Als sich abzeichnete, dass die Präsidentschaftswahl verloren war, ließ sie ihren Auftritt auf der Party der Demokraten absagen: Hillary Clinton hatte am 8. November 2016 keine Kraft mehr, vor ihre Anhänger und Mitstreiter zu treten. Die Schmach der Niederlage war wohl zu groß, und vermutlich fürchtete die Politikerin, die Kontrolle über ihre Gefühle zu verlieren und sich schwach zu zeigen. Erst eine Woche später gewährte Clinton einen Einblick in ihr Seelenleben, als sie in einer Rede zugab, wie schwer sie…
Sie wollen den ganzen Artikel downloaden? Mit der PH+-Flatrate haben Sie unbegrenzten Zugriff auf über 2.000 Artikel. Jetzt bestellen
Seelenleben, als sie in einer Rede zugab, wie schwer sie die Niederlage getroffen hatte: „Es gab Momente in der vergangenen Woche, da wollte ich mich mit einem guten Buch oder unseren Hunden verkriechen und gar nicht mehr aus dem Haus gehen.“
Es gibt wohl niemanden, der dafür kein Verständnis hätte. Auch wenn eine verlorene Präsidentschaftswahl unvergleichbar ist, kennt wohl jeder den Wunsch, nach einer schmerzhaften Niederlage oder einem fatalen Fehler im Boden versinken und unsichtbar werden zu können. „Scham ist so schmerzhaft, dass wir uns instinktiv davor schützen. In einen Überlebensmodus schalten, uns Masken zulegen und eine Rüstung. Wir wollen nicht verletzt werden und uns nicht verletzlich fühlen“, erklärt Brené Brown, Schamforscherin und Professorin am Graduate College of Social Work in Houston, Texas. „Verletzlichkeit wird gleichgesetzt mit Unsicherheit und emotionaler Zurschaustellung.“
Wenn wir scheitern, Fehler machen oder uns ein Missgeschick passiert, kurz: wenn wir das Gefühl haben, nicht gut genug zu sein, „liegt die Scham immer auf der Lauer“, so Brown. Auslöser sind dabei keineswegs nur die großen Niederlagen à la Clinton. Oftmals führt schon eine kritische Bemerkung der Freundin, ein Augenrollen des Vorgesetzten, ein nicht eingehaltener Termin oder eine nicht perfekt gelungene Arbeit zu dem Gefühl: „Ich bin nicht gut genug.“ In vielen Fällen sind die Auslöser so beiläufig, dass die Beschämung nur schwer ins Bewusstsein dringt, wie der Sozialwissenschaftler Stephan Marks an einem alltäglichen Beispiel verdeutlicht: „Vielleicht fühlen wir uns zunächst nach einem Gespräch mit einem Kollegen nur niedergeschlagen, und es dämmert uns erst in den Stunden danach, dass hinter seiner freundlichen Maske entwertende Äußerungen versteckt waren.“
Wie quälend Schamgefühle sein können, zeigen Aussagen von Menschen, die an Studien Brené Browns teilgenommen haben: „Es ist das Gefühl, einen Frosch im Hals und einen Knoten im Magen zu haben.“ „Ich habe schwitzende Hände und Herzrasen.“ „Es fühlt sich wie Angst an, immer wieder.“ „Es fühlt sich an, als wäre man im freien Fall.“ „Es ist, wie nackt zu sein, während alle anderen angezogen sind.“ Ohnehin kaum auszuhalten, werden diese Gefühle noch unerträglicher durch die Überzeugung, auf keinen Fall anderen zeigen zu dürfen, wie elend man sich fühlt. Scham isoliert. Wir glauben, wenn andere sehen, wie verletzlich wir sind, werden sie uns ablehnen. „Dieses Risiko wollen wir nicht eingehen“, sagt Brené Brown.
Schamgefühle sind nicht immer eine Reaktion auf eine bestimmte Situation oder auf eine konkrete Herabsetzung durch einen anderen Menschen. „Manchmal ist Scham die Konsequenz, wenn wir innerlich die alten Aufnahmen wieder abspielen, die in unserer Kindheit programmiert worden sind“, erklärt Brené Brown. Besonders gefährdet für Schamgefühle sind Menschen, die bereits in der frühen Kindheit beschämt worden sind.
