"Empathiearmut ist das größte Problem"

Kinder von narzisstischen Vätern genügen nie. Wie sie damit zurechtkommen, sagt Psychotherapeut Claas-Hinrich Lammers

Ein Junge schaut traurig aus dem Fenster, während hinter ihm sein Vater ohne Empathie sitzt
© Westend 61/Getty Images

Herr Professor Lammers, woran erkenne ich, dass ich einen narzisstischen Vater habe?

Das kann von einer kompletten physischen Abwesenheit bis zu einer starken Dominanz und Anspruchshaltung reichen. Gemeinsam ist aber allen narzisstischen Vätern wie auch Müttern, dass sie ihrem Kind keine bedingungslose Liebe, Anerkennung und Unterstützung entgegenbringen. Dies geht mit einer emotionalen Vernachlässigung einher, häufig mit einer überhöhten Anspruchshaltung an die Eigenschaften und Leistungen des Kindes.

Führt…

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einher, häufig mit einer überhöhten Anspruchshaltung an die Eigenschaften und Leistungen des Kindes.

Führt ein narzisstischer Vater immer zu psychischen Problemen?

Das lässt sich so pauschal nicht sagen. Denn erstens kommt es darauf an, welche Persönlichkeitsmerkmale die Kinder haben, denn sie sind keine unbeschriebenen Blätter, wenn sie zur Welt kommen, sondern bringen selbst bestimmte Persönlichkeitseigenschaften mit. Manche sind von Anfang an eher robust und resistent gegenüber negativen Einflüssen, andere wiederum leiden stärker darunter. Zweitens gibt es zumeist ja eine Dreierbeziehung mit der Mutter, die eine wichtige Rolle spielen kann, indem sie dem Kind all das gibt, was dieses bei seinem narzisstischen Vater vermisst, beziehungsweise sie vermag dessen problematischen Einfluss auszugleichen. Ich will damit sagen, dass nicht nur der egozentrische Vater prägend ist für das Kind, sondern auch der Charakter des Heranwachsenden und die jeweilige Familienkonstellation.

Wenn das Kind von Natur aus eher ängstlich und unsicher ist, welche Auswirkungen hat dann ein selbstbezogener, selbstsüchtiger Vater?

Solche sensiblen Kinder erleben von früh an eine starke Frustration, denn narzisstische Väter haben für wichtige Gefühle und Bedürfnisse ihres Kindes kein wirkliches Interesse. Dafür ist in ihrem Leben kein beziehungsweise nur sehr wenig Platz. Das Kind passt sich den Erwartungen häufig an, unterwirft sich und leidet dabei still vor sich hin. Dennoch erfährt es trotz aller Anstrengungen keine Liebe und fühlt sich nicht angenommen, so wie es ist. Folglich erlebt es keine Befriedigung der wichtigsten Bedürfnisse wie dem nach Zuwendung, Aufmerksamkeit und Anerkennung. Oder es gibt sie nur dann, wenn die Ansprüche des Vaters erfüllt sind, Töchter und Söhne genau das machen, was von ihnen erwartet oder verlangt wird. Für ichbezogene Väter sind ihre Kinder oftmals der verlängerte Arm ihres Narzissmus. In der Familie, im Freundeskreis und unter Kollegen geben sie an: „Ich habe das intelligenteste, begabteste, hübscheste Kind!“ Diese Väter sehen in ihren Kindern, was sie sehen wollen, und nehmen sie nicht als eigenständige Persönlichkeit an. Trotz dieser von Anfang an schwierigen Beziehung idea­lisieren sensible Kinder ihren Vater häufig und versuchen ihm sogar nachzueifern. An dieser kolossalen Anpassung können sie im Laufe ihres Lebens zerbrechen.

Und wie ergeht es den resistenteren Kindern?

