Stellen Sie sich vor, zwei Menschen entstammen derselben Eizelle, teilen sich im Mutterleib eine Plazenta und wachsen in derselben Fruchtblase auf. Diese Zwillinge ähneln sich genetisch so sehr, wie sich zwei Menschen nur ähneln können. Und doch ist der eine ein Mann, die andere eine Frau.
Mir gegenüber in einem Café im niederländischen Arnheim unweit der deutschen Grenze sitzen Yentl und Laurens. Yentl hat schulterlanges Haar, ein Nasenpiercing und eine weibliche Brust. Laurens hat kurze Haare, einen Bart…
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Brust. Laurens hat kurze Haare, einen Bart und flachen Oberkörper. Beide wurden vor 23 Jahren geboren. Doch damals hatte einer noch ein anderes Geschlecht. Was denken Sie, wer von beiden das war?
Seit 1985 ist es in den Niederlanden per Gesetz gestattet, sein Geschlecht zu ändern. In Deutschland wurde bereits am 11. Oktober 1978 in einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts einem männlichen Transsexuellen erstmals erlaubt, rechtlich als Frau anerkannt zu werden. Seither sind viele Jahre vergangen. Transsexualität stellt Psychologen und Ärzte aber immer noch vor Herausforderungen. Und für die Betroffenen ist es oft kein einfacher Weg.
Diagnosenamen und ihre Folgen
Nach psychologisch-medizinischer Untersuchung können heute im Einzelfall schon beim Einsetzen der Pubertät Geschlechtshormone mit Medikamenten unterdrückt werden. Damit wird verhindert, dass der Körper die unerwünschten Merkmale ausprägt. Ein (laut Zuweisung) Mädchen, das sich als Junge fühlt, bekommt dann beispielsweise keine Brüste und menstruiert nicht. Später kann Testosteron verabreicht werden, das den Muskelaufbau unterstützt, Haare im Gesicht wachsen und die Stimme tiefer werden lässt.
In der Fachwelt verabschiedet man sich allmählich von der Bezeichnung der Transsexualität als einer „Geschlechtsidentitätsstörung“. Das amerikanische Diagnosehandbuch DSM, das auch in den Niederlanden verwendet wird, spricht seit 2013 von der „Genderdysphorie“. Das bedeutet so viel wie Unzufriedenheit mit dem Geschlecht. Neben dem starken Bedürfnis, eine andere Geschlechtsidentität zu haben, sind die Ablehnung der eigenen sexuellen Anatomie oder eine Vorliebe für Verhaltensweisen, die typischerweise einem anderen Geschlecht entsprechen, dafür kennzeichnende Merkmale.
Die Weltgesundheitsorganisation machte erst im Mai 2019 bekannt, dass sie künftig die Bezeichnung „Geschlechtsinkongruenz“ verwenden will. Relevanter als der Name ist aber, dass diese Kategorie dann nicht mehr im Kapitel für die psychischen Störungen auftaucht, sondern in einem unabhängigen Teil für sexuelle Gesundheit. Das dürfte dem Wunsch vieler Transsexueller entgegenkommen, die sich durch die Diagnose einer psychischen Störung stigmatisiert fühlen.
Aus „Lau“ wurde Laurens
Laurens hieß früher Laura. So lange er sich erinnern kann, interessierte er sich eher für typische Jungendinge. Beispielsweise mussten seine Eltern für ihn schon in seiner frühen Kindheit Kleidung in der Jungenabteilung kaufen. „Am liebsten blau mit Haifischen oder Autos darauf“, erinnert sich Yentl. Mit Ohrringen oder Nagellack, die er sichtlich genervt bis zum 16. Lebensjahr als Geburtstagsgeschenk bekam, konnte Laurens nichts anfangen. Die gab er gleich seiner Zwillingsschwester.
Schon mit zwölf Jahren hatte Laurens eine Freundin. Damals dachte er, etwas stimme nicht mit ihm. In seinem Umfeld wurde nahegelegt, er sei halt lesbisch. Das schien ihm auch akzeptierter zu sein als Transsexualität. Er trug seine Haare kurz und weiter typische Jungenkleidung. Das habe besser zu ihm gepasst. Mit 15 nannte er sich dann „nichtbinär“, also weder rein Mann noch völlig Frau. Wenig später outete er sich: „Ich bin Mann!“ In der Schule wurde das unterstützt. Wer ihn zum Beispiel mit seinem Mädchennamen ärgerte, bekam gleich eine Strafe.