Kinder sind mit etwa 18 Monaten zur Scham fähig. In diesem Alter entwickeln sie ein starkes „Eigenmachtgefühl“, erklärt der Psychotherapeut Peter Conzen, müssen aber gleichzeitig immer wieder erfahren, dass sie etwas noch nicht können, dass sie den Großen doch noch unterlegen sind. Werden sie dann von älteren Geschwistern oder Erwachsenen ausgelacht, „entsteht im kindlichen Selbst ein empfindlicher Bereich negativer Identität, den man fortan peinlich vor anderen verbergen möchte.“ Dieser frühe Kontakt mit der Scham erhöht die grundsätzliche Anfälligkeit für typische beschämende Gedanken wie „Ich bin nicht gut genug“, „Was habe ich mir nur dabei gedacht“, „Andere sind sehr viel klüger, erfolgreicher, attraktiver als ich“.
Doch auch unabhängig von einer möglichen frühen Disposition sind Schamgefühle heutzutage schnell zur Stelle, viel schneller als in früheren Zeiten. „Scham ist die heimliche Epidemie unserer Kultur“, schreibt Brené Brown. Das liegt zum einen daran, dass wir heute viel mehr Vergleichsmöglichkeiten haben als früher. Für die Generationen vor uns waren Familienmitglieder, die Nachbarn, die Freunde der Maßstab, an dem sie ihre eigenen Fähigkeiten und Erfolge messen konnten. Heute sind wir durch die Medien, das Internet, die sozialen Netzwerke mit unzähligen fremden Lebensentwürfen und -erfolgen im Hochglanzformat konfrontiert, neben denen unser Alltag ereignisarm, erfolglos, langweilig und unerfüllt aussieht (siehe auch Die Schönsten im ganzen Land, Seite 28). Wir erleben dann eine Diskrepanz zwischen dem „aktualen Selbst“ (Das bin ich) und dem „idealen Selbst“ (Das möchte ich sein), und diese Diskrepanz kann als ständiger Stachel im Fleisch erfahren werden.
Hinzu kommt noch ein weiterer Grund, warum wir heute anfälliger für Schamgefühle sind. Neben den eigenen hohen Erwartungen an uns selbst belasten uns auch die Erwartungen anderer. „Scham ist deshalb so bedeutsam für das Verständnis des Menschen, weil sie wesentlich sozial orientiert ist; ihr Auftreten ist damit verbunden, dass man sich dem unterstellten Urteil anderer aussetzt“, schreibt Daniel Tyradellis, Philosoph und Kurator, im Katalog zur Ausstellung Scham im Deutschen Hygiene-Museum Dresden, einer Ausstellung, für die „100 Gründe, rot zu werden“ zusammengetragen wurden. Darunter diese: anders sein, schlechte Figur abgeben, sich zum Affen machen, Ungenügen, Unvollkommenheit, Versagen, versagte Anerkennung (siehe auch Seite 91).
Je höher, je unrealistischer die Erwartungen an uns selbst sind, je abhängiger wir von dem Urteil und den Wünschen anderer sind, desto anfälliger sind wir für Schamgefühle. Sie bestimmen „unsere seelische Gestimmtheit mehr als Sex oder Aggression“, wie der amerikanische Psychologe und Schamforscher Michael Lewis feststellt. Wir schämen uns für unsere „Minderwertigkeit“, und wir schämen uns gleichzeitig dafür, dass wir uns schämen. Weshalb die meisten Menschen dieses Gefühl oftmals mit allen Mitteln bekämpfen: mit Alkohol, mit Essen, mit Medikamenten, mit Rechthaberei oder Schuldzuweisungen. Schamgefühle, schreibt der Psychoanalytiker Léon Wurmser in seinem Standardwerk zum Thema, „präsentieren sich in mancherlei Verkleidungen: versteckt unter einer Maske von Kälte und hochmütiger Distanz, ausgedrückt durch Selbsterniedrigung, überschrien durch lärmende Trotzhandlungen, Gehässigkeit und scheinbare Verachtung, oder durch allgemeine Gehemmtheit und Ängstlichkeit hindurchscheinend“.
