Facebook macht neidisch und verdirbt die Laune. Dieses erstaunliche Ergebnis einer Studie veröffentlichten im Jahr 2013 Forscher der Technischen Universität Darmstadt und der Humboldt-Universität Berlin. Ausgangspunkt ihrer Untersuchung mit knapp 600 Facebook-Usern war die Frage: Wie fühlt man sich, wenn man all die fröhlichen, glücklichen Gesichter auf Facebook sieht und liest, welch tolle Sachen die „Freunde“ gerade wieder erleben? Die Fülle an positiven Posts, so stellten die Wissenschaftler fest,…
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wieder erleben? Die Fülle an positiven Posts, so stellten die Wissenschaftler fest, hinterlässt schale Gefühle: Über ein Drittel der Befragten gab zu, sich während und nach der Nutzung von Facebook-Seiten frustriert, unzufrieden, einsam, traurig und neidisch zu fühlen. Im Vergleich zu den vielen positiven Erlebnissen der anderen erschien ihnen das eigene Leben ereignisarm und langweilig. Um das scheußliche Gefühl der Minderwertigkeit zu kompensieren, gingen viele zum „Gegenangriff“ über: Sie posteten ihrerseits die tollsten Storys und brillantesten Fotos – vieles geschönt und zum Teil ziemlich weit entfernt von der Realität.
Facebook ist nicht die einzige moderne Quelle, die das Selbstwertgefühl ihrer Nutzer schwächt. Auch technische Neuerungen wie beispielsweise die Apple Watch (sie zählt nicht nur jeden Schritt, den ihr Besitzer geht, sondern misst auch die Zeiten, in denen er faul auf der Coach liegt) oder Apps fürs Smartphone, die den Stresspegel unter Kontrolle halten, die Stimmung überprüfen oder den Alkoholkonsum überwachen, geben Experten inzwischen Anlass zur Sorge: Denn diese digitalen Helfer vermitteln die Illusion, ein besseres, gesünderes, fitteres, kurz: perfektes Leben sei machbar, und vergrößern damit die ohnehin schon weitverbreitete Bereitschaft, die eigenen Unvollkommenheiten und Schwächen zu bekämpfen.
Die Zahl der Menschen, die von der Stimme eines inneren Tyrannen mit Befehlen wie „Du musst“, „Du sollst“, „Du darfst nicht“ täglich zu Höchstleistungen und Selbstverbesserungsmaßnahmen angetrieben werden, ist groß und nimmt stetig zu. Perfektionismus ist inzwischen „in der westlichen Welt endemisch“, das heißt, er ist wie eine Krankheit, die immer häufiger in einer Population auftritt. Diese Feststellung treffen die kanadischen Forscher Gordon L. Flett von der York University und Paul L. Hewitt von der University of British Columbia, die sich seit langem mit dem Thema beschäftigen. Und auch der Psychotherapeut und Psychiater Raphael Bonelli schreibt in seinem aktuellen Buch: „Perfektionismus prägt den Zeitgeist, liegt unseren Wertvorstellungen zugrunde, dominiert unsere Köpfe. Fast niemand kann sich ihm ganz entziehen.“ (Siehe auch Interview Seite 26).
Viele sehen allerdings auch keine Notwendigkeit, sich zu entziehen. Sie halten Perfektion für ein lohnenswertes Ziel und kokettieren häufig sogar mit ihrem Streben nach dem Optimum. Während man sich – beispielsweise – zu zwanghaftem Verhalten, depressiven Stimmungen oder Ängsten in der Regel kaum offen bekennt, gibt man meist ungeniert zu: „Ich bin eben ein Perfektionist!“ Raphael Bonelli wundert das nicht, schließlich handele es sich um ein „attraktives Laster“. Einen Perfektionisten umgebe „ein Nimbus von Ernsthaftigkeit, Ordentlichkeit, Fleiß und Verlässlichkeit“. Perfektionismus wird in unserer Gesellschaft belohnt. Der Mitarbeiter, der sich in langen Überstunden für das Gelingen eines Projektes einsetzt, bekommt Anerkennung. Die Eltern, deren Kinder es mit viel Nachhilfe auf das angesagte Gymnasium schaffen, haben das gute Gefühl, etwas richtig gemacht zu haben. Und die Frau, die nach einem langen Arbeitstag ihre To-do-Liste abgearbeitet hat, kann zufrieden mit sich sein.
