Jeden Mittwoch treffe ich mich mit meiner Patentochter Lisa. Lisa ist sechzehn und hat, wie schon an den vergangenen Mittwochen, einen sehr großen Liebeskummer dabei. Vielmehr: Der Liebeskummer hat sie dabei. Er führt sie mit sich, man kann Lisa hinter dem hünenhaften Liebeskummer kaum erkennen.
Der Verursacher des Kummers heißt Magnus. Magnus geht in Lisas Schule, war ein halbes Jahr lang eine große Liebe, dann hat er Lisa verlassen, wegen einer Älteren und per SMS. Das ist natürlich unter aller Kanone, und…
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dann hat er Lisa verlassen, wegen einer Älteren und per SMS. Das ist natürlich unter aller Kanone, und wie jeden Mittwoch in letzter Zeit, wenn Lisas Kummer mir entgegenkommt, möchte ich Magnus eine SMS zurückschicken. Wie kann man nur, möchte ich schreiben, jemand so kluges, lustiges und schönes wie Lisa verlassen, auf so schnöde Art, und außerdem hast du einen ganz und gar bescheuerten Vornamen, du Unmagnus, du kleiner Wutz.
Vorvorletzten Mittwoch hat mir Lisa wieder und wieder Magnus’ Nachricht vorgelesen, in der Hoffnung, dass, wenn man eine Nachricht nur oft genug vorliest, sich das Wort „Schluss“ in „vorübergehende kleine Auszeit“ verwandelt, und sie hat mir dargelegt, was sie falsch gemacht haben könnte. Das war aus ihrer Sicht viel und wurde immer mehr. Ich habe versucht, das alles auszuräumen und zu widerlegen und etwas von meiner Wut auf Magnus in Lisa zu installieren, aber das hat nicht funktioniert.
Vorletzten Mittwoch habe ich es mit Ablenkung versucht. Lisa liebt Tierdokumentationen, ich hatte eine ausgeliehen, aber dann kamen leider Vogelpaare darin vor, die ihr Leben lang zusammenbleiben, und wenn einer der beiden stirbt, klappt der andere im Flug seine Flügel zusammen und stirbt dem einen hinterher.
Letzten Mittwoch sind wir schwimmen gegangen, weil ich dachte, Bewegung hilft gegen lausige Gedanken. Lisa stand im Wasser und hat in ihre Schwimmbrille geweint, denn Schwimmen war sie letztes Mal mit Magnus. Magnus hat die ganze Welt versaut.
Am heutigen Mittwoch gehen wir durch den Park. Wir gehen und sagen nichts, bis uns mein Nachbar Herr Pohl und sein Zwergpinschermischling Elise entgegenkommen. Ich stelle alle einander vor. Einen Moment lang stehen wir unschlüssig da, dann fragt Herr Pohl: „Darf ich Sie begleiten?“
Lisa nickt. Ich glaube, sie nickt, weil man Herrn Pohl ansieht, dass er sich mit Traurigkeiten auskennt, als schwebe der Schriftzug Kummer aller Art über seinem Kopf. Wir gehen zu fünft weiter, schweigend, Lisa in der Mitte mit Elise an der Leine, Herr Pohl und ich rechts und links von Lisa, der Liebeskummer stramm vorneweg wie ein blasierter Pauschalreiseführer.
Herr Pohl sieht mich über Lisas Kopf hinweg fragend an. „Liebeskummer“, grimassiere ich lautlos, und Herr Pohl nickt bestürzt. Ich nehme Lisas freie Hand und schaue mir die Leute im Park an. Wenn Reden etwas nutzen würde, würde ich Lisa gern sagen, dass bestimmt fast alle hier im Park, vielleicht sogar Elise, schon mal einen unüberwindlichen Liebeskummer überwunden haben. Ich wünschte, Lisa könnte sich an dem Satz Es geht vorbei festhalten wie ein Wasserskifahrer an seinem Zugseil.
Es geht vorbei, denken Herr Pohl und ich, denn das fällt einem als Erstes ein, wenn man hinter dem Liebeskummer einer Sechzehnjährigen her spaziert. Einen anderen Satz, der uns durch den Kopf geht, werden wir verschweigen, nämlich: Es wird noch viel schlimmer kommen. Cat Stevens irrte, als er behauptete, dass the first cut the deepest sei. Das hier ist noch gar nichts, denken Herr Pohl und ich, gemessen an den Liebeskummern, die Lisa später noch aufsuchen, die noch brachialer sein werden und noch unnachgiebiger, und Herr Pohl und ich und unsere nicht zielführende Lebenserfahrung beißen sich gleichzeitig auf die Zunge.
Eine telefonierende Frau kommt uns entgegen. Sie trägt einen Jutebeutel, auf dem in rosa geschwungenen Buchstaben All feelings are welcome steht. Überdenken Sie diesen Beutel noch mal, denke ich in Richtung der Frau, und schauen Sie sich meine Lisa an. Der Liebeskummer, der sie mit sich führt, ist absolut nicht eingeladen, und ihm ein „Willkommen“ entgegenzulächeln, wird niemandem gerecht, weder dem Kummer noch seiner Wirtin.
Als wir zum vierten Mal am Eingang des Parks vorbeikommen, bricht Herr Pohl unser Schweigen. „Ich müsste noch Futter für Elise besorgen“, sagt er, „möchten Sie mit?“
Ich schaue Lisa an, Lisa nickt. Man kann Lisas Kummer nicht mit Ablenkung oder Argumenten, mit Abwimmeln oder Begrüßungspartys beikommen, man kann ihn nur, wo er schon mal da ist, mitnehmen in das vorerst weitergehende Leben, und warum sollte sich das nicht für die nächste halbe Stunde in einer Zoohandlung abspielen. Ich glaube nicht, dass Magnus auch Zoohandlungen mit Erinnerungen kontaminiert hat.
Kurz darauf gehen wir alle hintereinander durch enge Gänge mit Tierbedarf. Es ist stickig und überall fiept, raschelt und blubbert irgendwas. Es hört sich an wie in einem Kopf, der überlegt, was er alles falsch gemacht haben könnte.
Wir begegnen erstaunlichen Dingen. Miniaturschlossruinen zur Aquariumsdekoration, Trinkwasserspringbrunnen für Katzen, Sitzbetten für Nager. Vor einem Regal bleibt Herr Pohl stehen, so abrupt, dass wir anderen beinahe in ihn hineinlaufen. Herr Pohl zeigt auf ein Halsband, es ist ein Beruhigungshalsband, das irgendwelche Stoffe absondert, die, so steht es tatsächlich auf der Verpackung, „konstante Behaglichkeit“ garantieren. „Um Himmels willen“, sagt Herr Pohl und schaut Lisa an, „so was gibt es bestimmt auch bald für Menschen. Besser, Sie halten Sie gut fest, Ihre ganze Traurigkeit.“ Lisa lächelt. Nur kurz, aber immerhin. Und das erhellt diesen ganzen Tierbedarf, diesen ganzen Mittwoch.
PH
Mariana Leky ist mit ihrem Roman Was man von hier aus sehen kann seit vielen Wochen in den Bestsellerlisten. In Psychologie Heute schreibt sie jeden Monat darüber, was die Menschen, die sie umgeben, bewegt. Mit psychologischen Themen kennt sich Leky aus: In ihrer Familie sind zehn Psychoanalytiker