Reframing unterscheiden:

Das Bedeutungsreframing verleiht einem Problem einen anderen Sinn. Ein Beispiel aus einem Therapiegespräch: Ein Vater klagt über seine beiden Töchter. „Ich finde es unerträglich, sie haben ständig Streit! Sie knallen die Türen, und wie die miteinander reden, furchtbar!“ – „Wie war das bei Ihnen zu Hause?“ – „Oh, da gab es das nicht. Mein Vater war so streng, er hat uns hart geschlagen, mein Bruder und ich mussten uns verbünden und fest zusammenstehen! Darum finde ich das ja auch so schlimm, dass die beiden so anders sind.“ – „Sie waren damals also eine Art Notgemeinschaft. Sind Sie denn auch so streng?“ – „Nein, ich weiß, wie es ist, geschlagen zu werden, und darum habe ich mir geschworen, meine Kinder nie zu schlagen, und das habe ich auch geschafft.“ – „Dann könnte man ja fast sagen, dass es ein Kompliment ist, wenn Ihre Töchter sich ständig streiten. Sie ­zeigen, dass sie jedenfalls keine Notgemeinschaft bilden müssen, sondern dass sie in Ruhe lernen können, wie man ­harte Auseinandersetzungen führt.“ Der Gesichtsausdruck des Vaters kippt um in Verblüffung: „So habe ich das noch nie gesehen – ja, stimmt, es ist ein Kompliment an mich, ein Kompliment!“

Das Kontextreframing. Hier kann man fragen, welcher Kontext denkbar wäre, in dem das Problem sinnvoll wäre, ja vielleicht sogar die beste Lösung darstellen würde. Ein Beispiel: Ein junger Mann setzte sich mit seiner Aggressivität auseinander, nachdem er mehrfach auf der Arbeit verwarnt worden war. Er kämpfte darum, diese abgelehnte Seite, er nannte sie seine „Wut“, in den Griff zu bekommen und „gewaltloser“ zu werden, wie er selbst sagte. Eines Tages kam er aufgeregt zum Gespräch: Es hatte in der U-Bahn eine kritische Situation gegeben, er war von drei „Typen“ bedrängt worden. „Plötzlich habe ich mich an meine Wut erinnert und die Angreifer voll angeblafft. Da waren sie ruhig!“ Er hatte ein Kontextreframing für sich gefunden, und die Erfahrung, mit seiner Wut ein Werkzeug zu haben, das ihm in bedrohlichen Lagen zur Verfügung stehen würde, versöhnte ihn mit dieser Seite von sich.

Das Inhaltsreframing versucht, das Problem und die dahinterliegende „gute Absicht“ zu trennen. Im Gegensatz zu den beiden anderen Formen bleibt hier die negative Sichtweise des Problems bestehen. Auch hierzu ein Beispiel: Ein Paar kam in die Therapie, weil sich die beiden so viel stritten. Im Gespräch wurde schnell deutlich, dass beide den Anspruch hatten, jederzeit füreinander da zu sein, wenn der andere es wünschte. Ihre Erfahrungen in ihren Herkunftsfamilien machten es beiden schwer, sich abzugrenzen. Mit dem Streit, so bot ihnen die Therapeutin als Erklärung an, hätten sie offensichtlich eine Form gefunden, mit der es ihnen gelinge, in Abstand zueinander zu kommen (bis hier ist es wieder ein Bedeutungsreframing). Aber der Preis dafür sei recht hoch, sie zahlten dafür mit negativen Gefühlen und mit der Beeinträchtigung der Beziehungsqualität. So wurde mit beiden überlegt, wie es wäre, wenn sie in der Paarberatung gemeinsam nach Wegen suchten, das Ziel, ein wenig „Pause“ und Abstand voneinander zu gewinnen, weniger schmerzlich zu erreichen.

Prof. Dr. Arist von Schlippe, Diplompsychologe, hat den Lehrstuhl für Führung und Dynamik von Familienunternehmen an der Wirtschaftsfakultät der Universität Witten/Herdecke inne. Er ist lehrender Supervisor und Lehrtherapeut für systemische Therapie (SG, Berlin).

Prof. Dr. Jochen Schweitzer, Diplompsychologe, leitet die Sektion Medizinische Organisationspsychologie im Institut für Medizinische Psychologie am Zentrum für Psychosoziale Medizin der Universität Heidelberg. Er ist lehrender Supervisor und Lehrtherapeut für systemische Therapie am Helm-Stierlin-Institut.