Doch die Scham verschwindet nicht einfach deshalb, weil wir sie nicht wahrhaben wollen. „Stellen wir uns ihr nicht, schwärt sie im Inneren, wächst an und führt nicht nur zu einem Verhalten, das keineswegs im Einklang mit der Person steht, die wir sein wollen, sondern auch zu einer Denkhaltung, die unsere Beziehungen und unser Berufsleben sabotieren kann“, warnt Brown. „Wer den eigenen Schmerz nicht spüren darf, wird anderen Schmerz zufügen. Statt zu riskieren, sich enttäuscht zu fühlen, entscheiden sie sich dafür, enttäuscht zu leben“, so Browns Erkenntnis über Menschen, die ihre Scham verdrängen.
Unterdrückte Scham hat also unter Umständen verheerende Folgen: für denjenigen, der sich schämt, wie auch für die Menschen in seiner Umgebung. Dieser Gefahr kann man nur begegnen, so Brown, indem man sich zwei Fakten über die Scham klarmacht:
Scham ist universell. Jeder Mensch kennt genügend Anlässe, die ihm die Schamesröte ins Gesicht treiben. „Scham ist eine der ursprünglichsten menschlichen Emotionen, die wir erleben. Die einzigen Menschen, die sich nicht schämen, sind solche, denen es an der Fähigkeit zu Empathie und zu menschlicher Verbundenheit mangelt“, so Brown. Übrigens sind laut der Forscherin Frauen und Männer gleichermaßen von Scham betroffen. Die Geschlechter kennen zwar unterschiedliche Schamauslöser, doch das Gefühl erleben Männer wie Frauen auf gleiche Weise (siehe Kasten unten).
Verletzlichkeit ist keine Schwäche. Im Gegenteil: Sich zu seinen Fehlern und Unzulänglichkeiten zu bekennen ist eine Stärke. Nur wenn wir uns auch in unseren schwachen Momenten anderen zeigen, können wir Zusammengehörigkeit und Unterstützung erfahren. „Zu unserer Unvollkommenheit zu stehen ist der Weg zueinander. Die mächtigsten zwei Wörter sind: Ich auch“, sagt Brown (siehe Interview Seite 24). Wagen wir es, mit anderen über unsere Scham zu sprechen, beginnt sie zu schwinden“, so Brown. Eine Erfahrung, die auch der Therapeut Uri Weinblatt teilt: „Dem anderen Gefühle von Unterlegenheit, Versagen, Unattraktivität, Dummheit oder Minderwertigkeit anzuvertrauen schafft das Potenzial für erfolgreiche Schamregulierung. Wir können nicht aus unserer Scham ausbrechen, ohne uns selbst und anderen zu gestatten, zu sehen, wer wir sind.“
Hillary Clinton hat also vorbildlich gehandelt, als sie sich in ihrer ersten Rede nach der verlorenen Wahl in aller Öffentlichkeit zu ihren verletzten Gefühlen bekannte. Möglicherweise hätte sie den Mut dazu bereits in der Wahlnacht gefunden, hätte sie jemand an ein Zitat von Theodore Roosevelt, dem 26. Präsidenten der Vereinigten Staaten, erinnert. Es ist in vielen Veröffentlichungen der Sozialwissenschaftlerin Brené Brown zu finden, denn Roosevelts Worte machen allen Mut, die sich eines Versagens oder eines Misserfolges schämen:
„Es ist nicht der Kritiker, der zählt, nicht derjenige, der aufzeigt, wie der Starke gestolpert ist oder wo der, der Taten gesetzt hat, sie hätte besser machen können. Die Anerkennung gehört dem, der wirklich in der Arena ist; dessen Gesicht verschmiert von Staub und Schweiß und Blut; der sich tapfer bemüht; der irrt und wieder und wieder scheitert; der die große Begeisterung kennt, die große Hingabe und sich an einer würdigen Sache verausgabt der, im besten Fall am Ende den Triumph der großen Leistung erfährt; und der im schlechtesten Fall des Scheiterns zumindest dabei scheitert, dass er etwas Großes gewagt hat.“
Raus aus der Schamfalle!
Wenn Schamgefühle uns fest im Griff haben, empfiehlt Brené Brown diese drei Schritte:
Vertrauen Sie sich jemandem an!
