Dass der Mensch in den letzten zwei Jahrhunderten, was seine statistisch errechenbare Lebensdauer betrifft, etliche Jahre dazugewonnen hat, ist eine unwiderlegbare Tatsache. Wir leben heute zwar länger als unsere Vorfahren, doch, aufs Ganze gesehen, erheblich kürzer. Ein widersprüchlicher Befund? Keineswegs, wie Arthur E. Imhof, Professor für Sozialgeschichte und Historische Demografie an der Freien Universität Berlin, ausführt. Früher – so Imhof – lebten die Menschen durchschnittlich 40 Erdenjahre plus x…
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Universität Berlin, ausführt. Früher – so Imhof – lebten die Menschen durchschnittlich 40 Erdenjahre plus x (x = ewige Himmelsjahre). Heute leben die Menschen mindestens so lange, wie es Psalm 90,10 sagt: „Unser Leben währt siebzig Jahre, und wenn es hochkommt, sind es achtzig.“
Den Blick ganz auf den Himmel, aufs Jenseits gerichtet – so haben die Menschen früher gelebt; den Blick ganz auf die Erde, aufs Diesseits gerichtet – so leben die Menschen heute. Es scheint – geschichtlich betrachtet – wieder einmal so zu sein, dass der Pendelausschlag beim gegenüberliegenden Extrempunkt angelangt ist. War lange Zeit überwiegend die Vertröstung aufs Jenseits gang und gäbe, ist es jetzt die Vertröstung aufs Diesseits.
Früher wussten die Menschen, wie sie auf die Katechismusfrage „Wozu sind wir auf Erden?“ zu antworten hatten: „Um in den Himmel zu kommen!“ Heute, wo sich der Himmel erledigt hat, wissen die Menschen die alte Katechismusfrage so zu beantworten: „Um aus dem Leben das herauszuholen, was herauszuholen ist!“ Dass die Leute heute so reden, ist durchaus „logisch“. Denn da kein Himmel (mehr) ist, ist dieses Leben auf der Erde die „letzte Gelegenheit“ (Marianne Gronemeyer), zu leben und etwas zu erleben.
Die Dinge des Lebens ohne die „letzten Dinge“ – geht die „Logik“ einer solchen Lebensrechnung auf? Oder einmal so gefragt: Was erwarten die Menschen vom Leben, wenn der Gedanke an ein weiteres Leben jenseits des Todes ein mehr und mehr schwindender beziehungsweise ein nach und nach bereits geschwundener Gedanke ist?
Sie erwarten von diesem auf sieben oder acht Jahrzehnte befristeten Leben eigentlich „alles“. Denn die Lebenszeit ist ja begrenzt, und was in diesen wenigen Jahrzehnten des Lebens nicht stattfindet, findet überhaupt nicht statt.
So gut es ist, dass endlich und endgültig die Vertröstung aufs Jenseits passé ist, so prekär ist es, wenn an deren Stelle jetzt die Vertröstung aufs Diesseits tritt. Tatsächlich sind die Menschen heute – der Philosoph Ludwig Feuerbach würde sich darüber freuen – aus „Kandidaten des Jenseits“ zu „Studenten des Diesseits“ geworden; freilich haben sie dafür einen Preis gezahlt, der doch einigermaßen hoch ist: Die eigene Sterblichkeit gerät aus dem Blick. Doch das Leben braucht, will es gelingen, den End- und Kontrapunkt des Todes. Denn fehlt der Tod, fehlt auch der (letzte) Ernst im Leben; fehlt der Tod, fehlt auch der (letzte) Garant dafür, dass Freiheit, statt in der Sphäre der Gleichgültigkeit zu schweben, Freiheit im Sinne des Willens zur Endgültigkeit ist; fehlt der Tod, fehlt auch die (letzte) Bedingung dafür, dass die Zeit nicht nur als Chrónos, sondern auch als Kairós in den Blick kommt; fehlt der Tod, fehlt letztlich – alles in allem – der Existenz der Fixpunkt, der die unbedingte Bedingung dafür ist, sich überhaupt auf die Lebensfrage die Lebensantwort geben zu können, wofür man denn leben will und wofür nicht, woran man sein Leben hingeben will und woran nicht.
