Der Apostroph ist ein unscheinbares Zeichen, kaum größer als ein i-Punkt und eigentlich – so sollte man meinen – entsprechend leicht zu übersehen. Manche Menschen haben für ihn jedoch einen ziemlich guten Blick entwickelt. Zum Beispiel Bastian Sick: Im Januar 2004 widmete der Journalist und Buchautor dem Auslassungszeichen eine 6500Zeichen-Kolumne auf Spiegel Online. Darin befürchtete er einen „alles verheerenden Häk’chen-Hagel“, beklagte die „Mango’s und Kiwi’s“, die neuerdings verkauft würden, und dass…
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nun „recht’s“ rausfahren müsse.
Seit mehr als einem Vierteljahrhundert verdient Sick seine Brötchen damit, andere zu korrigieren. Zum Apostroph pflegt er ein besonders angespanntes Verhältnis. In seinem zuletzt erschienenen Buch Schlagen Sie dem Teufel ein Schnäppchen (KiWi, Köln 2017) räumt der 52-Jährige dem „Amoklauf“ des oft missbrauchten Satzzeichens ganze acht Seiten ein. Material hat Sick genug – nicht nur, weil ihn seine Leser regelmäßig mit neuen Fundstücken versorgen. Er hält kuriose Apostrophierungen auch selbst mit der Kamera fest. „Wenn man auf eine bestimmte Sache aufmerksam geworden ist, sieht man sie plötzlich überall“, sagt er.
Was macht der Job aus uns?
Der Korrektor, der überall Fehler sieht. Die Lehrerin, die mit Erwachsenen spricht, als wären sie Schüler. Der Polizist, der stets das Schlechteste von seinen Mitmenschen denkt. Sind das Klischees? Wie sehr prägt unser Beruf unsere Weltanschauungen, unser Verhalten, unsere Vorlieben? Kann er gar unsere Persönlichkeit verändern? Wer hat nicht schon einmal nach Jahren einen Bekannten wiedergetroffen und sich gefragt: Was ist bloß aus dem geworden?
Viele von uns verbringen den größten Teil ihres wachen Alltags mit Arbeit. Dass uns das beeinflusst, scheint klar, allein schon, weil wir uns im Beruf neue Kenntnisse und Fertigkeiten aneignen. „Man muss sich als Korrekturleser mit den Regeln vertraut machen“, sagt etwa Bastian Sick. „Der Duden ist für mich das selbstverständlichste Buch nach der Bibel.“ Unser Job macht uns also in einem bestimmten Bereich zu Experten. Und die sehen die Welt mit anderen, geschulteren Augen als Laien.
Neben dem Wissen, das wir uns zwangsläufig aneignen, üben wir am Arbeitsplatz Tag für Tag bestimmte Verhaltensmuster ein. Die Psychologin Claudia Harzer von der TU Darmstadt hält es für plausibel, dass diese mit der Zeit auch auf das Privatleben abfärben (siehe Interview auf Seite 77). „Das ist ja das Verhalten, das wir die meiste Zeit des Tages zeigen“, sagt sie. „Damit besteht natürlich auch die Möglichkeit, dass es sich verselbständigt.“
Die Persönlichkeit steckt auch in den Genen
Umstritten ist bislang, wie tiefgehend derartige Änderungen sind. Berühren sie auch den Kern unseres Wesens, unsere Persönlichkeit? Diese galt lange Zeit als in Stein gemeißelt, Änderungen im Erwachsenenalter hielten viele Wissenschaftler für ausgeschlossen (siehe Kasten). Tatsächlich zeigen Studien, dass die Persönlichkeit eines Menschen zum Teil in den Genen festgelegt ist. Auf 50 bis 80 Prozent wird der Einfluss des Erbguts geschätzt. Das klingt nach viel. Im Umkehrschluss bedeutet es jedoch auch, dass die Persönlichkeitsunterschiede zwischen zwei Menschen bis zur Hälfte auf äußere Einflüsse zurückzuführen sind.