Und zwar nicht irgendjemandem, sondern einem Menschen, der Ihr Vertrauen verdient hat, der Sie nicht nur liebt, wenn Sie stark sind. Wenn Sie jemanden ins Vertrauen ziehen, werden Sie erfahren: Sie sind nicht allein, da gibt es jemanden, der Sie unterstützt und versteht.
Sprechen Sie sich selbst Trost zu.
In schwierigen Zeiten sind die meisten Menschen sehr begabt darin, sich selbst zu entmutigen. Selbstherabsetzende Äußerungen wie „Ich bin einfach zu dumm“ oder katatrophisierendes Denken wie „Mir gelingt nie etwas“ sind kontraproduktiv. Was Sie jetzt brauchen, ist Selbstunterstützung: „Ich bin okay. Ich bin auch nur ein Mensch, alle machen Fehler. In einem Jahr denke ich nicht mehr daran.“
Zu dem stehen, was passiert ist.
„Scham gedeiht in der Geheimhaltung“, erklärt Brené Brown. Und Geheimnisse machen auf Dauer krank. Deshalb sollten Sie, wenn Sie sich für etwas schämen, die Geschichte Ihres Fehlers, Ihres Missgeschicks, Ihres Versagens nicht in Ihrem Herzen verschließen, sondern zum Thema machen. Wie der Psychologe James Pennebaker in seinen Studien zum „expressiven Schreiben“ belegen konnte, werden belastende Erlebnisse nicht nur besser bewältigt, wenn man mit anderen darüber spricht, sondern es hilft genauso, wenn man sie zu Papier bringt.
Die Scham der Frauen
„Ich empfinde Scham, wenn ich von anderen Müttern beurteilt werde.“
„Bloßgestellt zu werden. Die eigenen mangelhaften Anteile, die man verstecken will, werden offengelegt und für jedermann sichtbar.“
„Ganz gleich, was ich erreiche oder wie weit ich gekommen bin, meine Herkunft und meine Vergangenheit werden mich immer davon abhalten, mich als gut genug einzuschätzen.“
„Scham ist, wenn man es nicht hinbekommt, so zu tun, als hätte man alles unter Kontrolle.“
„Zu Hause nie gut genug zu sein, am Arbeitsplatz nie gut genug zu sein, im Bett nie gut genug zu sein: Scham ist, unzulänglich zu sein.“
Die Scham der Männer
„Scham empfindet man, wenn man versagt hat. Am Arbeitsplatz, auf dem Footballfeld. In der Ehe. Im Bett. Beim Geld. Gegenüber den Kindern. Es spielt keine Rolle – Scham ist Versagen.“
„Scham wird erzeugt durch das Gefühl, unrecht zu haben. Nicht dadurch, etwas falsch zu machen, sondern falsch zu sein.“
„Schwäche zu offenbaren ist beschämend.“
„Angst zu haben ist beschämend. Du darfst keine Angst haben – egal was passiert.“
„Scham lebt auf, wenn andere dich für zu weich halten.“
Aus: Brené Brown: Verletzlichkeit macht stark. Kailash, München 2013
Literatur
Peter Conzen: Hüterin und Zerstörerin menschlichen Selbstgefühls. In: Scham. 100 Gründe rot zu werden. Katalog zur Ausstellung im Deutschen Hygiene-Museum Dresden. Wallstein, Göttingen 2016
Brené Brown: Verletzlichkeit macht stark. Wie wir unsere Schutzmechanismen aufheben und innerlich reich werden. Kailash/Random House, München 2013
Brené Brown: Laufen lernt man nur durch Hinfallen. Kailash/Random House, München 2016
Stephan Marks: Scham. Die tabuisierte Emotion. Patmos, Ostfildern 2016 (6. Auflage)
Daniell Tyradellis: Verhältnismässig unverhältnismässig. In: Scham. 100 Gründe, rot zu werden. a.a.O.
Uri Weinblatt: Die Nähe ganz nah! Scham und Verletzungen in Beziehungen überwinden. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2016
Léon Wurmser: Die Maske der Scham. Die Psychoanalyse von Schamaffekten und Schamkonflikten. Klotz Verlag, Magdeburg 2013