Überhaupt kein billiger Gemeinplatz ist daher die These, die besagt: Das Leben braucht den Randdruck des Endes, das der Tod ist, denn sonst wäre da nur immer währende Gleichgültigkeit, immer währende Sinnlosigkeit und damit kein Gelingen über den Wegen des Lebens. Zu jenem Memento mori, das lautet: „Mensch, denk, dass du sterben musst!“, muss sich daher unbedingt dieses Memento mori gesellen: „Mensch, denk, dass du sterben kannst und darfst!“
Das Interesse an der Kunst des guten Sterbens ist stets das Interesse an der Frage, was uns Menschen dazu befähigt, einen Umgang mit unserem Tod zu haben, der guter Umgang ist. Jemand, dem es offenbar gegeben gewesen ist, einen guten Umgang mit seinem Tod zu haben, war Wolfgang Amadeus Mozart (1756–1791). Beleg genug dafür ist ein Brief, den der berühmte Komponist am 4. April 1787 in Wien seinem Vater Leopold Mozart schrieb. Zu lesen sind in diesem Brief auch diese Zeilen:
„Da der Tod (genau zu nehmen) der wahre Endzweck unsres Lebens ist, so habe ich mich seit ein paar Jahren mit diesem wahren, besten Freunde des Menschen so bekannt gemacht, dass sein Bild nicht alleine nichts Schreckendes mehr für mich hat, sondern recht viel Beruhigendes und Tröstendes! – Und ich danke meinem Gott, dass er mir das Glück gegönnt hat, mir die Gelegenheit (Sie verstehen mich) zu verschaffen, ihn als den Schlüssel zu unserer wahren Glückseligkeit kennen zu lernen. – Ich lege mich nie zu Bette, ohne zu bedenken, dass ich vielleicht (so jung als ich bin) den andern Tag nicht mehr sein werde. – Und es wird doch kein Mensch von allen, die mich kennen, sagen können, dass ich im Umgange mürrisch oder traurig wäre. – Und für diese Glückseligkeit danke ich alle Tage meinem Schöpfer und wünsche sie vom Herzen jedem meiner Mitmenschen.“
Wolfgang Amadeus Mozart war, als er diesen Brief schrieb, 31 Jahre alt und bereits in diesem Lebensalter ein glaubwürdiger Zeuge dafür, dass „Freundschaft“ mit dem Tod nicht „Feindschaft“ mit dem Leben bedeuten muss. Ganz im Gegenteil: Echte Lebensfreude klingt im Brief des Komponisten deutlich an. Für sich und sein Leben hatte der Komponist offensichtlich eine stimmige Weise gefunden, sein Leben mit dem Tod zu versöhnen, und das ging nicht auf Kosten des Lebens.
Es macht offensichtlich einen erheblichen Unterschied, ob jemand sein Leben so führt, als gäbe es den Tod nicht, oder ob jemand die Rechnung seines Lebens ganz bewusst nicht ohne die Tatsache seines eigenen Todes aufmacht. Denn es zeigt sich überraschenderweise, dass stets auch dem Leben etwas angetan wird, wenn so getan wird, als habe der Tod mit dem Leben nichts zu tun. Sooft jemand sein Leben ganz bewusst im Angesicht des Todes lebt, sooft ist das Gewinn für das Leben selbst. Der Gedanke des Menschen an seinen Tod ist – so besehen – nicht nur nicht überflüssig; er ist vielmehr von unschätzbarem Wert für das Gelingen des Lebens, denn die Kraft, die davon ausgeht, ist eine dem Leben Gestalt gebende Kraft.
