Herr Himmerich, in Ihrem Buch warnen Sie davor, die Winterdepression und den Winterblues allzu stark zu psychologisiere und raten dazu, eher die biologischen und biochemischen Vorgänge für Diagnose und Therapie in Betracht zu ziehen. Welche sind das?
Die biologische Hauptursache für den Winterblues und die Winterdepression ist Lichtmangel. In unseren Breiten bekommen wir im Winter weniger Licht, weil die Tage kürzer sind und die Intensität des Sonnenlichtes geringer ist als im Sommer. Unser Körper empfängt…
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die Tage kürzer sind und die Intensität des Sonnenlichtes geringer ist als im Sommer. Unser Körper empfängt das Sonnenlicht über das Auge und die Haut. Wenn Licht auf die Netzhaut trifft, gelangen von dort Informationen zur Zirbeldrüse, wo das Schlafhormon Melatonin synthetisiert wird. Licht unterdrückt die Melatoninproduktion. Ein Mangel an Licht lässt den Spiegel dieses Schlafhormons steigen. Das führt in der Nacht dazu, dass wir gut schlafen. Im Winter aber kann der Lichtmangel am Tage zu Müdigkeit und Antriebslosigkeit führen. Die Melatoninproduktion geschieht auf Kosten des Glücksbotenstoffs Serotonin. So wird auch unsere Stimmung beeinträchtigt.
Ein zweiter durch den Lichtmangel bedingter Risikofaktor für eine Winterdepression ist folgender: Licht wirkt über die Haut. Hier wird unter Einfluss von Sonnenlicht Vitamin D synthetisiert. Einige Studien konnten zeigen, dass die Winterdepression mit einem Vitamin-D-Mangel einhergeht.
Ein dritter Faktor besteht möglicherweise in den winterlichen Veränderungen im Immunsystem. Diese Veränderungen werden durch die häufigeren Infektionskrankheiten im Winter und durch die Wirkung des Melatonins auf die Immunzellen bewirkt. Erkältungen haben einen Einfluss auf die Entstehung einer Winterdepression.
Wie ist das zu erklären?
Das Immunsystem arbeitet – wie auch das Nervensystem – mit Botenstoffen. Die Botenstoffe des Immunsystems heißen Zytokine. Diese wirken nicht nur auf andere Immunzellen, sondern auch auf das Gehirn. Bestimmte Zytokine werden ausgeschüttet, wenn die körpereigene Immunabwehr bei Erkältungen und Entzündungen aktiv werden soll. Sie sind dafür verantwortlich, dass man sich schon im Vorfeld einer Erkältung abgeschlagen und müde fühlt, obwohl die Krankheit noch gar nicht ausgebrochen ist. Die Aktivierung der Zytokine, die eine Entzündungsreaktion anschieben, ist eng mit depressiven Symptomen assoziiert. Dieser Zusammenhang wurde vielfach untersucht, auch in zwei eigenen Studien, die ich während meiner Zeit am Max-Planck-Institut für Psychiatrie in München und hier an der Universitätsklinik Leipzig durchgeführt habe. Meine Hypothese ist die, dass im Winter die erhöhten Melatoninspiegel und das vermehrte Auftreten von Infektionskrankheiten zu einer übermäßigen Produktion von Zytokinen führen, die dann eine Winterdepression hervorrufen. Durch die Erhöhung des Melatoninspiegels im Winter wird also einerseits unser Immunsystem schärfergestellt, damit wir uns gut gegen Erkältungskrankheiten wehren können; andererseits erkaufen wir uns damit ein erhöhtes Risiko für eine Winterdepression.
Zusammenfassend sind also sehr wahrscheinlich die übermäßige Produktion des Schlafhormons Melatonin, Vitamin-D-Mangel und Veränderungen des Immunsystems die wesentlichen biologischen Gründe für das Auftreten einer Winterdepression. Und diese drei Faktoren sind Folge der geringeren Lichteinstrahlung.
Welche Rolle spielt das herrschende Ideal vom immer gleich leistungsfähigen, dynamischen und aktiven Menschen beim Entstehen der Winterdepression?
Unsere Stimmungen und das Lebensgefühl sind an Jahreszeiten gebunden. Jeder Mensch fühlt sich im Sommer ein wenig anders als im Winter. Ich bin in Münderbach, einem Dorf im Westerwald aufgewachsen. Dort änderte sich das Leben der Menschen und der Tiere mit den Jahreszeiten, was ich als Sohn eines Försters hautnah miterleben konnte.