Selbstoptimierer erhalten einen Lohn für ihre Mühe – aber nur, wenn sie es schaffen, ihre Ziele auch wirklich zu erreichen. Das aber ist, wenn überhaupt, nur punktuell möglich. Es liegt in der Natur der Sache, dass die Betroffenen von sich meist Unmögliches und Unerreichbares verlangen. Perfektionismus bedeutet nicht, wie viele glauben, „peinlich Ordnung halten, übergenau und überpünktlich sein, immer genau das richtige Wort finden, die genau richtige Krawatte oder den genau richtigen Hut tragen“, stellte schon im Jahr 1950 die berühmte Psychoanalytikerin Karen Horney fest. Auf diese „belanglosen Kleinigkeiten“ komme es nicht an, wichtig sei dem Perfektionisten „die makellose Vortrefflichkeit der gesamten Lebensführung“. Es geht ihm um nicht mehr und nicht weniger als die „Beherrschung des Lebens“. Das aber ist eine Aufgabe, die nicht zu meistern ist.
Perfektionisten spüren ständig die „Faust im Nacken“, wie der Psychotherapeut Reinhold Ruthe schreibt. Anders als Menschen, die ihre Sache „möglichst gut“ machen wollen, werden Perfektionisten von einem inneren Richter verhöhnt, wenn sie nicht hundertprozentige Leistung erbringen. Machen sie Fehler, erfüllen sie nicht ihre hochgesteckten Erwartungen oder haben sie das Gefühl, dass ein anderer klüger, interessanter und erfolgreicher ist, klagt sie die kritische innere Stimme wegen Mittelmäßigkeit an.
Selbst durch eine perfekte Leistung lässt sich der Richter nicht auf Dauer zum Schweigen bringen. Seine ungeschriebenen Gesetze erlauben keine Entspannung:
Fehler sind nicht erlaubt!
Perfektionisten glauben, sie seien in den Augen anderer nur dann etwas wert, wenn sie sich keinerlei Schnitzer erlauben. Misslingt ihnen etwas, sind sie am Boden zerstört. Sie haben keine Mechanismen zur Verfügung, wie sie mit Niederlagen und Misserfolgen fertigwerden können. So zeigen beispielsweise Studien, dass perfektionistische Gewinner von Silbermedaillen ihre Glücksgefühle auf einer 10-Punkte-Skala mit 4,8 einschätzten, wobei „1“ völlige Niedergeschlagenheit und „10“ extreme Glücksgefühle bedeuteten. Sie empfanden es als Versagen, keine 100-prozentige Leistung erbracht zu haben. Nichtperfektionisten dagegen halten das für normal und menschlich.
Andere sind besser!
Wir alle neigen zu sozialen Vergleichen. Diese laufen ganz automatisch und permanent ab. In einem Experiment haben die Teilnehmer nur für einen Bruchteil einer Sekunde subliminal, also unterhalb der bewussten Wahrnehmungsschwelle das Gesicht einer schönen Frau zu sehen bekommen. Danach bewerteten sie ihr eigenes Aussehen schlechter als Teilnehmer, denen man ein eher durchschnittliches Gesicht gezeigt hatte. Perfektionisten stellen diese sozialen Vergleiche ununterbrochen an – und schneiden dabei grundsätzlich schlecht ab.
Es gibt nur perfekt – oder schlecht!
Weil sie davon überzeugt sind, dass das Optimum erreichbar ist, kennen Perfektionisten mit sich keine Gnade, wenn sie ihre eigenen hohen Erwartungen nicht erfüllen. Typische Gedanken sind: „Ich habe die Beförderung nicht bekommen, also bin ich ein Versager.“ Oder: „Ich wollte doch keine Süßigkeiten mehr essen, nun habe ich die Diät abgebrochen und kann gleich die ganze Keksschachtel aufessen.“
Du sollst! Du musst!
„Perfektionisten stehen unter der Tyrannei des Sollens und Müssens“, schrieb Karen Horney. Der innere Antreiber sorgt ununterbrochen für Gedanken wie: „Ich sollte erfolgreicher sein.“ „Ich sollte mich mehr beherrschen.“ „Ich muss mehr trainieren.“ Und ähnlich streng gehen sie auch mit anderen um: „Sie sollte mich öfter anrufen.“ „Er sollte mich mehr bei der Hausarbeit unterstützen.“
Angesichts der Qualen, die mit dem Streben nach dem immer Besseren verbunden sind, stellt sich natürlich die Frage nach dem Warum. Was bringt einen Menschen dazu, mit sich selbst so unerbittlich umzugehen, sich keine Schwächen zu erlauben, geschweige denn Misserfolge und Fehler? Warum hören manche Menschen die Stimme ihres inneren Richters besonders laut, während es anderen gelingt, sie leiser zu drehen oder gar ganz zu überhören?