„Inzwischen wissen wir, dass sich die Persönlichkeit im Laufe des Lebens durchaus verändert – und zwar abhängig von den Erfahrungen, die wir machen“, erklärt die Psychologin Gundula Stoll. „Wir werden sicher nicht von heute auf morgen ganz andere. Und trotzdem wandeln wir uns mit den Rollen und Aufgaben, die wir übernehmen.“ Noch ist die Zahl belastbarer Studien, die diesen Zusammenhang belegen, überschaubar. An der Universität Tübingen, wo Gundula Stoll forscht, wurde vor einigen Jahren eine von ihnen durchgeführt. 1200 Gymnasiasten nahmen teil. In ihrem letzten Schuljahr absolvierten sie einen Test, mit dem sich fünf übergeordnete Persönlichkeitsmerkmale, die sogenannten Big Five (siehe Kasten) messen lassen. Zwei Jahre später wurde dieser Test wiederholt. In der Zwischenzeit hatten rund 1000 Teilnehmer ihren Zivildienst abgeleistet; der Rest hatte einen neunmonatigen Pflichtdienst bei der Bundeswehr absolviert.
Wir werden reifer
Im Schnitt waren alle Probanden in diesen zwei Jahren gewissenhafter, verträglicher und emotional stabiler geworden. Das weist auf einen altersabhängigen Reifeprozess hin, wie er auch in anderen Studien gefunden wurde. Allerdings: Die Werte der Soldaten in der Dimension „Verträglichkeit“ lagen beim zweiten Test insgesamt signifikant niedriger als die der Zivildienstleistenden. Das galt auch dann, wenn die Unterschiede, die bereits beim ersten Test bestanden hatten, herausgerechnet wurden. Verträgliche Menschen sind mitfühlend, kooperativ und bereit, in Konflikten auch mal einzulenken. Der Militärdienst scheint negativ auf diese Eigenschaften zu wirken – und zwar langfristig: Die gemessenen Veränderungen bestanden auch bei einer weiteren Testung vier Jahre später noch fort.
Ein Pflichtdienst ist etwas anderes als ein Beruf, könnte man einwenden. Das stimmt zwar, schmälert jedoch nicht unbedingt die Übertragbarkeit der Ergebnisse. Bei klassischen Arbeitsverhältnissen könnte die Prägung sogar noch stärker ausfallen. So haben zehn Jahre bei derselben Firma möglicherweise stärkere Auswirkungen als neun Monate beim Militär. Außerdem vermuten Experten wie Claudia Harzer, dass Menschen gerade dann von ihrer Arbeit geformt werden, wenn sie sich stark mit ihr identifizieren. Das dürfte bei einer frei gewählten Tätigkeit häufiger der Fall sein als bei der früher noch verpflichtenden Entscheidung zwischen Bundeswehr und Zivildienst.
Persönlichkeit prägt Berufswahl
Die Studie offenbart noch einen zweiten wichtigen Zusammenhang: Die Entscheidung pro oder contra Bundeswehr hing deutlich von der Persönlichkeit der jungen Männer ab. Jene, die später zum Bund gingen, waren bereits in der Schule weniger verträglich und offen als Gleichaltrige, die später den Ersatzdienst wählten. „Wir suchen uns gerne Berufe aus, die zu unseren Einstellungen und Fähigkeiten passen“, sagt Gundula Stoll. Experten sprechen von „Selbstselektion“, wobei bei der Berufswahl auch Faktoren eine wichtige Rolle spielen, die nicht in unserer Persönlichkeit begründet liegen (siehe Kasten auf Seite 74).
Überraschend ist dieser Befund nicht. Er zeigt aber, dass man mit kausalen Erklärungen vorsichtig sein sollte. Wenn beispielsweise eine Studie ergäbe, dass Polizisten im Schnitt misstrauischer und autoritärer sind als andere Berufsgruppen, wüsste man damit noch lange nichts über das Warum: Ist Misstrauen eine Folge des Polizeiberufs – also eine déformation professionnelle, um den plakativen Begriff des belgischen Soziologen Daniel Warnotte zu verwenden? Oder fühlen sich misstrauische und autoritäre Personen einfach besonders zum Polizeidienst hingezogen? Denkbar ist auch eine dritte Alternative: Eventuell wählt der Polizeiapparat bevorzugt Bewerber aus, die diese Eigenschaften mit sich bringen.