Es gibt Menschen, die von Natur aus weniger ängstlich, unsicher und sorgenvoll sind und häufiger positive als negative Gefühle erleben. Solche Kinder können eher widerstandsfähig gegenüber den Einflüssen eines narzisstischen Vaters sein, besonders dann wenn sie eben die Liebe und Aufmerksamkeit von der Mutter bekommen, die viele Defizite des Vaters ausgleicht. Es kann auch eine andere nahestehende Bezugsperson geben – wie die liebevolle Oma oder fürsorgliche Tante –, die Zuwendung, Sicherheit und Geborgenheit bietet.

Welche Verhaltensmuster erlernen die Kinder von solchen Vätern? Ist die Anpassung und das Unterdrücken eigener Gefühle das Vorherrschende?

Wenn Geborgenheit, Sicherheit und Liebe der Eltern nicht in einer bedingungslosen Form vermittelt werden, versuchen die Heranwachsenden, sich an die gestellten Ansprüche anzupassen. Ein Patient sagte mal zu mir: „Mein Vater war eigentlich nie für mich da, nur wenn ich Fußball spielen gegangen bin, ist er mitgekommen. Aber dann musste ich auch Tore schießen, um ihm zu gefallen, sonst war er enttäuscht und es hagelte sogar noch Vorwürfe.“ Kinder narzisstischer Väter müssen für die Zuneigung des Vaters etwas tun, wobei sie nie die Erfahrung machen können, ohne Leistungen angenommen und geliebt zu werden.

Neben der Anpassung gibt es auch andere Reaktionen wie zum Beispiel die Revolte gegen den Vater, die nicht selten zu lebenslangen Zerwürfnissen führen kann. Oder was ebenso passieren kann, ist, dass Tochter oder Sohn sich den Vater als Vorbild nehmen und dadurch selbst stark narzisstische Züge entwickeln.

Warum verhalten sich narzisstische Eltern so ichbezogen?

Ihre Ichbezogenheit hängt ganz wesentlich mit ihrer Empathiearmut zusammen. Narzisstische Eltern können nur sehr schlecht einen einfühlsamen Kontakt mit der Innenwelt ihres Kindes herstellen. Sie haben kein Empfinden und wenig Interesse dafür, was ihrem Kind gefällt, was es mag, wofür es sich interessiert. Sie schauen nicht, wo es Unterstützung braucht, wo es gefördert oder angeregt werden kann. Was das Kind als Keim in sich trägt, was es fühlt und wünscht, wird nicht als wichtig angesehen, wenn es nicht in das Konzept des ichbezogenen Elternteils passt.

Dennoch, narzisstische Menschen können durch­aus Empathie empfinden, aber sie wollen es nicht, drängen sie weg. Empathie zu empfinden bedeutet ja, emotionale Nähe herzustellen, die Gefühle des anderen mitzuerleben. Aber das möchten sie nicht, weil sie selbst keinen Kontakt zu den eigenen, insbesondere den schmerzhaften Gefühlen haben. Diese zu fühlen hieße, Kontakt zu einer Welt herzustellen, in der es Unsicherheiten, Ambivalenzen, Schwierigkeiten gibt, das hieße, unsicheres Terrain zu betreten. Das mögen narzisstische Menschen nicht, sie wollen sich nicht einsam, ängstlich oder traurig fühlen. Alles, was sie erschüttern könnte, versuchen sie zu vermeiden, sie brauchen die absolute Kontrolle.

Narzisstische Menschen sind jedoch auch sich selbst gegenüber nicht empathisch. Väter mit dieser Persönlichkeitsausprägung kümmern sich auch nicht um ihre eigenen schmerzhaften Gefühle.

Ist es vielleicht so, dass die doch vorhandene empathische Fähigkeit genutzt wird, um konsequent eigene Ziele durchzusetzen?

Es ist bekannt, dass narzisstische Menschen über die Fähigkeit zur kognitiven Empathie verfügen. Sie können sich also sehr gut in andere Menschen eindenken und sich deren Bedürfnisse bewusstmachen, was sie aber nur dann tun, wenn sie sich davon etwas für die Durchsetzung ihrer Ziele versprechen. Es ist also gewissermaßen eine ichbezogene Empathie, die bei ihnen zum Einsatz kommt.

Viele Kinder stellen erst sehr spät als Erwachsene fest, dass sie einen egomanischen Vater oder eine ichsüchtige Mutter haben. Wie kommt das?

Ein Kind wird seine narzisstischen Eltern zunächst als normal empfinden, weil es in frühen Jahren kaum anderweitige Beziehungserfahrungen machen kann. Eltern müssen psychisch schon sehr krank sein, damit bereits ein Kind merkt, dass hier etwas nicht stimmt, zum Beispiel wenn Mutter oder Vater schizophren erkrankt ist. Erst wenn das Kind im Laufe seiner Entwicklung andere Beziehungsformen kennenlernt, bemerkt es vielleicht den Unterschied zur Beziehung seiner Eltern. Nicht selten registrieren die Betroffenen erst als Erwachsene anhand von Problemen in ihren eigenen Bindungen zu anderen Menschen, wie sehr sie von den narzisstischen Eltern geprägt worden sind.

Außerdem kann der Fall auftreten, dass Vater oder Mutter einen vulnerablen, also verletzlichen Narzissmus aufweisen. Dann sind sie gar nicht so angeberisch oder fordernd, dafür aber extrem leicht kränkbar; sie signalisieren den Kindern, nie genug von ihnen geliebt zu werden. Da können sich die Kinder noch so bemühen, ihre Liebe zu zeigen, es kommt nicht an. So eine vulnerable Ausprägung ist für den Erkenntnisprozess problematisch, da sie nicht so offensichtlich ist wie bei grandiosen Narzisstinnen und Narzissten.

Wie erklärt sich das lebenslange Leiden an einem narzisstischen Vater?

Kinder hängen häufig an ihrem Vater und ihrer Mutter, obwohl sie von ihnen vernachlässigt wurden, nehmen diese sogar in Schutz und verteidigen deren Verhalten anderen gegenüber. Das ist dadurch zu erklären, dass ein Kind seine Eltern braucht, um physisch und psychisch zu überleben und sich zu entwickeln. Bei Eltern, die ihr Kind bedingungslos lieben und unterstützen, muss das Kind nichts dafür tun. Es kann jederzeit die lebensnotwendige sichere Bindung fühlen. Bei distanzierten beziehungsweise narzisstischen Eltern müssen Kinder viel von sich aus unternehmen, um sicherzustellen, von den Eltern beschützt und anerkannt zu werden, trotz aller emotionaler Abwendung. Sie müssen sich an ihre Eltern maximal anpassen, was zu einer starken Bindung vonseiten des Kindes führt. Diese Bindung erschwert eine gefühlsmäßige Abnabelung im späteren Leben. Nicht selten kommt es vor, dass Menschen mit 20, 40 oder gar 50 Jahren mit Depressionen zur Psychotherapie kommen und sagen: „Ich kämpfe eigentlich immer noch um die Anerkennung meines Vaters oder um die Liebe meiner Mutter. Ich habe nie gehört, dass sie mich lieb haben, dass ich toll bin, ich mein Leben gut meistere und dass sie stolz auf mich sind.“ Das Problem ist, dass ein Kind das bei einem egozentrischen Vater oder einer ichbezogenen Mutter wahrscheinlich nie hören wird, egal wie alt es ist. Um hierzu in der Lage zu sein, müssten sich die Eltern wahrscheinlich in Therapie begeben, wozu ihnen in der Regel aber die Einsicht fehlt.

Welche positiven Seiten gibt es in einer narzisstischen Beziehung?

Es ist ja so, dass der Begriff Narzissmus zumeist negativ benutzt wird. Das ist nur dann vollkommen richtig, wenn es um die narzisstische Persönlichkeitsstörung oder sehr starke Ausprägungen dieser Persönlichkeitseigenschaft geht. Doch Narzissmus ist zunächst einmal eine Persönlichkeitsvariable gesunder Menschen und jeder von uns hat diesbezüglich eine gewisse Ausprägung. Wer einen niedrigen Narzissmuswert aufweist, ist eher selbstunsicher und ängstlich; jene mit einem höheren Wert treten selbstbewusst auf und mögen es, im Mittelpunkt zu stehen. Wir alle brauchen bis zu einem gewissen Grad narzisstische Züge, um uns im Leben zu behaupten. Wer narzisstische Eltern hat, kann von ihnen lernen, sich durchzusetzen, Leistung zu bringen, souverän aufzutreten. Neulich sah ich an der Kinokasse einen Vater, der, obwohl sämtliche Karten bereits ausverkauft waren, alles versuchte, doch noch welche zu bekommen – und siehe da, es gab noch Restkarten, als er energisch nach­fragte. Das zeigte seiner Tochter: Es braucht manchmal Mut und Durchsetzungsvermögen, um etwas zu erreichen, um nicht aufzugeben und weiter nach Lösungen zu suchen. Oder ein Vater, der aus ärmlichen Verhältnissen stammt und es mit viel Kraft geschafft hat, erfolgreich zu sein, kann seinen Kindern ebenso ein Vorbild sein. Doch der Grad zwischen einer positiven Vorbildfunktion und einem schädlichen Einfluss ist sehr schmal.

Werden manche Väter und Mütter möglicherweise zu schnell als narzisstisch abgestempelt?

Es gilt, mit solch einer Bewertung zunächst vorsichtig umzugehen, es sollte immer genau hingeschaut werden: Wie hat sich die Beziehung entwickelt? Was ist passiert? Lässt sich das problematische Verhältnis wirklich ausschließlich auf eine narzisstische Persönlichkeitsausprägung eines Elternteils zurückführen oder ist das nicht eine schnelle Erklärung für andere Schwierigkeiten? Natürlich müssen Patientinnen und Patienten, die wegen narzisstischer Eltern professionelle Hilfe suchen, immer ernst genommen werden. Dennoch gilt, nicht zu verallgemeinern nach dem Motto: „Ist doch ganz klar, sie oder er hat einen narzisstischen Vater und damit sind alle persönlichen und emotionalen Probleme zu erklären.“

Das katapultiert Betroffene in eine Opferrolle, und solch eine Opferrolle fördert Passivität. Ich hatte einen Patienten, der die Schuld für seine Depression ausschließlich bei seinen Eltern suchte und die Lösung seiner Probleme darin sah, dass sie sich bei ihm für ihre Vernachlässigung entschuldigen sollten. Er selbst jedoch war nicht bereit, etwas in seinem Leben zu ändern. Ich will damit sagen, dass wir diesbezüglich sehr genau hinsehen müssen. Und auch das: Wer narzisstische Eltern hat, sollte sich bewusstmachen, dass eine Veränderung des Lebens und der Beziehung zu ihnen in den eigenen Händen liegt, auch wenn das angesichts des problematischen, empathiearmen Verhaltens seitens der Eltern ungerecht sein mag.

Claas-Hinrich Lammers ist Psychiater und Psychotherapeut sowie ärztlicher Direktor der Asklepios-Klinik Nord in Hamburg

ZUM WEITERLESEN

Claas-Hinrich Lammers: Narzisstische Störung. Hogrefe 2023

Claas-Hinrich Lammers: Beziehungsgestaltung mit narzisstischen Menschen. Psychiatrie 2021

Claas-Hinrich Lammers, Gunnar Eismann: Bin ich ein Narzisst? Oder einfach nur sehr selbstbewusst? Schattauer 2019

Stand: Juni 2023

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: DAS DOSSIER Psychologie Heute: Narzissmus