Es sei wichtig, dass der Gedanke an unseren eigenen Tod kein ungedachter Gedanke ist und bleibt, sagt Psalm 90,12, wenn es da heißt: „Lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir ein weises Herz gewinnen!“ Welche Weisheit damit gemeint sein könnte, hat sich Peter Noll (1926–1982), Professor für Strafrecht an der Universität Zürich, selbst wohl etliche Male gefragt. Das Ergebnis seines fragenden Denkens beziehungsweise denkenden Fragens sind seine Diktate über Sterben & Tod – auf Tonband gesprochen in dem Wissen um seinen baldigen Tod. Unter dem Datum des 6. Februar 1982 heißt es da etwa:
„Du wirst gegenüber den zahllosen Möglichkeiten des Lebens selektiver sein und nicht einfach diejenigen akzeptieren, die konventionell zum Beispiel zur steileren Karriere führen, oder, wenn du schon ziemlich weit oben bist, nicht Amt auf Amt häufen, nur um überall dabei zu sein. Dies ist die vertane, verlorene Zeit, nicht diejenige, die jemand bei einer Frau verbringt oder in Gesprächen mit Freunden. Auf der anderen Seite wirst du weniger Aufgaben auf später verschieben, du wirst nicht ins System passen, nicht übereinstimmen mit dem, was von dir erwartet wird von denjenigen, die das System am Funktionieren erhalten. Zugleich wirst du fragen: Was habe ich vernachlässigt? Was sollte ich mehr pflegen? Was gäbe mehr Sinn? Welche Momente habe ich zu wenig genützt, welche sollte ich mehr nützen?“
Auch der „Wandsbecker Bote“ genannte Matthias Claudius (1740–1815) war unbeirrbar davon überzeugt, dass der Gedanke an den eigenen Tod kein furchtbarer Gedanke sein muss, jedoch ein fruchtbarer Gedanke sein kann. Er schrieb in seiner kleinen Exegese Über einige Sprüche des Prediger Salomo:
„Der Tod ist ’n eigener Mann. Er streift den Dingen dieser Welt ihre Regenbogenhaut ab und schließt das Auge zu Tränen und das Herz zur Nüchternheit auf! Man kann sich von ihm freilich auch verblüffen lassen und des Dinges zu viel tun, und gewöhnlich ist das der Fall, wenn man bis dahin zu wenig getan hat. Aber er ist ’n eigener Mann und ein guter Professor Moralium! Und es ist ein großer Gewinn, alles, was man tut, wie vor seinem Katheder und unter seinen Augen zu tun.“
Wie wir leben sollen, wenn wir gut leben wollen, war für den „Wandsbecker Boten“ keine Frage. Leben sollen wir so, dass wir bei den Dingen, die wir im Blick haben, stets auch „Blickkontakt“ mit dem Tod haben.
Dass da, wo dem Gedanken an den Tod Raum gegeben wird im Leben, dies keineswegs zum Schaden des Lebens erfolgt, ja dass es dem Leben selbst buchstäblich gut tut, wenn der Gedanke an den Tod uns zur guten Gewohnheit geworden ist, haben die „Meister“ der Kunst des Lebens und des Sterbens immer wieder betont. Tatsächlich gewinnt einzig das Leben, das den Tod bedenkt, Maßstäbe, die als endgültige Maßstäbe das Leben dann gewiss zu seinem Besseren formen. Denn der Gedanke an den Tod gibt den Blick frei für das, was in unserem Leben als einem Leben gezählter Tage wirklich zählen soll. Die regelmäßige Übung, die Dinge des Lebens nicht ohne den Blick auf den Tod zu sehen, sorgt definitiv dafür, dass manches ein anderes Gesicht und auch ein anderes Gewicht bekommt. Denn nicht nur vielleicht sind die Farben der Wirklichkeit, die sich im Licht des Todes zeigen, die wahren Farben der Wirklichkeit. Die wahre „Hierarchie“ der Dinge unseres Lebens wird dem geschenkt, der bereit ist, sein Leben im Licht des Todes zu leben.
Die Kunst des Lebens beherrscht demnach nicht der, der den Gedanken an den Tod ausblendet. Einzig der beherrscht sie, der den „Endpunkt“ des Lebens als „Bezugspunkt“ der Dinge des Lebens sich immer wieder gegenwärtig hält und damit, was die Rangfolge der Wertigkeiten unseres Tuns und Lassens betrifft, das Oberste auch wirklich nach oben holt und das Unterste auch wirklich nach unten kehrt.