Vielleicht gibt es sie ja tatsächlich, die „typischen“ Polizisten, Anwälte oder Lehrer. Das bedeutet aber nicht zwangsläufig, dass sie durch ihren Job so geworden sind. Stattdessen spricht viel dafür, dass dabei mehrere Mechanismen zusammenwirken. Aufklären lassen sich diese Zusammenhänge nur, indem man die Persönlichkeitsentwicklung von Menschen über Jahre oder gar Jahrzehnte beobachtet und gleichzeitig wichtige Ereignisse in ihrem Leben protokolliert. Dann zeigt sich zum Beispiel, welche Teilnehmer besonders oft bestimmte Berufe wählen und ob sich ihr Wesen durch diese Wahl in charakteristischer Weise verändert.
Eine solche Studie startete vor ziemlich genau 45 Jahren in Dunedin auf der Südinsel Neuseelands. Zwischen dem 1. April 1972 und dem 31. März 1973 wurden im dortigen Queen-Mary-Krankenhaus 1037 Jungen und Mädchen geboren, deren Lebensweg seitdem wissenschaftlich begleitet wird. Alle paar Jahre werden unter anderem ihre Lebensumstände erfasst, also etwa ihr schulischer und beruflicher Werdegang, und regelmäßig durch Persönlichkeitsmessungen ergänzt.
Wir finden den Job, der zu uns passt
Bis heute sind mehr als 1200 Publikationen und Berichte aus diesem Konvolut aus Zahlen und Fakten hervorgegangen. Sie bestätigen unter anderem die zentrale Erkenntnis der Tübinger Wehrdienststudie – nämlich dass der Zusammenhang zwischen beruflicher Tätigkeit und Persönlichkeit keine Einbahnstraße ist. Das zeigt etwa eine Analyse von Dunedin-Daten, die Psychologen um Brent Roberts durchgeführt haben. Sie konnten einerseits nachweisen, dass das Naturell darüber mitentscheidet, welchen Berufsweg Menschen einschlagen. Wer etwa mit 18 überdurchschnittlich sozial dominant ist, bekleidet mit 26 häufiger eine Führungsposition. Andererseits ändern die beruflichen Erfahrungen aber auch bestimmte Persönlichkeitseigenschaften: Wer in jungen Jahren eine leitende Position erklimmt, wird dadurch auch sozial dominanter.
Wir finden also einen Job, der zu unseren Wesenszügen passt, und ebendiese werden dann durch unsere Arbeit weiter verstärkt. Brent Roberts nennt dieses Zusammenspiel korresponsiv. Für Gundula Stoll liegt dieser Befund ein Stück weit auf der Hand: „Es dürfte eher selten so sein, dass jemand einen Beruf ausübt, der gar nicht seinem Wesen entspricht – zumindest nicht über eine Zeit, die lang genug wäre, dass er durch diesen Beruf verändert wird. Das erklärt natürlich, warum durch die Arbeit vor allem diejenigen Eigenschaften gefestigt werden, die ohnehin schon da waren.“
Anders gesagt: Möglicherweise könnte uns ein unpassender Job sehr wohl zu anderen machen – wenn wir es nur lange genug in ihm aushielten. Die Persönlichkeitspsychologin Jule Specht von der Berliner Humboldt-Universität etwa bezweifelt, dass unsere Tätigkeit die Persönlichkeit lediglich schärft. Stattdessen sieht sie in vielen Studien auch Belege für nichtkorresponsive Effekte. „Dass ein extravertierter Mensch mit den Jahren etwas schüchterner wird oder umgekehrt, ist keine Seltenheit“, sagt sie. Allerdings hält auch sie es für wenig wahrscheinlich, dass sich jemand im Laufe seines Lebens komplett verändert.
Verbiegen funktioniert nicht
In einem Punkt jedoch stimmen die meisten Wissenschaftler überein: Wenn wir uns am Arbeitsplatz komplett verbiegen müssen, machen wir das in der Regel nicht lange mit. Entweder gelingt es uns, die Schwerpunkte innerhalb unseres Jobs zu verschieben und uns so eine passende Nische zu schaffen – oder wir gehen.