Dieser Artikel ist ein bearbeiteter Textauszug aus dem Buch Systemische Interventionen, das Arist von Schlippe und Jochen Schweitzer in der Reihe UTB-Profile im Verlag Vandenhoeck & Ruprecht veröffentlicht haben. Wir danken Autoren und Verlag für die Abdruckgenehmigung.

Das „Reframen“ üben

Am Beispiel von konkreten „Klagen“ können die verschiedenen Formen des Reframings verdeutlicht werden. Wichtig ist: Es gibt bei den folgenden Beispielen keine „richtigen“ Lösungen. „Richtig“ und „falsch“ ergeben sich immer aus dem konkreten Kontext. Ein Reframing kann in der einen Situation richtig sein, weil es gut passt und zu einer Änderung der Sichtweise anregt, und in der anderen falsch, weil es vielleicht verärgert oder einfach nicht verfängt. Einige der Antworten würde man vermutlich nur geben, wenn man sehr viel mehr über den Kontext der Klage wüsste.

Beispiel 1

Klage: „Ich kann mich nicht konzentrieren!“

Bedeutungsreframing: „Sie scheinen ein sehr vielseitiger Mensch zu sein, der offen ist für viele Dinge.“

Kontextreframing: „Sie sind sehr offen für Neues – wenn irgendetwas Ungewöhnliches passieren würde, würden Sie sofort darauf reagieren.“

Inhaltsreframing: „Verstehe, es wird Ihnen nie langweilig. Aber der Preis ist, dass Sie schlechter lernen. Wie könnten Sie auf andere Weise für Abwechslung sorgen, wenn Sie lernen – wie wäre es zum Beispiel mit lauter Musik?“

Beispiel 2

Klage: „Mein Mitarbeiter hat schon wieder totalen Streit mit den Kollegen!“

Bedeutungsreframing:

„Er scheint jemand zu sein, der sehr viel Sinn für klare Grenzen hat und dafür auch sorgen kann!“

Kontextreframing: „Wenn Sie eine klare und eindeutige Aussage bekommen wollten, wüssten Sie bei ihm auf ­jeden Fall, wo er steht!“

Inhaltsreframing: „Das klingt so, als wünschten Sie sich wirklich andere und leichtere Wege von ihm, wie er anderen zeigt, dass er nicht alles mit sich machen lässt.“

Beispiel 3

Klage: „Wir haben schon seit drei Jahren nicht mehr ­zusammen geschlafen!“

Bedeutungsreframing: „Wenn Sie das so sagen, stelle ich mir vor, dass Sie zum einen sehr rücksichtsvoll miteinander umgehen, und zum anderen glaube ich, dass Sie sich sehr lieben müssen, weil Sie noch zusammen sind.“

Kontextreframing: „Vielleicht haben Sie da einen guten Weg gefunden, nie mit Themen wie Zurückweisung und Kränkung konfrontiert zu werden.“

Inhaltsreframing: „Sie haben ein Feld ausgeklammert, wo viele Paare heftig streiten. Aber der Preis für die Ruhe in der Beziehung ist recht hoch, nicht wahr? Wäre es eine gute Idee, darüber zu sprechen, wie Sie das Ziel einer harmonischen Beziehung auch anders erreichen können?“

Beispiel 4

Klage: „Ich muss dauernd die Fehler meiner Kollegin ­ausbügeln!“

Bedeutungsreframing: „So können Sie auf jeden Fall deutlich zeigen, wie fehlerfrei Sie selbst arbeiten!“

Kontextreframing: „Bei der nächsten Rationalisierungswelle ist Ihr Arbeitsplatz wahrscheinlich erheblich sicherer als der dieser Kollegin!“

Inhaltsreframing: „Ich stelle mir vor, dass Sie sich dieser Kollegin sehr verbunden fühlen, dass Sie sich so für sie einsetzen! Wäre es eine Idee, nach einfacheren Wegen zu suchen, ihr dies zu zeigen?“

Beispiel 5

Klage: „Meine Chefin ist einfach kleinlich!“

Bedeutungsreframing: „Ja, Sie haben da eine Vorgesetzte, bei der Sie sicher sein können, dass Ihnen kein Fehler unterläuft!“ – Oder: „Vielleicht hat sie ja einen Weg gefunden, dass sich die Teammitglieder auf jeden Fall untereinander solidarisieren.“

Kontextreframing: „Wenn es einmal um eine Steuerprüfung geht, brauchen Sie in Ihrem Betrieb jedenfalls keine Angst zu haben.“

Inhaltsreframing: „Sie will wohl ihr Team zur Perfektion bringen. – Vielleicht gibt es noch andere Wege, das zu tun?“

Arist von Schlippe, Jochen Schweitzer

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 11/2016: Sieh's doch mal so!