Warum haben Populisten wieder Zulauf? Weshalb nehmen rassistische Vorurteile zu? Und wieso scheint das Interesse an der Demokratie abzunehmen? Gründe für diese Entwicklung in Deutschland, Europa und den USA werden viel diskutiert. Von abgehängten Schichten ist die Rede, von Perspektivlosigkeit und Unsicherheit, welche die Gesellschaft spalten. Diese Einflüsse spielen tatsächlich eine Rolle. „Doch wer verstehen will, woher die Bereitschaft so vieler Menschen kommt, eher autoritären Stimmen als demokratischen…
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kommt, eher autoritären Stimmen als demokratischen Prozessen zu trauen, der sollte sich die tiefenpsychologischen Studien zum autoritären Charakter anschauen“, sagt Oliver Decker. Der Sozialpsychologe von der Universität Leipzig untersucht in der „Mitte-Studie“ seit 2002 alle zwei Jahre, wie verbreitet rechtsextreme Einstellungen hierzulande sind.
Was hat es mit den Studien zum autoritären Charakter auf sich? Die 1950 in den USA veröffentlichte Untersuchung gilt als Meilenstein der empirischen Sozialforschung. Der Soziologe und Philosoph Theodor W. Adorno wollte damit die Gräueltaten der Nationalsozialisten und die latente Bereitschaft zu faschistischem Denken beleuchten. In seiner Studie stellte Adorno den Menschen und seine Persönlichkeit in den Mittelpunkt. Er war überzeugt, dass die politische Einstellung viel stärker von psychischen und emotionalen Faktoren abhängt, als man gemeinhin vermutet. In seiner Studie suchte er deshalb nach typischen Haltungen, Ansichten und Faktoren, die Ausdruck eines „faschistischen Charakters“ sein könnten, und nach solchen, die einen eher „demokratischen Charakter“ abbilden.
Sind Adornos Erkenntnisse für die heutige Zeit noch relevant? Experten halten Adornos Sicht auf politische Prozesse für durchaus erhellend, und einige seiner Thesen sind durch aktuelle Forschungsergebnisse ergänzt und weiterentwickelt worden und zeigen ihre Relevanz für gegenwärtige Entwicklungen.
These 1: Wer autoritäre Einstellungen hat, ist eher anfällig für Extremismus und wünscht sich einen starken Führer
Adorno fand heraus, dass kaum ein Faktor die Neigung zur rechtsextremen Gesinnung zuverlässiger voraussagt als der Grad der Zustimmung zu autoritären Einstellungen. Dieser zentrale Befund ist bis heute relevant: Wer autoritäre Aggression befürwortet, also etwa der Ansicht ist, dass Verbrecher sehr hart bestraft werden sollten, oder wer autoritären Gehorsam für richtig hält („Ich finde, dass Kinder ihren Eltern immer gehorchen sollten“), neigt eher zu rechtspopulistischen oder rassistischen Meinungen. Bis heute gehört daher zu vielen statistischen Erhebungen zum Rechtsextremismus ein Fragebogen, der die Kategorien „autoritärer Gehorsam“, „autoritäre Aggression“ und „Konformismus“ untersucht. Die Initiatoren der Leipziger Mittestudie entwickelten für diese drei Faktoren das eingängige Bild eines Radfahrers: „Nach oben wird gebuckelt, es besteht die Sehnsucht nach klarer Führung und harter Hand, nach unten wird getreten, andere Menschen werden abgewertet, die man als schwächer oder unangepasster wahrnimmt. Und dazu kommt, dass man sich verpflichtet, eine bestimmte Spur nicht zu verlassen, auf dem Rad zu bleiben, weiterzutrampeln“, fasst Studienleiter Decker zusammen. Den Machtzuwachs von AfD, Pegida oder Populisten wie Donald Trump könne man zum Teil aus diesen autoritären Einstellungen erklären.
In einer Studie aus den Wochen vor der US-Wahl 2016 entlarvte der Politikwissenschaftler Matthew MacWilliams von der University of Massachusetts, Amherst die „autoritäre Einstellung“ tatsächlich als ein fehlendes Puzzleteil bei der Suche nach Erklärungen für Trumps Erfolg. Die Befragung von 1800 Wählern zeigte, dass kein Faktor die Wahrscheinlichkeit, für Trump zu stimmen, so gut voraussagte wie eine Skala zum Autoritarismus. Herkunft, Einkommen oder die „ursprüngliche“ politische Gesinnung der Befragten sagten deren Wahlpräferenzen dagegen nicht zuverlässig voraus.
These 2: Autoritäre Gesinnung wird in der autoritären Familie weitergegeben
Interessant ist natürlich die Frage, wie „autoritäre Strukturen“ überhaupt entstehen. Adorno versuchte mithilfe von Freuds Theorien zu erklären, warum Kinder in Familien, die um einen strengen Patriarchen herum organisiert sind, erst autoritär gehorchen und dann selbst dominant agieren, wenn sie auf scheinbar Schwächere treffen. Adorno skizziert folgenden Mechanismus: Wer sich unter einer Autorität anpassen muss, ist wütend, ängstlich, traurig. Diese Gefühle dürfen sich aber nicht gegen den eigentlichen Verursacher richten. Doch irgendwo müssen sie sich entladen. Das trifft dann oft vermeintlich Schwächere. Adornos Erklärungsansätze gelten heute als überholt. „Das heißt jedoch nicht, dass Adornos Gedanken zur Psychodynamik des autoritären Charakters falsch sind“, sagt die Sozialpsychologieprofessorin und Gruppenanalytikerin Angela Moré von der Universität Hannover und betont: „Es ist bis heute sicher, dass durch autoritäre Strukturen eine Entwicklungsverzerrung auftreten kann.“ Der Einfluss dieser autoritären Umfelder sei außerdem nach wie vor präsent. Zum einen weil viele derer, die jetzt 60 Jahre oder älter sind, von streng agierenden Elternteilen erzogen wurden. Zum anderen sind laut Moré auch in modernen Familien autoritäre Mechanismen nicht generell verschwunden, etwa in Elternhäusern, in denen viel Zwang oder Leistungsdruck herrscht.
Zur Erklärung der Frage, wie Kinder in derart strengen Familien geprägt werden, verweist Angela Moré auf den Begriff des „falschen Selbst“, der auf den Psychoanalytiker Donald Winnicott zurückgeht. Er besagt, dass Kinder, die sich nicht individuell entwickeln dürfen, nicht der Frage nachgehen können, wer sie selbst sind, mit der Zeit ein „falsches Selbst“ entwickeln, eine angepasste, erwünschte Schablone. Diese Kinder haben nicht nur Wut und Frust – sie besitzen auch nur wenig Selbstvertrauen und innere Konzepte, mit sich selbst und anderen freundlich und mitfühlend umzugehen. Ein Wunsch nach „harten Strafen“ oder „Durchgreifen“, nach „Gehorsam“ und „Konformität“, wie ihn Menschen äußern, die autoritäre Strukturen erlebt haben, ist also auch daraus gespeist, dass man gar keine anderen inneren Ideen von Kontakt und Miteinander hat. „Mit einem Flüchtling, der Hilfe braucht, Mitgefühl zu haben, ist oft nicht möglich, wenn man selbst kein Mitgefühl in schwachen Momenten erfahren hat“, sagt Moré.
These 3: Der wirtschaftliche Druck allein führt nicht zu Rassismus und Rechtsextremismus
Adorno sah in wirtschaftlichen Krisen lediglich einen Katalysator für den Ruf nach „starken Führern“ – aber nicht die Ursache: „Wenn einzig das wirtschaftliche Eigeninteresse die Meinungen bestimmte, müssten die Meinungen von Personen mit gleichem sozioökonomischem Status sich sehr nahekommen und die der verschiedenen sozioökonomischen Gruppen sich sinnvoll voneinander unterscheiden. Einen stichhaltigen Beweis für diese Annahme haben unsere Studien nicht erbracht.“ Und auch aktuelle Studien bestätigen den oft angeführten Zusammenhang zwischen der persönlichen wirtschaftlichen Situation und der politischen Gesinnung nicht. In der Leipziger Mitte-Studie von 2014 etwa wird klar, dass über 35 Prozent der AfD-Wähler ein monatliches Nettoeinkommen von 2500 Euro oder mehr zur Verfügung haben. Nur 3,5 Prozent der AfD-Wähler verdienen dagegen 1000 Euro oder weniger. Und in der erwähnten Untersuchung von Trump-Wählern sind ebenfalls alle Einkommensgruppen vertreten.
Den Zulauf zu rechtsextremen Bewegungen nur dem Faktor „wenig Chancen, wenig Geld“ zuzuschreiben ist also zu kurz gedacht. Wahrscheinlicher scheint, dass die wirtschaftliche Unsicherheit potenziell vorhandene Bedürfnisse nach Autorität wieder freilegt. Das würde aber bedeuten, dass sich gegenwärtige Probleme nicht allein dadurch lösen lassen, dass bestimmte Menschen mehr Geld verdienen. Vielmehr scheint es psychische Strukturen zu geben, die manche Menschen daran hindern, voll hinter demokratischen Prinzipien zu stehen.
These 4: Stereotype und Rassismus lassen sich schwer auflösen, denn sie haben eine psychische Funktion
Dass Menschen mit einem Wunsch nach autoritärer Führung gleichzeitig hartnäckige Stereotypen pflegen, wird ebenfalls bereits in Adornos Studie deutlich: In den Einzelinterviews ließ sich ein Teil der Befragten trotz kritischer Nachfragen oder stichhaltiger Argumente kaum von Vorurteilen abbringen. „Stereotypie lässt sich durch Erfahrung nicht korrigieren“, folgerte Adorno. „Erst muss die Fähigkeit restituiert werden, Erfahrungen zu machen.“ Damit sagt er letztlich, dass Menschen mit Vorurteilen diese so stark brauchen, dass sie Argumente und Erfahrungen abwehren müssen – und sei es auf völlig irrationale Art.
Häufig beobachtete Adorno folgendes Muster: Fragte er Menschen, die Ressentiments gegenüber Juden äußerten, ob sie denn Juden kennen, sagten diese Befragten wie selbstverständlich: „Nein.“ Andere Befragte nannten „Freunde“ und „Bekannte“, die Juden seien, beteuerten aber im nächsten Satz, dass diese eben die „Ausnahme“ von der Regel seien. Diese Argumentationen findet man auch heute bei Menschen mit feststehenden Stereotypen. „Dass Vorurteile bei manchen Menschen schwer zu ändern sind, liegt daran, dass sie eine psychische Funktion haben“, erklärt Sozialpsychologin Angela Moré. „Die Projektion aller als mies und schwach erlebten Eigenschaften auf andere kann einen selbst stützen, das Selbstwertgefühl aufrechterhalten.“
In einer aktuellen repräsentativen Befragung mit 2008 Deutschen stellte der Sozialpsychologieprofessor Andreas Zick von der Universität Bielefeld fest, dass es hierzulande immer einen Prozentsatz von Bürgern gibt, die zu sogenannter „gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit“ neigten. Diese Menschen sind bereit, vermeintliche Randgruppen und Minderheiten kategorisch abzuwerten. Wie rigoros die abwertende Haltung ist, zeigt sich auch daran, dass sie sich meist nicht auf eine spezielle Gruppe bezieht, sondern viele Minderheiten abgelehnt werden. Konkret: Wer in Zicks Befragung Feindlichkeit gegenüber Flüchtlingen zeigte, der äußerte sich auch mit hoher Wahrscheinlichkeit abwertend gegenüber Muslimen oder Roma. Diese radikale Teilgruppe scheint gegen Aufklärung unsensibel zu sein, wie Adorno es vorausgesehen hat. Andreas Zick ist sich aber aufgrund seiner Statistiken sicher, dass die Mehrheit der Bevölkerung in puncto Vorurteile nicht zu den Unbelehrbaren gehört, sondern bereit ist, bestehende Ressentiments abzubauen. Dass wir das anders wahrnehmen, hänge damit zusammen, dass die oben beschriebene Gruppe der Menschen mit rassistischen Stereotypen lauter und vehementer wird. Und sie findet in der politischen Landschaft mittlerweile in Vertretern von AfD oder Pegida geeignete „Führer“.
These 5: Es gibt ein Konglomerat an Tricks, mit dem Agitatoren vorgehen – und mit dem sie Gewalt legitimieren
Wie wichtig der Führer und sein Verhalten bei der Verhetzung ganzer Gruppen ist, hat Adorno ebenfalls geahnt. Seine Analyse der zentralen „Tricks“ von Agitatoren fußt auf der Auswertung der psychologischen und rhetorischen Tricks des Hasspredigers Martin Luther Thomas. „Es ist Teil des Geheimnisses totalitärer Führung, der Gefolgschaft das Bild eines autonomen Charakters vor Augen zu stellen, der zu sein ihr in Wahrheit verwehrt wird“, schreibt Adorno. Damit diese Illusion für alle Anhänger dauerhaft glaubhaft bleibe, sei es wichtig, dass der Führer sich stets selbst als provokante Figur darstelle, die letztlich aber in der gleichen unterdrückten Lage ist wie ihre Anhänger – und beharrlich gegen viel mächtigere Gegner kämpft. Diese Rhetorik des „großen kleinen Manns“, die Adorno beschreibt, kann man gerade beinahe lehrbuchartig bei Donald Trump sehen, der sich als Opfer und starker Mann zugleich darstellt.
Typisch sind laut Adorno dann auch sogenannte „Terrorstrategien“, mit denen autoritäre Führer ihre eigene Gefolgschaft verunsichern. Bei der „Wenn ihr nur wüsstet“-Strategie deutet der Agitator immer wieder an, welche erschütternden Informationen er über scheinbar „sichere“ Institutionen oder Situationen habe. Gleichzeitig wird „schmutzige Wäsche gewaschen“, also etwa offen behauptet, dass bestimmte Organe Lügen verbreiten, im Hintergrund Ränke schmieden. Auch diese Verunsicherung festige letztlich vor allem die eigene Macht und den Zusammenhalt der Anhänger. „Es ist nicht wichtig, ob Trump mit seinem inhaltlichen Programm Erfolg hat“, folgert Oliver Decker. „Er wird zumindest von seinen Anhängern im Moment ausschließlich daran gemessen, ob er die Rolle des starken Mannes, der es allen zeigt, auch wirklich aufrechterhalten kann.“
Welche Rolle Ängste spielen, wenn Menschen autoritären und antidemokratischen Führern folgen, ist umstritten. Eine aktuelle Studie aus den USA, die unter anderem vom Politologen Matthew MacWilliams initiiert wurde, zeigt jedenfalls, dass Trump-Wähler sich dadurch auszeichnen, dass sie sich in hohem Maße (zu 73 Prozent) persönlich an Leib und Leben vom Terrorismus oder speziell dem IS bedroht fühlen. Menschen, die Trump nicht wählen, spüren zwar auch mal Angst und Unsicherheit in Bezug auf die politische Situation, beziehen die Bedrohung aber nicht konkret auf sich und ihr Leben. Das hieße also, dass nicht nur die Panik, die Agitatoren verbreiten, Menschen dazu bringt, sie zu wählen. Auch eine alarmierende und reißerische Berichterstattung könnte dazu beitragen, dass sie mehr Macht bekommen – weil Menschen sich bedroht fühlen.
Es sei wichtig, sich offensiv mit den Lügen oder der Panikmache auseinanderzusetzen. Andersdenkenden zwar inhaltlich mit Schärfe zu begegnen, sie aber nicht menschlich abzuwerten. „Es ist schwer. Aber eine faire Art der Auseinandersetzung ohne persönliche Herabsetzung ist letztlich die einzige Möglichkeit, die wir haben“, sagt Decker. „Wir sollten zeigen, dass genau das den Unterschied macht.“ Es gehe also letztlich darum, nicht mit autoritären Mitteln gegen die rechtsextremen Tendenzen vorzugehen, sondern mit demokratischen. Adorno hätte der Gedanke wahrscheinlich gefallen.
Hinweis: Lesen Sie im nächsten Heft den zweiten Teil unserer vierteiligen Serie zur Bundestagswahl 2017: Warum viele Wähler gegen ihre eigenen Interessen entscheiden.
Literatur
Theodor W. Adorno: Studien zum autoritären Charakter, Suhrkamp, 9. Auflage, Frankfurt 2016
Oliver Decker, Johannes Kiess, Elmar Brähler (Hg.): Die enthemmte Mitte. Autoritäre und rechtsextreme Einstellung in Deutschland. Psychosozial Verlag 2016.
Marc J. Hetherington, Jonathan D. Weiler: Authoritarianism & Polarization in American Politics, Cambridge University Press, New York 2009
Angela Moré: Die unbewusste Weitergabe von Traumata und Schuldverstrickungen an nachfolgende Generationen. Journal für Psychologie, 21/2, 2013
Andreas Zick, Beate Küpper, Daniela Krause: Gespaltene Mitte, feindselige Zustände. Rechtsextreme Einstellungen in Deutschland 2016, Dietz, Bonn 2016