Diese Konsequenz hat beispielsweise Bianca Wörns aus Mannheim gezogen. Mit 17 hatte die heute 40-Jährige eine Banklehre begonnen und dann stetig die Karriereleiter erklommen. Irgendwann – sie war inzwischen Wertpapierberaterin – wurde ihr der Druck zu groß. Als sie schwanger wurde, nutzte sie die berufliche Auszeit, um sich Gedanken über ihre Zukunft zu machen. „Mir war bald klar, dass ich nach der Geburt nicht zur Bank zurück wollte“, erinnert sie sich. „Eigentlich hatte ich ohnehin immer etwas Handwerkliches machen wollen.“ Nach langem Überlegen begann sie eine Ausbildung zur Schreinerin, die sie 2013 als Prüfungsbeste abschloss. Ein Zeitungsfoto zeigt die damals 36-Jährige zwischen ihren halb so alten Klassenkameraden. Sie habe sich in der Bank nie fehl am Platz gefühlt, sagt Bianca Wörns. „Aber als Schreinerin bin ich jeden Tag glücklich und zufrieden nach Hause gekommen. Als Wertpapierberaterin hatte ich dieses Gefühl nie.“
Wörns’ Beispiel bestätigt ein Phänomen, das auch wissenschaftliche Analysen belegen: Wenn wir den Beruf wechseln, dann meistens zugunsten eines Jobs, der besser zu uns passt. Der niederländische Psychologe Jaap Denissen hat diesen Zusammenhang kürzlich an einer umfangreichen Stichprobe zeigen können. Er nutzte dazu das sogenannte Sozio-oekonomische Panel, eine Langzeiterhebung, die zu den ergiebigsten und belastbarsten Datenquellen im deutschsprachigen Raum zählt.
Die Studie basiert auf Angaben von fast 7000 Teilnehmern. Sie alle waren in den Jahren 2005 und 2009 unter anderem zu ihrer augenblicklichen Beschäftigung befragt worden. Zusätzlich hatten sie zu beiden Zeitpunkten einen Persönlichkeitstest durchgeführt. Die Befragten waren insgesamt in knapp 300 verschiedenen Berufen tätig. Mitarbeiter der Bundesagentur für Arbeit analysierten nun zunächst, welche Persönlichkeitseigenschaften in jedem dieser Jobs besonders gefordert sind. Die Tätigkeit als Priester etwa stellt nach Ansicht der Experten hohe Ansprüche an die Verträglichkeit, Polizisten müssen dagegen besonders gewissenhaft sein.
Nun untersuchte Denissen anhand dieser Anforderungsprofile, inwieweit der Beruf der Befragten zu den Ergebnissen ihres Persönlichkeitstests passte. Die Analyse bestätigt zum einen den bereits erwähnten „Selbstselektionseffekt“: Die Probanden hatten in der Regel einen Job, der ihrem Wesen entsprach. Verträgliche Menschen arbeiteten also beispielsweise häufiger als Priester als in einem Beruf, in dem dieser Charakterzug nicht vonnöten ist. Aufschlussreich ist zudem der Blick auf diejenigen, die ihre Stelle im Erhebungszeitraum gewechselt hatten: Ihr neuer Beruf passte im Schnitt besser zu ihrer Persönlichkeit als der alte.
Wir vermeiden zu starken Anpassungsdruck
Werden wir durch unsere Arbeit nun zu anderen Menschen? Oder macht sie uns doch eher nur zu denen, die wir bereits sind – allein schon deshalb, weil wir Erfahrungen meiden, die uns unter starken Anpassungsdruck setzen? Vieles spricht momentan für die zweite These, im Grunde auch der Werdegang von Bastian Sick.
Der hatte schon immer ein enges Verhältnis zur deutschen Sprache. „Als ich Abitur machte, wollte ich ursprünglich Deutschlehrer werden“, sagt er. „Doch damals waren die Berufsaussichten so verheerend, dass uns davon abgeraten wurde.“ Stattdessen stolperte er in den Job als Korrektor: Zunächst als Student beim Carlsen-Verlag, wo er die Rechtschreibung in den Tim und Struppi-Comics kontrollierte, und später als Dokumentationsjournalist beim Spiegel, wo er die Texte der Kollegen auf Fehler durchsuchte. Bekannt wurde er dort schließlich mit einer Kolumne, dem „Zwiebelfisch“, in der er die sprachlichen Marotten seiner Mitmenschen aufs Korn nahm. Inzwischen wurden seine Texte sogar in Schulbüchern nachgedruckt.