Auch die Regel „Lebe, wie du, wenn du stirbst, / Wünschen wirst, gelebt zu haben“, wie sie der Dichter Christian Fürchtegott Gellert (1715–1769) in seinem Vom Tode betitelten Gedicht ausspricht, hat die Einheit der Kunst des Lebens und der Kunst des Sterbens zum Thema. Die Lebensweisheit, die diese Lebensregel in sich birgt, ist die, dass es sich durchaus empfiehlt, da, wo wir Entscheidungen zu treffen haben, bei denen es dann doch um entscheidende Dinge unseres Lebens geht, durchaus gelegentlich auch an unseren eigenen Tod zu denken. Denn einzig die Entscheidungen, mit denen man einmal auch gut sterben kann, sind letztlich Entscheidungen, mit denen man auch gut leben kann.
Jemand, der die da waltende „Dialektik“ in bestechender Klarheit gesehen hat, ist Ignatius von Loyola (1491–1556), der Gründer der Gesellschaft Jesu (Jesuiten), gewesen. Sein geistliches Vermächtnis, wie es uns in der Gestalt seiner Geistlichen Übungen überkommen ist, weiß in der Tat auch Beachtenswertes über die „Übung“ zu sagen, die jeweiligen Stunden wichtiger existenzieller Entscheidungen mit der Stunde des Todes zu verknüpfen. Die Nr. 186 seiner Geistlichen Übungen lautet denn auch so:
„Als wäre ich in der Todesstunde, bedenke ich die Form und das Maß, das ich hinsichtlich der jetzigen Wahl wünschte eingehalten zu haben; und danach richte ich mich und treffe im Ganzen meine Entscheidung.“
Ignatius von Loyola war sich bewusst: Entscheidungen, die eine gewisse existenzielle Tragweite haben, müssen, so „subjektiv“ sie auch sind, dennoch „objektiv“ gefällt werden, was besagen soll: Sie dürfen nicht aus dem Wechselhaften einer Stimmung heraus getroffen werden. Guter Rat, der dazu taugt, „objektive“ existenzielle Entscheidungen zu ermöglichen, ist gewiss teuer. Wer guten Rat in dieser Sache suche, sei – so Ignatius von Loyola – gut damit beraten, sich den Tod gewissermaßen als „objektiven“ Ratgeber zu nehmen, denn der Rat des Todes sei immer guter Lebensrat.
Es ist gewiss nicht auf das Konto des Zufalls zu buchen, dass in Geschichte und Gegenwart die „Meister“ der Kunst des Lebens und der Kunst des Sterbens stets die Einheit beider Künste bestätigt und bekräftigt haben. Wer darüber spekuliert, wird wieder und wieder zu dem Ergebnis gelangen, dass es tatsächlich wohl so etwas wie einen „Zirkel“ zwischen Lebenkönnen und Sterbenkönnen beziehungsweise zwischen Sterbenkönnen und Lebenkönnen geben muss, was dann letztlich heißt: Es kann keine wahre Kunst des Sterbens ohne Kunst des Lebens und keine wahre Kunst des Lebens ohne Kunst des Sterbens geben. Ein The Book of the Craft of Dying betiteltes englisches Werk zur „Art of Dying Well“ bringt diesen Zirkel so zur Sprache:
„Lerne zu sterben und du wirst lernen zu leben, denn niemand wird lernen zu leben, der nicht gelernt hat zu sterben.“
Die beiden Künste – die Kunst des Lebens und die Kunst des Sterbens – bilden eine unzertrennliche Einheit, sodass das, was für das Erlernen einer der beiden Künste spricht, stets auch etwas ist, was für das Erlernen beider Künste spricht.
„Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen“ – heißt es einmal in einem der Gedichte von Rainer Maria Rilke (1875–1926), und so verhält es sich wohl tatsächlich mit unserem Leben: Lebensring legt sich um Lebensring. Wissen wir Menschen auch nicht, wie viele Lebensringe unser Leben zählen wird, ehe es im Tod sein irdisches Ende findet, so wissen wir doch, dass es nicht unzählige Ringe sein werden. Um den letzten Ring des Lebens wird sich der Ring des Todes legen, und da ist kein Mensch, der diesen dunklen Bescheid nicht bei sich trägt.