Doch im Gegensatz zum Leben im Dorf ist die Großstadtgesellschaft über das Jahr hinweg immer gleich und fordert Menschen, die konstant aktiv sind. Ein Landwirt zum Beispiel kann seine Arbeit so einrichten, dass er im Winter etwas weniger zu tun hat und es geruhsamer zugeht. Ein Büroarbeiter kann das nicht. Er muss immer die gleiche Leistung bringen, egal ob Winter oder Sommer ist. Im Winter reicht das Licht der Bürolampe aber nicht aus. Da der Büroangestellte feste Arbeitszeiten hat und er zu der Zeit im Büro sitzen muss, wo es draußen hell ist, geht er weniger raus ins Freie. Möglicherweise hat er darüber hinaus noch weniger soziale Kontakte als im Sommer, denn die Gruppe von Sportfreunden, mit denen er an Sommertagen einmal pro Woche abends im Stadtpark Fußball spielt, trifft sich nicht im Winter. Vielen macht es nichts aus, dass sie immer gleich arbeiten müssen, auch wenn sich die Umwelt um sie herum ändert. Aber einige spüren, dass ihre Natur anders ist und ihr Inneres den Jahreszeiten folgt. Sie können nicht immer eine konstante Leistung erbringen und auch emotional nicht stets gleich sein. Zu den natürlichen und normalen Schwankungen in der Stimmung und der Energie kann Stress auf der Arbeit hinzutreten, weil man nicht so leistungsfähig ist wie im Sommer. So entsteht ein Teufelskreis, der in die Winterdepression führt.
Der Lichtmangel im Winter und die damit einhergehenden Stoffwechselveränderungen im Gehirn betreffen alle Menschen. Warum leidet dann nicht jeder gleichermaßen und vor allem Frauen vermehrt unter einer Winterdepression?
Zu einer Depression tragen viele Faktoren bei, nicht allein der Lichtmangel, sondern beispielsweise auch die genetische Ausstattung. Wie das genau funktioniert, ist noch nicht geklärt. Jeder hat wahrscheinlich eine bestimmte biologische und psychische Ausstattung und verfügt dadurch über bestimmte Resistenzen gegen die Depression. Sobald das Ausmaß ungünstiger Faktoren wie Lichtmangel, Arbeitslosigkeit, körperliche Krankheit oder Stress im Beruf oder in der Beziehung überschritten wird, das man aufgrund seiner körperlichen und psychischen Resistenz aushalten kann, besteht das Risiko für das Auftreten einer Depression.
Ob Frauen wirklich häufiger betroffen sind, wie es in Studien gefunden wird, das bezweifle ich. Frauen berichten häufiger darüber, Männer gestehen sich psychische Probleme eher nicht ein. Bei Männern ist die Suizidrate höher, und der häufigste Grund für einen Suizid ist eine Depression. Vielleicht sind Frauen nur besser in der Lage, über ihre Depressionen zu reden. Männer kompensieren psychische Schwierigkeiten häufiger mit vermehrtem Alkoholkonsum und aggressivem Verhalten. Wenn wir geschlechtsspezifische Diagnosekriterien hätten, wäre die Depression bei Männern und Frauen wahrscheinlich gleich häufig.
Was unterscheidet den Winterblues von der Winterdepression?
Die klinische Diagnose einer „Depression“ ist erfüllt, wenn zwei depressive Kernsymptome und weitere zwei depressive Zusatzsymptome länger als zwei Wochen vorhanden sind.
Depressive Kernsymptome sind der Verlust von Interesse und Freude, eine gedrückte Stimmung und ein verminderter Antrieb. Von einer „Winterdepression“ oder auch einer „saisonalen affektiven Störung“ spricht man, wenn die Depression zwei Jahre in Folge im Herbst oder Winter auftritt und im Frühjahr wieder verschwindet. Die Depression ist eine echte Krankheit. Nur ein paar depressive Symptome, die im Winter regelmäßig auftreten, stellen noch keine Depression im Sinne einer Krankheit dar. In diesem Fall spricht man vom „Winterblues“. Es kann in manchen Fällen schwierig sein, normales Verhalten von krankem abzugrenzen. Im Winter gibt es Veränderungen, die normal sind, weil wir Menschen Lebewesen und keine Arbeitsmaschinen sind. Etwa 20 Prozent der Bevölkerung haben im Winter ein vermehrtes Schlafbedürfnis und verminderte Aktivität. Aber nur bei ein bis zwei Prozent davon sind die Diagnosekriterien der Winterdepression erfüllt. In diesem Falle sollte man einen Spezialisten aufsuchen.
Wenn die Tage kürzer werden und die Stimmung trüb – wie kann man früh gegensteuern?
Wichtig ist vor allem, genügend Licht zu bekommen. Wesentlich für alle Betroffenen ist deswegen, sich genügend im Freien aufzuhalten. Reicht das nicht, empfehle ich, sich eine Lichttherapielampe anzuschaffen, die eine Leuchtstärke von 10 00 Lux erreicht, und diese morgens 30 Minuten lang zu nutzen. Die Lichttherapie sollte nicht abends angewendet werden, denn das kann Schlafstörungen verursachen. Man kann überlegen, den Sommerurlaub in den Winter zu verschieben und dorthin zu fahren, wo es viel Sonne gibt.
Es gibt eine Reihe von pflanzlichen Mitteln, die man bereits zu Herbstbeginn anfangen kann einzunehmen, zum Beispiel Johanniskraut in einer Dosis von 600 bis 900 Milligramm Extrakt pro Tag. Bei ängstlicher Symptomatik hilft Lavendel, was wir in unserer Klinik in Form von Kapseln einsetzen. Auch mit Vitamin-D-Tabletten und gesunder Ernährung kann man viel erreichen. Diätetisch sind ungesättigte Fettsäuren, wie sie im Lachs, Aal oder atlantischen Hering vorkommen, bei Depressionen sinnvoll.
Empfehlenswert ist, was Freude macht und für was man sich interessiert. Neben Musik und Sport bietet möglicherweise auch religiöse Betätigung einen Weg aus der Winterdepression. Die Adventszeit wird in der christlichen Religion eigentlich als spirituelle Fastenzeit verstanden. Das wäre eine sinnvolle Gegenmaßnahme zur übermäßigen Nahrungsaufnahme, wie sie für die Winterdepression typisch ist und wie sie auf zahlreichen sogenannten Advents- und Weihnachtsfeiern zelebriert wird.
Zusammenfassend ist mein Rat, auszuprobieren, was hilft: täglich ins Freie gehen, regelmäßig Lichttherapie, Sport treiben, gesunde Ernährung, sich mit anderen Menschen treffen, Musik oder Religion. Gerade Musik kann viel helfen, das weiß ich aus eigener Erfahrung. Ich selbst spiele Klavier in einer Bluesband.
Äußert sich die Winterdepression bei Kindern und Jugendlichen anders als bei Erwachsenen? Und wie verändert sie sich im Lauf des Lebens?
Bei Kindern muss man genau hinsehen. Es sind oft nicht die typischen depressiven Symptome, sondern Reizbarkeit, aggressives Verhalten oder sozialer Rückzug. Außerdem mischen sich die Anzeichen von Winterblues und Winterdepression mit Pubertätsproblemen. Im Allgemeinen haben gesunde Jugendliche aber viel Energie, und die meisten kommen in der Schule zurecht. Man sollte sich daher hüten, Konzentrationsschwäche und Lethargie auf die Pubertät zurückzuführen. Winterdepressive Kinder fallen nicht so auf wie beispielsweise ein Zappelphilipp. Das führt dazu, dass ihr Problem oft nicht erkannt wird. Dabei kann man Kindern gut helfen, mit Bewegung im Freien, behutsamem Wecken, Reden über Wutanfälle und Hilfe bei den Hausaufgaben. Auch die Lichttherapie hilft bei Kindern. Das Risiko für die Winterdepression bleibt leider das ganze Leben. Von unseren Patienten höre ich häufig, dass sie schon als Schüler unter den Symptomen gelitten haben.
Geht es Winterdepressiven im Sommer automatisch besser?
Es gibt Menschen, die zur saisonalen Bipolarität neigen, also zu gedrückter Stimmung im Winter und übertrieben guter Stimmung im Frühjahr oder Sommer. Manche sind im Frühjahr nur kurz übermäßig froh, andere erleben ein unnatürliches Hoch mit erhöhter sexueller Aktivität und vermehrten Geldausgaben, oder sie quasseln unaufhörlich. Wenn im Frühjahr ein solcher Zustand auftritt oder sich eine Winterdepression nicht bessert, ist eine fachmännische Therapie angezeigt.
Wenn ein Freund oder ein Familienmitglied unter dem Winterblues, gar einer Winterdepression leidet, wie geht man damit um?
Es ist wichtig, sich zu informieren, wie eine Winterdepression zustande kommt, damit man sie als biologischen Vorgang und als Krankheit akzeptieren kann. Der Betroffene sollte nicht allein gelassen, sondern im Winter entlastet werden. Ungeduld, Kritik und Streit über Kleinigkeiten sind nicht hilfreich. Doch auch vollständige Entlastung von allen Aufgaben ist nicht günstig. Der Betroffene sollte seine Kompetenzen und damit sein Selbstbewusstsein behalten. Als Freund, Angehöriger oder Partner muss man sich abgrenzen können. Es ist nämlich vor allem wichtig, selbst gesund zu bleiben. Wenn man den Eindruck hat, dass es sich beim Freund oder Partner um eine richtige Depression handelt, sollte man ihn kompromisslos zum Arzt schicken.
Wie würden Sie den englischen Begriff Winterblues ins Deutsche übersetzen?
Das ist eine schwierige Frage. Winterblues beschreibt die winterliche Verringerung von Energie und Lebensfreude bei vermehrtem Appetit und erhöhtem Schlafbedürfnis. „Wintertrübsinn“ wäre eine schöne, leider aber nicht gebräuchliche deutsche Übersetzung.
Hubertus Himmerich ist Professor für Neurobiologie und Oberarzt an der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Universität Leipzig. Er befasst sich unter anderem mit der Entstehung von Depressionen sowie mit der Wirkung von Lichttherapie.