„So ist Bastian Sick am Ende doch noch in der Schule gelandet – mit dem Unterschied, dass er morgens nicht so früh aufzustehen braucht“, heißt es in einem Imagefilm auf seiner Website. Man könnte es auch anders ausdrücken: Der Mann, der einst Schülern die Feinheiten der deutschen Sprache nahebringen wollte, ist heute der Deutschlehrer der Nation.
Ist unsere Persönlichkeit fest oder flexibel?
Mitte der 1930er Jahre durchforsteten die Psychologen Gordon Allport und Henry Odbert das Webster’s New International Dictionary nach sämtlichen Begriffen, die Persönlichkeitseigenschaften beschreiben – 4504-mal wurden sie fündig. Persönlichkeit hat zahlreiche Facetten; viele sind sich allerdings ähnlich oder hängen voneinander ab. Heute operieren Psychologen häufig mit den Big Five, die Allport und Co damals entwickelten, fünf übergeordneten Charakterzügen, die sämtliche Merkmale des menschlichen Wesens subsumieren sollen: emotionale Stabilität, Extraversion, Offenheit für neue Erfahrungen, Verträglichkeit und Gewissenhaftigkeit.
Auch im Alter verändert sich die Persönlichkeit
Bei den meisten Menschen steigen die Werte für emotionale Stabilität, Verträglichkeit und Gewissenhaftigkeit in jungen Jahren an. Ab 30 verändere sich die Persönlichkeit jedoch kaum noch, vermuteten viele Psychologen lange. Neuere Untersuchungen legen anderes nahe. So hat etwa Jule Specht, Professorin an der Humboldt-Universität zu Berlin, bei Personen im letzten Lebensdrittel ähnlich große Wesensveränderungen gefunden wie im jungen Erwachsenenalter. „Studien zufolge werden Menschen im Alter verträglicher, emotional stabiler und weniger gewissenhaft, man könnte auch sagen: relaxter“, sagt sie. Als Ursache vermutet sie unter anderem den Übergang in den Ruhestand: „Der Wecker klingelt nicht mehr jeden Tag um 6.30 Uhr, der tägliche Druck lässt nach, die Menschen gewinnen in gewisser Weise wieder mehr Freiraum in ihrem Leben.“ Ihr Kollege Herbert Marsh hat dafür einen eigenen Begriff geprägt, den La-Dolce-Vita-Effekt.
Einschneidende Ereignisse prägen uns
Auch andere einschneidende Ereignisse – eine Heirat, die Geburt eines Kindes, der Tod des Partners – können laut neuerer Forschung die Persönlichkeit beinflussen. Bei Arbeitslosen sind diese Änderungen besonders tragisch: Nach einem ungewollten Jobverlust werden die Betroffenen einer Analyse der University of Stirling zufolge langfristig weniger verträglich. Bei Männern sinken auch die Werte bei Gewissenhaftigkeit und der Offenheit für neue Erfahrungen. Damit dürften sie es noch deutlich schwerer haben, eine neue Tätigkeit zu finden.
Was beeinflusst unsere Berufswahl?
Nico Rosberg gewann 2016 die Formel-1-WM, genau wie 1982 sein Vater Keke. Moritz Bleibtreu ist ein erfolgreicher Schauspieler; seine Mutter Monica war bis zu ihrem Tod eine gefragte Charakterdarstellerin. Monika Hohlmeier zog es früh in die Politik – wie schon zuvor ihren Vater Franz Josef Strauß. Dass der Nachwuchs in die Fußstapfen seiner Eltern tritt, ist ein altbekanntes Phänomen. Wissenschaftler sprechen auch von „beruflicher Vererbung“ (occupational inheritance). Gründe dafür gibt es einige. So bekommen viele Kinder von klein auf einen Einblick in die Berufsfelder, in denen Vater oder Mutter tätig sind. Sie können diese Tätigkeiten also besser einschätzen als andere, von denen sie womöglich nur ungefähre Vorstellungen haben. Wer sich bei einer Entscheidung unsicher ist, tendiert oft zu der Alternative, die er am besten kennt.
Möglicherweise fördern Eltern bei ihren Kindern zudem vorwiegend solche Interessen, die sie selbst teilen: Die Biologin besorgt ihrem Sohn ein Terrarium, der Deutschlehrer sorgt dafür, dass der Nachschub an Kinderbüchern nie versiegt, und der Kfz-Mechaniker lässt seine Kinder beim Ölwechsel helfen. „Eltern haben vermutlich einen starken Einfluss darauf, für welche Dinge sich ihre Kinder später interessieren“, sagt Gundula Stoll von der Universität Tübingen. „Allein schon dadurch, dass sie ihnen die Möglichkeit geben, bestimmte Erfahrungen zu machen. Wer schon mal mit Lego gespielt hat, merkt schnell, ob ihm das Spaß macht. Wer dagegen noch nie mit einer Tätigkeit in Berührung gekommen ist, weiß oft gar nicht, dass sie ihm gefallen könnte.“
Mitunter erteilen Eltern ihren Kindern sogar eine Art versteckten Auftrag – wenn sie beispielsweise selbst nicht den ersehnten Traumberuf ergreifen konnten, das nun aber stellvertretend von Sohn oder Tochter erwarten. Meist sind diese „Delegationen“ beiden Parteien gar nicht bewusst. Und es gibt noch andere Einflüsse, die unterschwellig wirken. So haben schon Kinder sehr genaue Vorstellungen davon, welche Berufe eher für Mädchen und welche für Jungen geeignet sind. Die Eltern wirken hier als Vorbilder: Wenn etwa Mütter in Männerberufen arbeiten, entwickeln ihre Töchter seltener Interessen, die als frauentypisch gelten.
Eine wichtige Rolle spielt auch das soziale Umfeld: Oberschichtkinder hegen im Schnitt ehrgeizigere Berufspläne als solche aus ärmlicheren Verhältnissen. Und nicht nur das: Sie erwarten auch eher, dass sie ihre hochgesteckten Karriereziele erreichen werden.
Welchen Job wir wählen, hängt also von frühester Kindheit an von verschiedensten Faktoren ab. Experten sprechen auch von einer „Sozialisation für den Beruf“, im Gegensatz zur „Sozialisation durch den Beruf“ – die beschreibt, wie die Arbeit auf unsere Persönlichkeit wirkt. Allerdings können wir uns von diesen Einflüssen auch emanzipieren, wie eine aktuelle Untersuchung aus der Schweiz zeigt.
Demnach ergreifen Lehrerkinder zwar als Erwachsene öfter den Lehrerberuf. Im Laufe ihrer Karriere wechseln sie dann aber häufiger in einen anderen Tätigkeitsbereich. Wer seinen Job hauptsächlich deshalb wählt, weil Mutter oder Vater ihn auch ausüben, muss mit der Zeit eben möglicherweise feststellen, dass er doch nicht der passende ist – und wechselt dann, wenn möglich.
„Wir können uns nicht unendlich verbiegen“
Frau Professor Harzer, werden wir andere durch unseren Beruf?
Ja und nein. Einerseits suchen wir uns unseren Beruf nicht zufällig aus, sondern weil er zu unserer Persönlichkeit und unseren Interessen passt. Andererseits gelten für jede Arbeitsstelle Regeln und Normen, von denen wir vielleicht vorher gar nichts wussten. Und daran passen wir uns dann üblicherweise an.
Manche Wissenschaftler sprechen gar von einer déformation professionnelle. Das klingt, als würde uns die Arbeit in einer Weise formen, die unserem eigentlichen Wesen gar nicht entspricht. Ist das so?
Nein, das glaube ich nicht. Wir können uns durch unseren Beruf verändern, aber nur in eine Richtung, die unserer Persönlichkeit nicht komplett entgegenläuft. Wenn der Job gar nicht zu uns passt, wechseln wir eher die Stelle, als dass wir uns unendlich verbiegen.
Es gibt ja das Klischee, dass Lehrer auch in Diskussionen mit Freunden gerne die großen Welterklärer spielen. Ist da etwas dran?
Ja. Wenn wir im Arbeitsalltag immer wieder ganz bestimmte Verhaltensweisen an den Tag legen, dann hat das ziemlich sicher auch im Privatleben einen Einfluss auf unser Handeln. Lehrer bestimmen, wo es langgeht, sie erklären, sie korrigieren – und das den ganzen Schultag lang. Es ist ganz automatisch so, dass sie dieses Verhalten zum Teil verinnerlichen und es auch außerhalb ihres Arbeitsbereichs zeigen.
Wie können wir solche Einflüsse beherrschen?
Ich glaube, Einsicht ist der beste Weg zur Besserung. Wenn wir uns immer vor Augen führen, in welchem Kontext wir uns gerade befinden, können wir uns auch adäquat verhalten – und zum Beispiel den Impuls, unseren Gesprächspartner zu korrigieren, zu ignorieren versuchen.
Kann unsere berufliche Tätigkeit auch den Kern unserer Persönlichkeit verändern?
Es kommt darauf an, wie man Persönlichkeit definiert. Die Big Five gelten als relativ schwer veränderbar. Anders sieht es mit Eigenschaften wie Teamfähigkeit, Kreativität oder Ausdauer aus; das ist der Bereich, zu dem ich forsche. Diese Charaktermerkmale werden gestärkt, indem man sie nutzt. Sie bilden den Teil der Persönlichkeit, der sich verändern kann, wenn man einen neuen Job antritt, und man kann sie auch gezielt trainieren.
Welche Menschen werden durch ihren Beruf besonders stark geprägt?
Vor allem diejenigen, die sich sehr mit ihrer Arbeit identifizieren. Es gibt ja unterschiedliche Berufsorientierungen: Entweder ich gehe arbeiten, um Geld zu verdienen – dann ist es eigentlich egal, was ich tue. Oder ich nehme den Beruf als Berufung wahr. In diesem Fall möchte ich zu meiner Tätigkeit passen.
Und was passiert, wenn wir uns nicht mehr mit unserem Beruf identifizieren können – zum Beispiel aufgrund einer Lebenskrise oder geänderter persönlicher Umstände?
Identifikation ist sehr wichtig; wenn sie fehlt, sinkt die Arbeitszufriedenheit. Eine Schlüsselrolle spielen in diesem Zusammenhang unsere Signaturstärken. Das sind die Stärken, die bei uns am höchsten ausgeprägt sind und die uns ausmachen. Wir nehmen unseren Beruf eher als Berufung wahr, wenn wir diese Stärken regelmäßig im Arbeitsalltag einsetzen können. Und das führt wiederum zu einer höheren Leistungsfähigkeit und mehr Zufriedenheit. Wir können gezielt trainieren, unsere Signaturstärken möglichst häufig zu nutzen. Es gibt Coaching-Angebote, die darauf abzielen – nach meinen Forschungsergebnissen durchaus mit langfristigem Erfolg. Zusätzlich kann natürlich auch ein Wechsel des Aufgabenbereichs helfen. Oder sich einen neuen Job zu suchen.
Steht da nicht auch der Arbeitgeber in der Pflicht?
Sicher. Unternehmen fokussieren oft zu sehr auf die Schwächen ihrer Mitarbeiter. Dabei ist es viel besser, über individuelle Stärken zu reden. Dann wird es mit der Zeit auch normal, Arbeitsaufgaben danach zu verteilen, was der jeweilige Mitarbeiter besonders gut kann und besonders gerne tut. Doch mit Stärkenorientierung tun sich Firmen in Deutschland oft noch schwer.
Claudia Harzer ist Vertretungsprofessorin für psychologische Diagnostik, Evaluation und Intervention an der TU Darmstadt. Die 36-Jährige erforscht unter anderem, welche Rolle individuelle Charakterstärken im Berufsleben spielen
Quellen zum Dossier "Mein Job, das bin ich?", Heft 01/2018, S. 70
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Jaap J. A. Denissen u. a.: Longitudinal transactions between personality and occupational roles: A large and heterogeneous study of job beginners, stayers, and changers. Developmental Psychology, 50, 2014, 1931–1942. DOI: 10.1037/a0036994
Martin Gublera u. a.: An apple doesn’t fall far from the tree – or does it? Occupational inheritance and teachers' career patterns. Journal of Vocational Behavior, 100, 2017, 1–14. DOI: 10.1016/j.jvb.2017.02.002
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