Eine kleine Philosophie der Liebe

Die Liebe zu begreifen ein schwieriges Unterfangen. Sie ist weder rein körperlich noch rein geistig. Was hat es mit ihr auf sich?

Zwei nackte Oberkörper sind innig miteinander verschränkt und lieben sich mit Körper und Geist
Liebe ist das Gegenteil von Verstehen. © EyeJoy/Getty Images

Über Liebe zu schreiben ist immer eine Gratwanderung hart am Abgrund zum gefühligen Kitsch. Allzu oft läuft dabei in unseren Hinterköpfen ein Film aus dem märchenhaften Gefühlskino ab. Der klassische Plot: Auf wildes Verliebtsein und viele Wirren folgt das Happy End: die Liebe für die Ewigkeit. Im Abspann heißt es dann: „Und wenn sie nicht gestorben sind, dann lieben sie noch heute.“ Die Rede von „Lebensabschnittsgefährten“ zeigt jedoch, dass die Realität allzu oft nicht dem romantischen Drehbuch folgt.

Und…

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Und doch: Nichts bestimmt unser Leben so sehr wie die Liebe. Kaum ein Film und nur die wenigsten Romanhandlungen kommen ohne irgendeine Form der Liebesbeziehung und die damit verbundenen Gefuhlsregungen aus. Alle erdenklichen Formen ekstatischer Glucksgefuhle der Liebe sind in den Medien ebenso allgegenwärtiges Thema wie ihre Perversionen. Liebe, so scheint es, ist gleichermaßen elementarste Form menschlicher Beziehung wie Sehnsuchtsort und Fluchtpunkt. Wer liebt, tritt aus den profanen Gerichtsbarkeiten des Lebens heraus, lebt in einem anderen Zustand des Seins, denkt und fuhlt jenseits aller Erwägungen von Nutzlichkeit und Berechenbarkeit.

Will man das Phänomen Liebe erklären, darf man vor allem nicht vergessen, dass in puncto Liebe jeder sein eigener Experte ist. So ist Liebe für viele ein Gefühl, andere sehen darin lediglich eine Suggestion unserer Vernunft zum Zweck biologischer Arterhaltung. Doch welche Modelle zur Erklärung des Phänomens Liebe hält die Philosophie bereit?

Grundsätzlich lassen sich die philosophischen Theorien der Liebe auf drei Basismodelle zurückführen:

1. das Verschmelzungsmodell

2. das Modell der selbstlosen Sorge, auch Care­Modell genannt

3. das Modell personaler Gemeinschaft oder auch Dialogmodell.

Das Vermächtnis der Kugelmenschen

Eine wunderbare Beschreibung für das Verschmelzungsmodell findet sich in Platons Dia­log Symposion. Zur allgemeinen Unterhaltung sollen die Teilnehmer eines Gastmahls der Reihe nach das Wesen des Eros erklären. Als der Komödiendichter Aristophanes an die Reihe kommt, gibt er einen alten Mythos zum Besten: Ursprünglich hätten die Menschen eine rundliche Gestalt gehabt, mit zwei in die entgegengesetzte Richtung blickenden Gesichtern, vier Armen, vier Beinen und jeweils zwei Schamteilen.

Weil diese mit enormen Kräften ausgestatteten „Kugelmenschen“ übermütig geworden seien und gegen die Götter aufbegehrt hätten, seien sie von Zeus zur Strafe in jeweils zwei unabhängige Wesen getrennt worden. Von da an waren sie zeitlebens dazu verdammt, sich in unstillbarer Sehnsucht nach ihrer jeweils verlorenen anderen Hälfte zu verzehren. Die Liebe, so schließt Aristophanes, ist den Menschen also angeboren, um die ursprüngliche Natur wiederherzustellen. (Die Redewendung von der sogenannten besseren Hälfte könnte auf diesen Mythos zurückgehen.)

Eine große Verzweiflung

Der Mythos von den Kugelmenschen verbildlicht auch die Verzweiflung, mit der die Liebe trotz größtmöglicher geistiger wie körperlicher Nähe oft einhergeht. Denn selbst wenn sich zufällig zwei passende Hälften wiederfinden sollten, könnten sie trotz aller ursprünglichen seelischen und körperlichen Innigkeit nicht wieder dauerhaft zu einem Körper verschmelzen. 

Diese Erfahrung nennt der amerikanische Philosoph Robert Solomon „das Paradox der Liebe“. In der Tat erscheint es uns als widersinnig, dass das ursprünglichste und stärkste Gefühl, zu dem Menschen fähig sind, zwingend mit unauflöslicher Verzweiflung einhergeht.

Gleichwohl zählt Solomon zu den modernen Verfechtern eines solchen Modells. Die Sehnsucht nach geistiger und körperlicher Nähe zu und Vereinigung mit dem geliebten Menschen resultiert Solomon zufolge nicht mehr aus einer mythischen Vorgeschichte ursprünglicher Verbundenheit. Die Sehnsucht nach Einswerdung entstehe vielmehr im Verlauf einer Partnerschaft, werde von den Partnern erst geschaffen. Mit Verschmelzung beziehungsweise Einswerdung meint Solomon das Teilen einer gemeinsamen Sicht auf die Welt: Im Verlauf der Zeit werden die Interessen des einen zu den Interessen des anderen und umgekehrt.

Allerdings steht ein solches Modell der Verschmelzung dem modernen Streben nach Autonomie diametral entgegen. Die Basler Philosophieprofessorin Angelika Krebs kritisiert es unter Verweis auf die nach wie vor bestehende Ungleichheit zwischen den Geschlechtern mit den Worten: „Frau und Mann sind eins und der Mann ist das Eine.“

Hingabe contra Dialog

Auch das zweite Modell, das Modell der selbstlosen Sorge, gilt vielen als Affront gegen die Selbständigkeit und Unabhängigkeit des Subjekts. Diesem Konzept liegt ein besonderes Verständnis christlicher Liebe, die agape zugrunde. Während Aristoteles bei Freundschaft und Liebe immer die Wechselseitigkeit des Wohltuns betont, wird agape eher als Geschenk beziehungsweise als Gabe verstanden. Gemeint ist die bedingungslose Hingabe an und Sorge um den geliebten Menschen.

Heute vertritt zum Beispiel der amerikanische Philosoph Harry Frankfurt ein solches Modell interessensfreier Hingabe. Der Sinn des eigenen Lebens wird diesem Modell zufolge mit dem Gedeihen des geliebten Objekts verknüpft. Es bedarf keines Grundes für die Liebe, so Frankfurt. Das Objekt der Liebe wird dadurch besonders, dass man es liebt. Für die Liebe gebrachte Opfer werden nicht als solche empfunden, sondern als Teil der Selbstverwirklichung. Als Beispiel führt Frankfurt die Liebe der Eltern zu ihren Kindern an.

Die in diesem Modell angelegte Gefahr der Ausbeutung der selbstlos liebenden Person charakterisiert Helge Schneider in seinem Lied Es gibt Reis, Baby in seiner ganz eigenen Art: „Du kochst und putzt und machst alles und ich sitz im Sessel und find es wunderbar.“ Doch erfahrungsgemäß macht eine solche einseitige Liebe auf Dauer unglücklich. Wer liebt, will nicht nur dienend in Sehnsucht verschmachten, sondern auch selbst geliebt werden.

Es erfordert Sympathie

Liebe ist nicht monologisch, sie erfordert Dialog, das Eingehen auf den anderen. Darauf zielt das dritte, das dialogische Modell, das Modell der personalen Gemeinschaft. Neben Angelika Krebs vertrat dies vor allem der Anfang dieses Jahres verstorbene britische Philosoph und Schriftsteller Roger Scruton.

Im Falle dialogisch verstandener Liebe dominiert nicht das Ziel der Einswerdung wie beim Verschmelzungsmodell und es geht auch nicht um das Geschenk einer bedingungslosen Fürsorge für einen geliebten Menschen. Prägend ist hier vielmehr ein Miteinander. Wie in allen anderen Theorien der Liebe ist auch diesem Modell zufolge die Überwindung des Egoismus konstitutiv für das Gelingen der Liebesbeziehung. Genau das ist es ja, was eine Liebesbeziehung von einer Geschäftsbeziehung unterscheidet. Während in einer Geschäftsbeziehung alle Beteiligten zu jeder Zeit auf die Wahrung ihres Vorteils bedacht sind, erfordern Freundschafts- und Liebesbeziehungen gegenseitiges Wohlwollen, sprich Sympathie.

Ich und du und wir

Dabei ist Liebe weniger durch die sogenannte geschlechtliche Liebe oder durch ein hinzutretendes Pathos von Freundschaft unterschieden. Liebe unterscheidet sich von allen anderen Formen zwischenmenschlicher Beziehungen durch ein „unbegründbares Plus“ wie Max Scheler es ausdrückt. Dieses Plus findet seinen Ausdruck in einer anhaltenden gegenseitigen Leidenschaft für eine gemeinsame Entwicklung der Liebenden.

Im Gegensatz zum Verschmelzungs- und zum Care-Modell geben die Beteiligten im Falle einer dialogischen Beziehung ihr Selbst jedoch nicht zugunsten eines vereinigten Selbsts auf. Vielmehr tritt zu den zwei unabhängigen Selbsts der Partner ein drittes, ein gemeinsames Selbst hinzu. Dies geschieht, ohne dass die Beteiligten ihr Selbstsein dabei verlieren und in einem neuen, gemeinsamen Selbst völlig aufgehen. Liebe ist nicht in den Liebenden, sondern zwischen den Liebenden, zwischen Ich und Du.

Max Scheler nennt als Beispiel für eine solche Form der Beziehung das Miteinander-Fühlen trauernder Eltern um ein verstorbenes Kind. Ein solches Trauern von Eltern ist nicht vergleichbar mit dem Mitleid beziehungsweise dem Mitfühlen enger Freunde mit dem Elternpaar. Es ist vielmehr ein Miteinander-Erleben, ein Erleben mit und auf den anderen hin.

Die Harmonie des Orchesters

Liebe, so beschreibt Amélie Rorty diese Form der Beziehung, braucht eine relationale Identität. Das heißt, Liebe gibt sich nicht dem anderen hin, sondern dem Wir. Zugunsten eines solchen „Wir“ muss allerdings keiner der Beteiligten sein Ich, seine Individualität aufgeben. Mit der Autonomie der Person verhält es sich hier wie in der Musik. Ein Orchester aus lauter Solisten klingt furchterregend dissonant. Wer nicht nur allein, sondern auch im Orchester musizieren kann, wer in der Lage ist, sich auf andere einzustellen, ohne sich dabei selbst zu verlieren, ist letztlich der bessere Musiker.

Voraussetzung für dieses Wir ist eine emotionale Öffnung. Bildlich ausgedrückt darf man sich nicht gegen das Berührtwerden wehren, nicht aus Angst vor einem möglichen Verletztwerden seine Abwehrstacheln ausfahren. Vielmehr muss man bereit sein, sich dem Gegenüber zu öffnen, ohne sich diesem völlig auszuliefern oder gar sich selbst im anderen zu verlieren beziehungsweise diesem seinen Willen aufzuzwingen. Öffnung birgt das Risiko der Verletzung. Entsprechend ist eine besonders achtsame Form der Kommunikation erforderlich. Zärtlichkeit gilt nicht von ungefähr als Sprache der Liebe.

Die Kölner Künstlerin Petra Deus hat die Dialektik der Liebe anhand eines gebrauchten Küchenschneidbretts verbildlicht. Einen Teil der tief in das weiche Holz eingekerbten Schnittwunden hat sie mit besticktem Verbandsstoff umwickelt, auf dem mit blutrotem Faden ungelenk das Wort „Zärtlichkeit“ eingestickt ist.

Der Narbe einer noch nicht ganz verheilten Wunde gleichend, ist am unteren Rand des Brettchens zusätzlich das Wort „nährt“ in das weiche Holz eingeritzt. So wie die Lebensmittel, die auf dem Schneidbrett zur Zubereitung zerteilt wurden, den Körper nährten, so nährt wechselseitige Zärtlichkeit die Liebe, helfen wechselseitiges Wohltun und gegenseitige Fürsorge, versehentlich geschlagene Wunden zu verschließen.

Liebe macht sehend

In der Diskussion um die Liebe nimmt der erwähnte Max Scheler eine Sonderstellung ein. Denn das Miteinander-Fühlen in der Liebe ist für ihn nicht das Ergebnis eines Diskurses. Liebe ist Scheler zufolge auch nicht Folge einer wie auch immer gearteten Paarbeziehung und sie ist auch kein sinnlicher Zustand. Liebe, so Scheler, gründet unser Verhältnis zur Welt in der emotionalen Bejahung des anderen als anderem und ist derart die ursprünglichste Form menschlicher Erkenntnis. Sie ist sozusagen einer der Modi, in denen wir der Welt begegnen, eine besondere Form des Bezogenseins auf die Welt. Allgemein gesprochen: Bevor der Mensch sich denkend oder wollend zur Welt verhalte, müsse er sich fühlend zur Welt verhalten.

Entsprechend widerspricht Max Scheler dem Urteil, dass Liebe blind macht. Wie Martin Heidegger ist er der Überzeugung, dass es gerade die Liebe ist, die sehend macht. Als „Mutter der Vernunft“ sei Liebe vor allem eine Form der Wahrnehmung. Scheler geht es bei solchen Formulierungen um die Spontaneität der Gefühle, denn Liebe ist für ihn keine Reaktion auf etwas, kein Affekt. Vielmehr entdecke die Liebe etwas im Gegenüber. Der Liebessinn, so könnte man in Analogie zum Sehsinn sagen, sieht etwas, das ohne Liebe gar nicht gesehen werden kann. Eben darum sei es auch ganz irriger Rationalismus, die Liebe zu einer individuellen Person irgendwie begründen zu wollen.

Scheler bringt eine Erfahrung zum Ausdruck, die viele von uns schon einmal gemacht haben. Verstehbar ist der andere in seinem individuellen Charakter nämlich nur im Modus der Liebe. Es ist die altbekannte Verwunderung der Art: „Was fängt eine so tolle junge Frau denn mit so einem alten, fetten und widerlichen Typen an?“ Doch der Liebende erkennt im Geliebten etwas, das eben nur im Modus der Liebe erkennbar und nicht für Außenstehende kommunizierbar ist. Er sieht sozusagen hinter den Schleier vordergründiger Wirklichkeit. So wie Rot-Grün-Blinden eine farblich abgesetzte Zahl auf der Testtafel verborgen bleibt, bleibt auch das vom Liebenden im Geliebten Gesehene dem Nichtliebenden verschlossen.

Mysterium des Nichtverstehens

Über Liebe kann man durchaus sprechen, aber sie ist eben nicht rationalisierbar, sie folgt nicht den gewohnten logischen Bahnen. Blaise Pascal hat diese Erfahrungstatsache im 17. Jahrhundert in die Worte gefasst: „Das Herz hat seine Gründe, die der Verstand nicht kennt.“

Entsprechend ist die Behauptung, einen Menschen zu verstehen, geradezu das Gegenteil von Liebe. Ebenso wie zum Glauben gehört zur Liebe das Mysterium des Nichtverstehens. Genau das ist es, was den anderen so anziehend macht – dass man ihn nicht im logisch-mathematischen Sinne „versteht“, nicht für andere nachvollziehbar exakt beschreiben kann, was er in einem auslöst, sondern dass man es nur fühlen kann.

Erlösung aus dem Profanen

Dem folgend, widerspricht Scheler allen biologistischen Erklärungsversuchen. Liebe zwischen Menschen sei keine artifiziell verkappte Reaktion auf sexuelle Reize. Auch der liebeserfüllte Geschlechtsakt diene keinem Zweck. Er sei nicht Mittel zur Fortpflanzung, sondern vielmehr Ausdruckshandlung. Das heißt: Sexualität ist ein Medium der Kommunikation.

Liebe ist solchermaßen eine Form der Erlösung, eine Erlösung aus den profanen Alltäglichkeiten unseres Lebens. Die klassische Philosophie sucht bis heute Erlösung vor allem in den Erkenntnissen des Geistes, durch Innenschau und Theoriebildung. Religionen veranschaulichen Erlösung zumeist mittels Heilsgestalten und/oder transzendieren sie in eine jenseitige Welt. Liebe hingegen ist eine innerweltliche Form der Erlösung; eine Erlösung, die sich immer nur wechselseitig, das heißt durch das Zutun nicht nur eines Liebenden erfüllen kann.

Liebe ist nicht Selbstaufgabe, nicht Aufgehen im anderen und auch nicht Aufopferung für den anderen. Wirklich lieben kann nur der, der sich auch in einem relationalen Wir seiner selbst bewusst und des anderen gewahr bleibt. Das Einsgefühl mit einer geliebten Person ist bei alldem nur ein Moment der Begegnung, nicht aber Zweck oder gar Ziel der Liebe. Entsprechend ist sittlich wertvolle Liebe nicht abhängig von Eigenschaften der geliebten Person, so Scheler.

Wir lieben nicht diese oder jene Begabungen oder Tugenden an einem Menschen. Liebe ziele nicht auf bestimmte Aspekte einer Person, sondern meine immer den ganzen Menschen in seinem Sosein. Entsprechend gehe das Wesen der eigenen Individualität wie das einer fremden nie ganz in Begriffen auf, lasse sich nie umfassend und eindeutig in Worte fassen. Die Individualität eines Menschen trete nur in der Liebe oder im Sehen durch sie hindurch ganz und gar rein hervor: „Ist die Liebe weg, so tritt an die Stelle des ,Individuums‘ sofort die ,soziale Person‘.“

Eine (Über-)Dosis Selbstliebe

Wozu falsch verstandene, übersteigerte Selbstliebe führen kann, zeigt die Sage von Narziss und Echo aus der Antike. Sie ist sozusagen das Musterbeispiel eines Selfie-Unfalls.

Zur Erinnerung: Der wunderschöne, selbstverliebte Jungling Narziss war derart verzuckt von seiner Schönheit, dass er sogar die Liebesavancen der Bergnymphe Echo ausschlug und sich stattdessen in sein eigenes Spiegelbild verliebte, das er unablässig auf der Oberfläche eines Teiches bewunderte.

Der Dichter Ovid lässt in seiner Fassung des Mythos den „Liebhaber seiner selbst“ aufgrund der Einsicht in die Hoffnungslosigkeit dieser unerfullbaren Liebe versterben. Der Überlieferung von Pausanius zufolge starb Narziss hingegen vor Schreck, weil ein von einem Strauch herabgleitendes Blatt die spiegelnde Wasseroberfläche kräuselte und die leichte Verzerrung seines Spiegelbilds ihm vermeintliche Hässlichkeit vorspiegelte.

Was lässt sich daraus lernen? „Alle Dinge sind Gift und nichts ist ohne Gift; allein die Dosis macht’s, dass ein Ding kein Gift sei“, heißt es bei Paracelsus. Ohne ein Mindestmaß an Selbstliebe wird man ziemlich sicher nicht alt. Wer anderen beim Essen immer den Vortritt lässt, steht irgendwann als Letzter in der Reihe und verhungert. Die Geschichte von Narziss und die sich häufenden Selfie-Unfälle zeigen hingegen, dass auch ein Zuviel an Selbstliebe tödlich sein kann.

Nicht statisch

Der Plot von Filmen der Kategorie „stürmische Liebe“ endet in der Regel mit der Aussicht: „Und wenn sie nicht gestorben sind, dann lieben sie noch heute.“ In einer erwachsenen Liebe darf man sich dieses „…lieben sie noch heute“ nicht als etwas Statisches vorstellen. Liebe bedarf der Zeit und ist einem beständigen gemeinsamen Wandel unterworfen. Die Ausbildung eines Beziehungs-Ichs, eines dritten Ichs, eines Wir neben Ich und Du geschieht nicht von heute auf morgen.

Liebe ist mehr als ein Gefühl, mehr als Verliebtsein, ist mehr als reine Körperlichkeit und ist mehr als eine Conclusio vernünftiger Erwägungen. Liebe ist all das zusammen in Verbindung mit einer besonderen Form gegenseitiger Sympathie für das Wesen und die Geschicke des geliebten Menschen. Sie ist eine besondere Form gemeinsamen welterschließenden Tuns, ein Prozess des bewussten wechselseitigen Sicheinlassens und gegenseitig Sichaufschließens. Dass der Himmel mitunter voller Geigen hängt, gehört ebenso dazu wie die Erfahrung, dass mancher Kuss ein Judaskuss ist.

Zum Weiterlesen

Themenheft Liebe: der blaue reiter – Journal für Philosophie, Ausgabe 42, ISBN: 978-3-933722-55-3

Website: derblauereiter.de

Dr. Siegfried Reusch hat Chemie und Philosophie studiert. Seit 1995 ist er Herausgeber des Philosophiejournals der blaue reiter.

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 6/2020: An Krisen wachsen