Ein Rabbi sagte einmal zu seinen Schülern: „Tut Buße einen Tag vor eurem Tod!“ Darauf fragte ihn einer seiner Schüler: „Weiß denn der Mensch, an welchem Tag er sterben muss?“ Darauf antwortete der Rabbi: „Eben darum kehre er heute um, vielleicht muss er morgen sterben. So lebt er jeden Tag, als wäre es der letzte.“
Die Zeit, da es ans Sterben geht, ist nicht die Zeit der Einübung ins Sterben. Die eigentliche Lehrzeit der Kunst des Sterbens ist nicht die Stunde des Todes. Die eigentliche Lehrzeit der Kunst des Sterbens ist das Leben.
Bernhard Sill ist Professor für Moraltheologie und Sozialethik an der Fakultät „Religionspädagogik/Kirchliche Bildungsarbeit“ der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt. Publikationen u. a.: Die Kunst des Sterbens, Verlag Friedrich Pustet, Regensburg, 2001; Ethos und Thanatos – Zur Kunst des guten Sterbens bei Matthias Claudius, Leo Nikolajewitsch Tolstoi, Rainer Maria Rilke, Max Frisch und Simone de Beauvoir, F. Pustet, Regensburg 1999; Projekt Lebensmitte, F. Pustet, Regensburg 1999
Vor meinem eigenen Tod ist mir nicht bang, nur vor dem Tode derer, die mir nahe sind. Wie soll ich leben, wenn sie nicht mehr da sind? Allein im Nebel tast‘ ich tot entlang und lass’ mich willig in das Dunkel treiben.
Das Gehen schmerzt nicht halb so wie das Bleiben. Der weiß es wohl, dem Gleiches widerfuhr – und die es trugen, mögen mir vergeben. Bedenkt: Den eigenen Tod, den stirbt man nur, doch mit dem Tod der anderen muss man leben. Mascha Kaléko
Autorin: Gabriela Wischeropp
Zunehmend erinnern sich Trauernde an alte Bestattungsrituale und holen den Tod wieder mehr ins Leben
Der Tod ist eine Gefahr, er greift in unseren Lebensrhythmus ein, verändert ihn – zerstört unsere „heile Welt“, nimmt uns Menschen, die eine wichtige Rolle in unserem Leben spielten. Schmerz, Trauer, Angst, Verzweiflung, Wut, Einsamkeit und Hilflosigkeit ergreifen von uns Besitz. Gefühle, die wir immer versucht haben zu vermeiden. Um den Tod zu verleugnen, wenden wir große Energien auf und stehen oft völlig unvorbereitet vor dem unfassbaren Geschehen, wenn der Tod sich dann doch in unser Leben „geschlichen“ hat.
In dieser Notsituation ist als einer der Ersten das Bestattungsunternehmen da und nimmt den Toten in sein Gewahrsam. Der Leichnam wird abgeholt und bis zum Begräbnis kühl eingelagert. Der rationale Umgang beschäftigt erst einmal. Welcher Sarg, welche Urne ist am passendsten? Welches Leichenhemd soll der oder die Tote bekommen? Wie soll die Innenausstattung des Sarges aussehen? Die Vorschläge der Bestattungsangestellten werden meist ohne große Prüfung angenommen. Man will ja in so einer Situation nicht feilschen oder sich eventuell nachsagen lassen, man habe am Begräbnis gespart und sei pietätlos. Termine müssen koordiniert werden. Dieses oft rein mechanische Handeln halten viele für einen Glücksfall, denn es lässt wenig Raum für Besinnung und hilft, die Beerdigung mit Fassung zu tragen.