Obwohl inzwischen Erkenntnisse aus der Zwillingsforschung den Verdacht nahelegen, dass genetische Faktoren eine Rolle spielen könnten, sind sich die Experten einig: Man kommt nicht als Perfektionist zur Welt, sondern man wird dazu gemacht. So zeigen Umfragen, dass Perfektionisten fast immer Aussagen zustimmen wie „Meine Eltern erwarteten viel von mir, ich wollte sie nicht enttäuschen“, „Meine Eltern kritisierten mich, wenn ich ihre Erwartungen nicht erfüllte“ und „Meine Eltern waren sehr anspruchsvoll. Sie forderten viel von sich selbst“. Das Vorbild der Eltern und ihre Reaktionen auf Leistungen oder Versagen hat das kindliche Gehirn ungeprüft gesammelt und im „Eltern-Ich“ abgespeichert. So bezeichnet die Transaktionsanalyse jenen Ich-Zustand, in dem „alle Ermahnungen und Regeln, alle Gebote und Verbote aufgezeichnet (sind), die ein Kind von seinen Eltern zu hören bekommen hat oder von ihrer eigenen Lebensführung ablesen konnte“, erklärte der Psychiater Thomas A. Harris, der zusammen mit Eric Berne die Transaktionsanalyse begründet hat. Wer von klein auf lernen musste, dass er nur durch Leistung die unendlich wichtige Aufmerksamkeit oder Anerkennung der Eltern bekommen konnte, wer die Enttäuschung in den Augen des Vaters sah, wenn eine Schularbeit mit der Note Zwei bewertet wurde, glaubt: Nur wenn ich Perfektes leiste, bin ich etwas wert.
Diese frühen im „Eltern-Ich“ gespeicherten Erfahrungen sind es auch, die den Erwachsenen unerbittlich antreiben. Wie schon als Kind versucht er, sich seine Umwelt durch Leistung gewogen zu machen. Und wie das Kind, lebt auch der Erwachsene in der Angst, „nicht zu genügen, nicht geliebt zu werden, nicht zu gefallen, abgelehnt zu werden. Angst, keine Existenzberechtigung zu haben, wenn man nicht pausenlos Tadelloses, Bewundernswertes und Außergewöhnliches leistet“, erklärt Raphael Bonelli. „Der Perfektionist ist ein liebenswerter Mensch, der nicht daran glauben kann, liebenswert zu sein … Er ist überzeugt, dass er sich die Liebe verdienen muss oder dass er zumindest sicherer ist, wenn er etwas vorzuweisen hat.“
Wenn davon die Rede ist, dass der Perfektionismus epidemische Ausmaße annimmt, dann kommt auch der Erziehung ganz sicher eine wichtige Rolle zu. Der Hinweis auf veränderte, demokratischere Erziehungsstile überzeugt dabei nicht. Zu befürchten ist vielmehr, dass moderne Eltern, die eigentlich nur das Beste für ihr Kind wollen, perfektionistische Tendenzen fördern. Während frühere Generationen durch Strenge und Autorität auf Leistung getrimmt worden sind, lernen Kinder heute auf andere Weise, dass Perfektsein ein lohnendes Ziel ist. „Noch nie ist so viel erzogen worden wie heute“, schreibt Josef Kraus, der Präsident des Deutschen Lehrerverbandes. Eltern seien heute „Helikoptereltern“, so auch der Titel seines Buches, die versuchen, ein möglichst „perfektes Kind zu produzieren“. Er diagnostiziert bei den heutigen Eltern einen „übersteigerten, ja als narzisstisch zu bezeichnenden Perfektionismus, der gekennzeichnet ist durch Zwanghaftigkeit, latente Selbstzweifel, Dünnhäutigkeit der Eltern gegenüber kleinsten Versäumnissen. Vor allem aber durch überhöhte Erwartungen.“
Für Kinder, die dem „Förderzirkus“ (Kraus) ihrer Eltern hilflos ausgesetzt sind, ist der Weg in den Perfektionismus wohl programmiert. Und später, wenn sie dann größer sind, vergleichen sie sich mit ihren tollen Facebook-Freunden und nutzen all die digitalen Möglichkeiten, um ihre Leistung zu kontrollieren, sich mit anderer zu vergleichen und stetig an der Selbstverbesserung zu arbeiten … Schöne, neue, endlich perfekte Welt?
So weit wird es nicht kommen. Denn auch wenn wir im „Zeitalter der Selbstoptimierer“ leben und sich bald alle Lebensbereiche digital kontrollieren lassen – den perfekten Menschen wird es natürlich nicht geben. „Es sei denn, man versteht darunter, dass jeder Mensch genau so in Ordnung und perfekt ist, wie er ist“, meint der Autor und Psychotherapeut Elmar Woelm. Und gibt zu bedenken: So attraktiv uns in der Leistungsgesellschaft Perfektion auch erscheint, „wie attraktiv sind perfekte Dinge denn wirklich? Und was bedeutet es, perfekt zu sein? Ein perfektes Bild, eine perfekte Skulptur oder ein perfekter Baum – wie würden sie aussehen? Ist es nicht gerade die Abweichung vom Perfekten, was die Dinge wirklich ansprechend und interessant macht?“
Ein wichtiger Gedanke, der motivieren kann, sich mit der eigenen „Mittelmäßigkeit“ anzufreunden – und den inneren Richter, der nur mit Perfektem zufrieden ist, zum Schweigen zu bringen.
Literatur
Raphael M. Bonelli: Perfektionismus. Wenn das Soll zum Muss wird. Pattloch, München 2014
Gordon L. Flett, Paul L. Hewitt: Perfectionism. Theory, research, and treatment. APA, Washington 2002
Karen Horney: Neurose und menschliches Wachstum. Das Ringen um Selbstverwirklichung. Dietmar Klotz, Eschborn 2008 (5. Auflage)
Elizabeth Lombardo: Better than perfect. Seal Press, Berkeley 2014
Reinhold Ruthe: Die Perfektionismus-Falle … und wie Sie ihr entkommen können. Brendow, Moers 2011 (4. Auflage)
Sind Sie perfektionistisch?
Wie stark treffen die folgenden Aussagen auf Sie zu? Geben Sie sich 2 Punkte, wenn Sie das Statement als „sehr richtig“ einstufen, notieren Sie 1 Punkt, wenn Sie es für „richtig“ halten. Die Wertung „stimme nicht zu“ ist einen Minuspunkt wert (–1), und wenn Sie „stimme überhaupt nicht zu“ sagen, gibt es zwei Minuspunkte (–2). Antworten Sie nun bitte möglichst spontan:
___ Ich beurteile Menschen sehr kritisch, die meine Erwartungen nicht erfüllen.
___ Ich rege mich über mich selbst auf, wenn ich etwas, das ich angefangen habe, nicht zu Ende führe.
___ Ich werde oft nicht fertig mit einer Arbeit, weil ich sie immer wieder verbessere.
___ Wenn ich eine Aufgabe beendet habe, bin ich oft nicht zufrieden damit.
___ Ich fühle mich schuldig, wenn ich etwas nicht schaffe, was ich mir vorgenommen habe.
___ Ich schaue meist mehr auf das, was mir nicht gelungen ist, als auf das, was mir gelungen ist.
___ Über meine Fehler kann ich nicht lachen.
___ Wenn ich mit etwas nicht zufrieden bin, fange ich meist wieder von vorne an, um es besser zu machen.
___ Ich muss alles selbst machen, sonst wird es nicht so, wie ich es möchte.
___ Als Kind wurde ich oft kritisiert oder bestraft, wenn ich einen Fehler gemacht habe.
Auswertung:
15 bis 20 Pluspunkte: Sie sind ein Perfektionist. Ihre Erwartungen an sich und andere sind extrem hoch.
10 bis 14 Pluspunkte: Auch wenn Ihr Perfektionismus weniger stark ausgeprägt ist, sind Sie eindeutig zu hart mit sich.
5 bis 9 Pluspunkte: Sie sind an der Grenze zum Perfektionismus. In manchen Situationen handeln und denken Sie perfektionistisch, aber Sie sind kein eindeutiger Perfektionist.
1 bis 4 Pluspunkte: Sie haben Freude daran, etwas gut zu machen. Sie wollen, dass etwas perfekt ist – aber Sie streben nicht nach dem Optimum.
0 bis 5 Minuspunkte: Sie sind ein lockerer Typ. „Take it easy“ ist Ihre Devise.
6 bis 10 Minuspunkte: Möglicherweise gehen Sie die Dinge etwas zu entspannt an?
11 bis 20 Minuspunkte: Bewundernswerte Coolness. Sie lassen sich von nichts und niemandem antreiben.
Schluss mit der Selbstkritik!
Wie Sie den inneren Richter zum Schweigen bringen
„Sei perfekt“, sagt der innere Richter. Gut ist ihm nicht gut genug. Für den, der auf ihn hört, gibt es keine wirklichen Erfolge. Im Gegenteil: Perfektionismus ist eine enorme Bürde, die auf Dauer zu ernsthaften seelischen Problemen führen kann. Experten sehen heute einen klaren Zusammenhang zwischen perfektionistischem Handeln und Denken und Störungen wie Schlaflosigkeit, Selbstzweifeln, Depressionen, Suchtverhalten, Übergewicht. Auch Beziehungsschwierigkeiten können eine Folge des Perfektionismus sein, denn wer zu sich streng ist, stellt auch an andere hohe Erwartungen. Man spricht in diesem Zusammenhang vom other-oriented perfectionism, der vor allem in Paarbeziehungen für große Probleme sorgen kann. