Hass ist in den letzten Jahren zu einem zentralen Phänomen unserer Gesellschaft geworden. Er zeigt sich in feindseligen Ressentiments gegen Minderheiten oder auch Eliten, in einer radikalisierten Hetze und Diffamierung im Internet, schließlich in Gewaltakten gegen verhasste Gruppen bis hin zu Amokdelikten oder terroristischen Attentaten. Die Zunahme des Hasses hat zweifellos auch mit den sozialen Medien zu tun, in denen sich Hassende anonym Ausdruck verschaffen und Resonanz finden können; mehr aber noch mit…
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gesellschaftlichen Auseinandersetzungen zwischen sozialen Gruppen um Dominanz und Unterlegenheit, Macht und Ohnmacht.
Die besondere Gefährlichkeit des Hasses ist dabei in seinem zeitlichen Verlauf begründet: Hass ist kein kurzfristiges Gefühl wie Wut oder Empörung, sondern ein sich schleichend entwickelndes, über lange Zeit aufgestautes, aber umso intensiveres Gefühl des Grolls und der Rachsucht, das früher oder später in Gewaltbereitschaft mündet. Umso wichtiger ist, die Wurzeln und die längerfristige Entwicklung des Hasses zu verstehen.
Wie Hass entsteht
Wir werden sehen, dass er aus Erfahrungen von Kränkung und Ohnmacht hervorgeht, die schließlich in Rache und Gewalt umschlagen. Wenn wir dies anhand eines individuellen Falles verfolgen, werden wir auch kollektive Hassentwicklungen besser verstehen.
Die Konstellation, aus der Hass und Gewalt erwachsen, wird bereits in der Bibel in der Genesis archetypisch erkennbar, nämlich an Kain und Abel. Gott nimmt Abels Opfer an, weist dagegen Kains Opfer ohne Begründung zurück – er verweigert Kain damit die Anerkennung und demütigt ihn. „Da überlief es Kain ganz heiß, und sein Blick senkte sich“ (Genesis 4,5). Hier wird bereits die Kränkung spürbar, der Bruderneid und der Groll, der auf Rache aus ist. Gott macht Kain zwar auf seine finsteren Absichten aufmerksam und ermahnt ihn, sie zu bezwingen. Doch Kain lockt Abel aufs Feld, um ihn dort zu erschlagen. Der Hass hat sein erstes Opfer gefunden.
Auf Ohnmacht folgt Obsession
Hass, so sehen wir daran, hat etwas mit Erfahrungen von Zurücksetzung, Kränkung oder Ungerechtigkeit zu tun, gegen die er sich empört. Es ist der Energie des Gefühls nicht auf den ersten Blick anzusehen, dass an seinen Wurzeln eigentlich eine Erfahrung von Schwäche liegt. Eine erlittene Frustration, Kränkung oder Niederlage erzeugt das Gefühl der Ohnmacht: Trotz ihrer Empörung sehen sich Betroffene außerstande, die Kränkung unmittelbar zu vergelten, und bleiben mit dem Gefühl von Groll und Bitterkeit zurück.
Nun folgt eine Phase, die wir auch als Latenzphase bezeichnen können und die durch einen Affektstau charakterisiert ist. Hass entsteht aus der zurückgestauten Aggression der Ohnmächtigen; er ist also ein wachsendes, sich gleichsam selbst nährendes Gefühl, das immer mehr die Züge einer Obsession annimmt. Die Hassenden pflegen ihren Hass, sie beginnen in Rachefantasien zu schwelgen und sehen sich von neuem Unrecht nur bestätigt, verschafft es doch ihrem Hass noch weitere Nahrung. „Ein unter der Asche glimmendes Feuer“, so nannte bereits Kant den Hass.
Vitalisierende Wirkung
Der Übergang vom bloßen Groll zum Hass liegt dort, wo der oder die Gekränkte tatsächlich auf Rache aus ist: Irgendwann soll die Kränkung vergolten, die Demütigung in einen Triumph umgewandelt werden. „Der Tag der Rache wird kommen.“ Die Aussicht auf die vorgestellte Rache, bis hin zu lustvollen Fantasien von der Vernichtung der Gegner, verwandelt schon jetzt Schwäche in Stärke.
Wir haben es also mit einer Affektumkehr zu tun: Hass vitalisiert und treibt voran, er verleiht dem Leben Sinn und Ziel, ja er wird immer mehr zum Teil der eigenen Identität. So ist Hass durchaus vereinbar mit Geduld und rationaler Planung. Er kann zum strategischen Projekt werden wie etwa bei Amoktätern oder Terroristen, die ihre Tat oft über Monate oder sogar Jahre hinweg vorbereiten.
Gefährlicher Tunnelblick
Zugleich verengt der Hass immer mehr den Blick. Hassende schließen sich gleichsam in eine Kammer ein, in der sie ihren Groll nähren können, oder in eine Echokammer von Gleichgesinnten im Internet. Hass verzerrt die Realität und lässt nur noch Weiß oder Schwarz, Gut oder Böse zu. Die gehasste Person oder Gruppe ist schlechthin böse, und irgendwann wird der oder die Hassende über sie triumphieren.
Hass, so haben wir gesehen, geht meist auf eine Vorgeschichte zurück, die durch Frustration, Kränkung oder andere Formen von Entwertung charakterisiert ist; es geht also letztlich um den Selbstwert oder den Status im sozialen Verband. Ich gebe dafür nun ein Beispiel, das sich den Amoktaten zuordnen lässt:
An einem Tag im März 2009, in einem sächsischen Dorf, sitzen die beiden 17-jährigen Freunde Michael und David beim Abendessen. Danach ziehen sie sich auf Michaels Zimmer zurück, um ein Video anzusehen und sich damit auf ihre schon lange geplante Tat vorzubereiten. Es ist das Spiel „Final Fantasy VII“, eine computeranimierte Saga vom Kampf übermenschlicher Heroen mit Mächten des Bösen. Anschließend bewaffnen sich die beiden mit sechs Messern aus der Küche und gehen zum Haus eines Ehepaars in der Nachbarschaft.
Der Mann öffnet, er kennt die beiden seit langem als freundliche und höfliche Jungen. Doch da ruft Michael „Reno!“, das ist das Codewort aus „Final Fantasy“ zum Losschlagen. Die beiden Jungen ziehen ihre Messer und halten sie dem Mann an die Kehle. Er wehrt sich, doch da verlieren die Jungen alle Hemmungen und stechen wütend und tödlich auf ihn ein. Kurz darauf töten sie auch seine Ehefrau mit 62 Messerstichen.
Weder Alkohol, Drogen oder eine psychische Krankheit noch Feindschaft gegenüber den Opfern erklären die Tat. Noch im gleichen Jahr werden beide Jugendliche wegen Doppelmordes zu 9½ Jahren Haft verurteilt. Sie waren von den Psychiatern für uneingeschränkt schuldfähig befunden worden.
Vom ängstlichen Hypochonder zum Amoktäter
Dieser Bericht macht zunächst deutlich, mit welcher Radikalität sich ein bis dahin latenter Hass manifestieren kann. Der Schrecken der Tat wird kaum gemildert, wenn wir ihre Vorgeschichte betrachten. Michael, der Anführer der beiden Täter, galt bis dahin als ein freundlicher, wohlerzogener Gymnasiast aus einer intakten Familie. In den sächsischen Kindergärten war der intelligente, aber schüchterne Junge allerdings von Anfang an ein Außenseiter, als Westkind und Weichei verschrien. Auch später am Gymnasium litt er ohnmächtig unter Ausgrenzungen und wurde einmal als „hässlichster Junge der Klasse“ tituliert.
Zu den vielfältigen Kränkungen, Scham- und Minderwertigkeitsgefühlen in dieser Zeit trat allmählich eine zunehmende Hypochondrie, Angst vor Rinderwahn, Sorgen um die Zukunft der Erde, Weltschmerz und Verzweiflung am Schicksal der Menschheit. Es entwickelten sich Zwangsgedanken und -handlungen, die Michael schließlich auch in psychologische Behandlung führten, allerdings ohne Erfolg.
Todeslisten im Tagebuch
Erst die Tagebücher, die die Eltern später auffanden, lassen Michaels’ innere Entwicklung erkennen. In den zwei Jahren vor der Tat finden sich zunehmend hasserfüllte Einträge, Todeslisten und Anspielungen auf geplante Gewalttaten. Unter dem Titel „Opus Magnum“ plant Michael zunächst eine Zeitlang die Hinrichtung seiner ganzen Klasse. Dann wieder verzweifelt er an seiner Einsamkeit, sehnt sich nach Liebe und körperlicher Nähe.
Weiter finden sich Blätter mit Zeichnungen von zerstörerischen Monstern und Drachen. Unter dem Titel „Die Rettung der Welt“ spinnt Michael globale Vernichtungsfantasien. Sein Ziel ist die Ausrottung der „Untermenschen“, der Schwachen, der Verlierer. Durch DNA-Manipulation sollen neue Menschen entstehen – Helden wie die computeranimierten Muskelmänner aus „Final Fantasy“.
Offensichtlich fand Michael ein verhängnisvolles Mittel gegen die ihn überschwemmenden Ohnmachtsgefühle, nämlich die Bewährung in einer Welt der Horrorfilme und Computerspiele, in der Welt des Bösen. In Ego-Shooter-Spielen wie Doom oder Prey, die er sich beschaffte, entfaltet sich das Grauen einer vom Guten verlassenen Welt, in der um ihr Leben wimmernde Menschen von Vernichtungsmaschinen zerquetscht werden.
Heldenhafte Ersatzidentität in Computerspielen
Der Konsum von Gewaltmedien ist freilich nicht die Ursache für ein Hassverbrechen. Doch können ichschwache Jugendliche sich mit ihrer Hilfe als Heldinnen und Kämpfer stilisieren und so eine grandiose Ersatzidentität annehmen. In einem Umschlag von Ohnmacht in Größenideen verwandelte Michael sich von einem ängstlichen Hypochonder in einen Amoktäter.
Seine Opfer habe es getroffen, weil sie schwach seien, so begründete er später seine Auswahl. Unmittelbar nach der Tat prahlte er vor seinem Freund, wie leicht es doch gewesen sei, einen Menschen zu töten. Doch galten die unzähligen Messerstiche im Grunde nicht den Opfern, sondern der tief im eigenen Inneren wohnenden Überzeugung, ein Nichts zu sein.
Betrachten wir, von diesem Beispiel ausgehend, die Vorgeschichte von Amoktaten, so können wir bei aller Verschiedenheit doch ein gemeinsames Grundmuster der Dynamik des Hasses erkennen: An den Wurzeln des Amok finden sich meist wachsende Erfahrungen von Kränkung, Missachtung und Demütigung; sie führen zu sozialem Rückzug, Groll und Verbitterung.
Selbsteinschätzung als verkanntes Genie
Der Affektrückstau in der Latenzphase ist die Voraussetzung für die zunehmenden Rachefantasien, in denen Ohnmacht und Demütigung sich in einen fantasierten grandiosen Triumph verwandeln. In seiner Selbsteinschätzung ist der Amokläufer der Größte, ein verkanntes Genie, und irgendwann wird er dies der Welt noch zeigen.
Das geschieht nach einer zunehmenden Einengung in der schließlich durchbrechenden Amoktat, in einer unter Umständen stundenlang anhaltenden Gewaltorgie gegen die als Feinde und Feindinnen ausgesuchten Opfer. Die Freisetzung der oft jahrelang aufgestauten narzisstischen Wut hinterlässt dann einen Zustand innerer Leere, Apathie und Sinnlosigkeit, der häufig in den Suizid mündet.
Mord und Selbsttötung als Zwillingsgeschöpfe
Es ist, als ob der Hass über Jahre alle psychische Energie an sich gezogen und keine positiv gerichteten Lebenskräfte mehr übriggelassen hätte. Der Hass erfüllt sich nicht in seinem Triumph, in der Vernichtung der anderen, sondern er entleert sich; im Erreichen seines Ziels vernichtet er sich gewissermaßen selbst.
Es ist diese eigentümliche Negativität des Hasses, die sich auch in den terroristischen Selbstmordattentaten manifestiert. Zwar sind sie sicher vor einem anderen ideologischen und kulturellen Hintergrund zu sehen als individuelle Amoktaten.
Aber auch viele Biografien von Terroristen sind charakterisiert durch verhindertes Aufstiegsstreben und empfundene Demütigungen, so dass es zu einer vergleichbaren „Aufladung“ des Ressentiments kommt. Potenziert durch die ideologisch-religiöse Überhöhung und durch den extremen Gruppendruck in der terroristischen Zelle, reichert der Hass sich an, und wie beim Amok richtet sich seine destruktive Energie schließlich nach außen und nach innen gleichermaßen. Mord und Selbsttötung sind dann seine Zwillingsgeschöpfe.
Prekäres inneres Gleichgewicht
Zusammenfassend können wir nun die besondere Macht und Radikalität des Hasses aus einer Umkehrung verstehen. An seiner Wurzel liegen Erfahrungen von beschämender Zurücksetzung, Niederlage oder Demütigung, denen sich die Betroffenen wehrlos gegenüber sehen; sie erleben damit Empörung und Ohnmacht zugleich. Aus diesem Zwiespalt bietet der Hass einen Ausweg: Er mobilisiert langfristig aggressive Gegenenergien mit dem Ziel, die erlittene Schmach durch Schädigung oder Vernichtung der Gegnerinnen und Gegner wieder aus der Welt zu tilgen. Hass kehrt die Schmach um in das Versprechen der zukünftigen Rache.
Hassende gewinnen damit ein neues, freilich prekäres inneres Gleichgewicht, denn es beruht auf einem fortwährend aufgestauten, nagenden und unerfüllten Rachedurst. Zugleich wird das Leben immer leerer von allen nährenden, förderlichen menschlichen Erfahrungen. Darin liegt die gefährliche Dynamik des Hasses: Unbefriedigt wächst er immer weiter, und irgendwann soll sich sein Versprechen einlösen, soll sich die Ohnmacht in den Triumph der Rache umkehren.
Dafür mordete schließlich auch der 17-jährige Michael: Seine Tat sollte alles Beschämende tilgen und das starke, großartige Selbst triumphieren lassen. Der radikale Hass verschreibt sich der Rache, ja dem Bösen, das ihm die Umkehr von Ohnmacht in Allmacht verspricht – auch wenn dieses Versprechen im Fall des Amoklaufs häufig in den Suizid mündet.
Entwicklungen durch die Coronapandemie
Werfen wir von daher noch einen abschließenden Blick auf die heute verbreiteten Formen des Hasses, die freilich keine so extremen Grade erreichen wie die zuvor beschriebenen. Doch auch bei vielen gesellschaftlichen Gruppen herrscht derzeit ein hohes Maß an Frustration, Enttäuschung und Ohnmacht gegenüber gesellschaftlichen und globalen Entwicklungen.
Es entsteht das Grundgefühl, abgehängt zu sein, auf der Strecke zu bleiben, nicht wirklich beachtet und anerkannt zu werden. Dies führt zu Groll, Ressentiments, zur Suche nach Sündenböcken und – sobald sie einmal gefunden sind – zu zunehmendem Hass, sei es gegen Minderheiten oder Eliten.
Die Coronapandemie hat solche Entwicklungen noch gefördert: Gefühle der Frustration, Empörung und der Verbitterung haben sich dabei als eng verknüpft mit der Ausbreitung von Verschwörungstheorien erwiesen, die sich gegen Eliten richten und teilweise auch in Hass und Gewaltbereitschaft münden.
Umgang mit Hass
Wir werden uns also mit dem Hass und seiner fatalen Dynamik noch weiter auseinanderzusetzen haben. Drei Dinge sind dabei bedeutsam:
1. Hass beruht immer auf einer Störung der Kommunikation; wichtig ist daher, den Kontakt zu gekränkten oder verbitterten Menschen nicht abreißen zu lassen, um sie nicht noch weiter in die Isolierung zu treiben.
2. In vielen Fällen kann eine Psychotherapie helfen, die biografischen Wurzeln des Hasses aufzusuchen und frühere Kränkungen zu verarbeiten.
3. In chronischen Hasskonflikten ist schließlich die Mediation ein wichtiges Verfahren, um alle Parteien an einen Tisch zu bringen. Reicht aber der Hass wirklich tief, so dass er zum Teil der eigenen Identität geworden ist, bleibt oft nur die Möglichkeit, ihn mit klaren Grenzen und Sanktionen zu bekämpfen.
Namen, Zeit und Ort im Fallbeispiel wurden geändert
Thomas Fuchs studierte Medizin, Wissenschaftsgeschichte und Philosophie und ist Facharzt für Psychiatrie. Er lehrt seit 2005 als Professor für Psychiatrie und Psychotherapie am Universitätsklinikum Heidelberg. Seit 2010 ist er dort Inhaber der Karl-Jaspers-Professur für philosophische Grundlagen der Psychiatrie und Psychotherapie.