Yentl spürte in der Pubertät den Druck, dass sie sich auch als lesbisch oder als irgendwie anders identifizieren müsse. Immerhin seien sie doch eineiige Zwillinge. Dabei fühlte sie sich mit ihrem weiblichen Äußeren sehr wohl. So gut das eben bei einem Mädchen in der Pubertät geht. Die Beziehung mit „Lau“, wie Laura/Laurens damals genannt wurde, war jedoch mitunter schwierig. Sie teilten sich ein Zimmer. „Mit violetten Wänden mit Blumen darauf“, ergänzt Laurens mit erkennbarer Ablehnung.
Der lange Weg zur Umwandlung
Auf dem gemeinsamen Schreibtisch wollte er partout keine Mädchendinge haben. Wenn er mal Yentls Ohrringe oder Nagellack in seinem Bett fand, wurde er wütend. Sie verstand es hingegen nicht, dass er sich nicht umziehen wollte, während sie im Zimmer war. „Wir waren doch gleich.“ Sie sollte dann im Badezimmer warten. Laurens erklärt heute, dass das mit seiner Unzufriedenheit mit seinem weiblichen Äußeren zu tun hatte.
Er litt vor allem unter den Brüsten. Die konnte er zwar unter der Kleidung abbinden. Doch das war auf Dauer unkomfortabel, ja schmerzhaft. Und was, wenn er schwimmen gehen wollte? So meldete er sich mit 17 schließlich für den Weg zur Geschlechtsumwandlung an. Nach einer typischen Wartezeit und psychologisch-medizinischen Untersuchungen bekam er dann ab 18 männliche Geschlechtshormone.
Laurens erzählt, dass er damals verheimlicht habe, wie schlecht es ihm wirklich ging. Er wusste, dass man mit Depressionen nicht zur Behandlung zugelassen würde. Dann hätte man erst versucht, seine Psyche zu stabilisieren. Dabei fühlte er so deutlich, dass die weiblichen Merkmale nicht zu ihm passten. Und auch gesellschaftliche Erwartungen und Druck von außen, sich wie ein Mädchen zu verhalten, machten ihm zu schaffen. Je häufiger man ihn hingegen als Mann gesehen habe, desto glücklicher sei er geworden.
Ein Jahr Hormone, dann die OP
Die Hormone veränderten seinen Körper und ließen seine Stimme tiefer werden. Er sei selbstsicherer geworden, man habe ihn in Gesprächen auch nicht mehr so schnell übergangen. Gleichzeitig habe er Angst gehabt, nicht genug „Macho“ zu sein, um als Mann durchzugehen. Dass er hin und wieder als „zärtlich oder empfindlich für einen Mann“ gesehen werde, störe ihn aber nicht.
Eine schwierige Zeit hatten die Zwillinge, als Laurens im Alter von 17 Jahren ein Hormonpräparat zur Unterdrückung der Periode bekam. Die hatte bei ihm übrigens schon mit 13 Jahren eingesetzt, bei Yentl erst mit 15. Die Schwester klagt, dass er sie damals oft schlecht und gemein behandelt habe. Ihm sei das aber erst hinterher bewusstgeworden, nachdem er das Mittel wieder abgesetzt hatte.
Nach dem vorgeschriebenen Jahr Hormonbehandlung ließ Laurens sich schließlich operieren. In einem Rutsch wurden ihm dabei die Brüste, Eierstöcke und die Gebärmutter entfernt. Da war er 19 Jahre alt. „Danach konnte ich endlich normal schwimmen gehen“, erklärt er mit Erleichterung. Die Entfernung der inneren Geschlechtsorgane hat vor allem mit dem Vorbeugen von Gesundheitsproblemen zu tun. Gebärmutter und Eierstöcke würden sich nicht gut mit dem Testosteron vertragen.
Die Risiken der Penis-OP
Damit sind aber leider noch nicht alle Probleme behoben. „Was in meiner Hose ist, das passt nicht“, klagt Laurens. Manchmal trägt er eine Penisprothese. Auf bestimmten Partys oder Festivals würden aber auf der Herrentoilette die Kabinen abgeschlossen. Dabei könne er kein Urinal verwenden. Von der Damentoilette werde er weggeschickt. Dann könne er nirgendwo pinkeln.
Wenn er die Veranstalter darauf anspreche, dann sagten die, dass sie damit Vandalismus auf der Herrentoilette vermeiden wollten. Darum gehe er nicht mehr auf diese Partys, von denen manche sogar offen als LSBTIQ-freundlich beworben würden (die Abkürzung steht für Lesben, Schwule, Bi-, Trans- und Intersexuelle sowie Queers).
Eine Operation, um einen Penis zu bekommen, steht für ihn aber bis auf weiteres außer Frage. Er würde zwar gerne das männliche Geschlechtsteil haben. Insgesamt handle es sich aber um sechs Eingriffe, und das Risiko, dass es schiefgeht, sei ihm zu groß. Er hofft auf den medizinischen Fortschritt, damit er eines Tages doch noch ein funktionierendes Glied bekommen kann. Für Transsexuelle, die vom männlichen zum weiblichen Geschlecht übergehen, sind die Operationen einfacher.
„Er ist immer mein Zwilling geblieben“
Durch Laurens’ Veränderung veränderte sich Yentl auch. „Ich kann nicht mehr einfach sagen, dass ich ein eineiiger Zwilling bin, denn das glauben mir die Leute nicht.“ Früher hätten andere nach Unterschieden zwischen den beiden gesucht. Heute suchten sie nach Gemeinsamkeiten.
Die Beziehung zu ihrem Bruder habe sich durch die Hormonbehandlung und die Operation aber nicht wesentlich verändert. „Er ist immer mein Zwilling geblieben, keine andere Person. Er trägt andere Kleidung, hat kürzere Haare und hat eine andere Frisur. Aber das passt viel besser zu ihm.“ Laurens ergänzt, dass Yentl ihn am Tag seiner Operation zum ersten Mal beim vollen Namen genannt habe. Bis dahin sei er für sie immer noch „Lau“ gewesen.
Beide haben sich intensiv mit dem Thema Transsexualität beschäftigt. Laurens versteht nicht, dass manche so viel Mühe mit seinem Wunsch haben. „Für mich war das alles viel schwieriger als für alle anderen. Warum haben sie dann ein Problem damit?“ In einem bedrückten Moment ergänzt er, dass er anstelle seines Leidenswegs eine Pille genommen hätte, die ihn als Mädchen hätte glücklich werden lassen. Doch die gebe es nicht. Das sei unmöglich.
Eine Frage der Aufklärung
Yentl fordert: „Transsexuell, lesbisch, schwul, bi, queer, das muss alles als normal gelten! Wenn alles normal ist, dann ist es kein Problem mehr.“ Dann müssten die Betroffenen es auch nicht mehr so lange geheimhalten. Darum freuen sich die Zwillinge auch über jede Gelegenheit, ihre Erfahrungen mit anderen zu teilen.
Auf meine Einladung, in meine Psychologievorlesung zum Thema Geschlechtsidentität zu kommen und dort einen kurzen Vortrag zu halten, reagieren sie dann auch mit großer Begeisterung. Laurens arbeitet sowieso ehrenamtlich als Botschafter des Transgendernetzwerks Niederlande.
Was könnte die Ursache dafür sein, dass sich die beiden so unterschiedlich entwickelt haben? Yentl vermutet, es habe mit Problemen während der Schwangerschaft zu tun: Nach der Frühgeburt in der 32. Woche musste sie noch beatmet werden, während Laurens organisch zwar weiter entwickelt, dafür aber sehr klein war. Er betont aber, dass diese Erklärung rein spekulativ ist. Wichtiger als die Frage nach der Ursache ist für ihn, wie andere Menschen mit ihm umgehen. Zur Entstehung unserer Geschlechtsidentität sind wissenschaftlich noch viele Fragen offen.
Offen sind beide übrigens auch in Liebesdingen: Laurens hatte zuletzt einen Freund; Yentl trifft sich zurzeit mit einer Frau. „Ich steh nicht auf Frauen oder Männer“, erklärt sie etwas keck. „Ich steh schlicht auf schöne Menschen.“
Die Bilder zu diesem Beitrag (bis auf das Jugendfoto auf S. 74) stammen von der niederländischen Dokumentarfotografin Judith Helmer. Sie verfolgt mit Vorliebe Langzeitprojekte, bei denen sie persönliche Geschichten fotografisch erzählt. Auch Laurens und Yentl begleitet Helmer in ihrem fortlaufenden Projekt nun seit mehreren Jahren auf deren „Prozess der Selbstentdeckung“, wie sie schreibt, bei dem sich den beiden unausweichlich und immer wieder die Frage stellt, „wer sie selbst sind, als Individuen und als Zwillinge“.
Website: judithhelmer.com
Stephan Schleim ist assoziierter Professor für Theorie und Geschichte der Psychologie an der Universität Groningen (Niederlande) und unterrichtet im Rahmen seiner Wissenschaftstheorievorlesung auch über das Thema Gender, Trans- und Intersexualität