Früher war der Tod wie die Geburt ein natürliches Ereignis im Leben. Der Sterbende erlebte seine letzten Tage im Kreise der Familie, die Aufbahrung der Toten erfolgte zu Hause. Schon die Kinder wurden so mit dem Tod konfrontiert und lernten, mit ihm umzugehen. Rituale halfen, die emotionale Betroffenheit zu verarbeiten. Hatte der Sterbende seinen letzten Atemzug getan, so wurden ihm als erstes Augen und Mund geschlossen. Das Schließen der Augen sollte vor dem bösen Blick schützen. Das Schließen des Mundes beruhte auf dem Glauben, dass die Seele unmittelbar nach dem Sterben den Körper verlässt und bei offenem Mund die Gefahr bestünde, dass sie wieder in den Körper zurückkehren und der Tote als gefährlicher Untoter wieder zurückkommen könnte. Anschließend verkündete die Sterbeglocke den Tod, rief zum fürbittenden Gebet auf und bannte gleichzeitig dämonische Einflüsse. Für die Totenwache wurde der Leichnam von Angehörigen, Freunden oder Nachbarn gewaschen, hergerichtet, angekleidet und aufgebahrt. Man besuchte den Toten und betete für ihn. Das Sterbezimmer war ein öffentlicher Raum, in dem sich Familie, Freunde und Nachbarn versammelten, und schon vor dem Dahinscheiden hatten der Sterbende und die Angehörigen Gelegenheit, sich voneinander zu verabschieden. Laute Totenklage, eine Urform menschlichen Ausdrucks, war Sitte und hatte zudem eine reinigende Funktion, stille Trauer wurde als pietät- und gefühllos betrachtet. Es wurde geredet, gelärmt, sogar gespielt und getanzt. Bei der Begräbnisprozession trugen Freunde oder Nachbarn den Sarg. Der anschließende Leichenschmaus war Entgelt für die Gebete und festigte gleichzeitig den Zusammenhalt unter den Familienmitgliedern, Freunden und Nachbarn des Toten. Sterben war eine bewusste Zeremonie, sowohl für den Sterbenden als auch für die Hinterbliebenen, und das letzte und feierlichste Ereignis des Daseins. Der Sterbevorgang war ins Leben eingebunden, der Tod als Teil des Daseins vertraut und als natürliche Ordnung anerkannt. Das Trauern war eine Sache der Gemeinschaft. Gerade das Erleben der Trauer mit anderen war ein wichtiger Faktor. Angenommen zu werden, Trost zu finden und nicht „hinweggetröstet“ zu werden ist eine Qualität, deren Mangel wir mittlerweile nur allzu oft erleben.
Seit rund zwei Jahrhunderten werden das Sterben und der Tod immer mehr rationalisiert. Die Säkularisierung der Gesellschaft brachte es mit sich, dass in jedem Lebensbereich so technisch und effizient wie möglich vorgegangen wurde. Durch die schnell steigende Bevölkerungszahl und die Urbanisierung im 19. Jahrhundert wuchsen auch die hygienischen Probleme. Als Folge davon wurden die Toten immer mehr zu einem Entsorgungsproblem. Städtische Leichenhallen wurden gegründet, die die häusliche Aufbahrung ablösten, und die Friedhöfe wurden aus den Städten ausgelagert. 1878 entstand das erste Krematorium in Deutschland. Durch die Verbrennung der Leichen konnte noch rationeller und hygienischer gearbeitet werden. Im Lauf der Jahre wurde der Tod nicht mehr als Teil eines Ganzen, als Teil des Daseins betrachtet, sondern nur noch als ein Problem, das an andere Menschen delegiert werden konnte. Private Dienstleistungsbetriebe entstanden, die den Menschen ungeliebte Arbeiten abnahmen, und so wurden auch die ersten Bestattungsunternehmen gegründet. Der Totenkult wurde nicht mehr von der Gesellschaft, der Gemeinschaft getragen, sondern Experten überlassen. Dabei blieb der angemessene Umgang mit den Toten auf der Strecke. Die Begräbniskultur verselbständigte sich, die Hinterbliebenen gaben ihren Einfluss auf den Umgang mit den Toten immer mehr ab. Hinzu kam aufgrund des raschen Bevölkerungswachstums auch der Wunsch nach Ordnung und Reglement. Als fortschrittlich wurde die so genannte „Friedhofsreform“ in den 20er Jahren gepriesen. Diese Reform legte Größe und Aussehen der Gräber fest. Schließlich sollte der zur Verfügung stehende Platz bestmöglichst genutzt werden.
Gleichzeitig hatte die Aufklärung seit dem 17. Jahrhundert dafür gesorgt, dass die Welt immer mehr mit dem Verstand betrachtet wurde, der Rationalismus setzte sich durch. Für den Intellekt schien es plötzlich keine Grenzen mehr zu geben, wenn man ihn nur richtig nutzte. Die Naturwissenschaften erlebten einen Siegeszug. Was nicht wirklich einwandfrei bewiesen werden konnte, wurde infrage gestellt, jedes Problem in Teile zerlegt. Die Religion und der Glaube an eine höhere Ordnung der Dinge verloren immer stärker an Bedeutung. Plötzlich war es möglich, sich die Natur zum Untertan zu machen. Die Kenntnisse über den menschlichen Körper nahmen immer mehr zu. Krankheiten konnten immer besser bekämpft werden. Im Vordergrund stand die Erlangung der Glückseligkeit zu Lebzeiten. Der Tod wurde als ein notwendiges Übel angesehen, mit dessen Eintreten alles zu Ende war, erschreckend der Gedanke an die eigene Endlichkeit. Schließlich gab es keine Beweise dafür, dass nach dem Tod noch eine andere Daseinsform existierte.
Derzeit befinden wir uns abermals in einem Umbruch. Immer mehr Menschen haben das Bedürfnis, die Trauerfeier und das Begräbnis mitzugestalten, ihrer Trauer Ausdruck zu verleihen und sich so auf persönliche Weise von ihrem Toten zu verabschieden. Individualität, Kreativität und Selbstbestimmung sind die Schlagworte, die die bisherige Bestattungskultur in Deutschland verändern. Ein Begräbnis zu gestalten, das über die üblichen Gepflogenheiten hinausgeht und individuelle Ausdrucksmöglichkeiten beinhaltet, bedeutet, dem Toten nahe zu sein, ihn seiner Persönlichkeit entsprechend zu würdigen und damit noch einmal bewusst wahrzunehmen, dass wer da zu Grabe getragen wird, tatsächlich das geliebte Kind, die Mutter, Ehefrau, der Vater oder Bruder ist. Die Form des Begräbnisses ist nicht mehr beliebig austauschbar und anonym, sondern die letzte große Feier für einen Menschen, der auch im Leben nicht beliebig austauschbar war.
Die Formen der Trauer sind so unterschiedlich wie die Menschen selbst. Oft handelt es sich dabei gar nicht einmal um neue Formen, sondern man besinnt sich auf alte Beerdigungsbräuche, um der eigenen Trauer Ausdruck zu verleihen und sie ganz individuell zu leben. Statt der Friedhofskapelle werden dem Anlass entsprechende Privaträume zum Ort des Abschiednehmens. Immer mehr Künstler kreieren Trauerschmuck, Grabsteine oder neue Sargformen, deren Design vom üblichen abweicht und die symbolische Bedeutung des Begräbnisses unterstützt. Biblische Texte verschwinden zugunsten selbst entworfener Trauerreden oder der Rezitation von Lieblingstexten des Verstorbenen. Der Tote wird gewürdigt mit Texten, Musik oder Beigaben, die ihm zu Lebzeiten etwas bedeutet haben oder mit denen wir unseren eigenen Schmerz am besten ausdrücken können. Die Bestattung soll der Persönlichkeit des Verstorbenen entsprechen und nicht gegen sein Naturell verstoßen. Es ist unstimmig, jemanden in einem trostlosen Begräbnis unter die Erde zu bringen, wenn er doch zu Lebzeiten selbst in Krisensituationen immer froh und optimistisch war.
Mit dem Tod ist nicht alles vorbei. Das Verhältnis zum Verstorbenen ist nicht plötzlich zu Ende, sondern die Art und Weise der Beziehung wandelt sich. Ist der physische Körper auch vergänglich, die Gedanken und Gefühle, die dem Verstorbenen entgegengebracht werden, sind es nicht. Wir begleiten unsere Toten unser Leben lang. Bei der Gestaltung dieser Beziehung können neue alte Trauerrituale uns unterstützen.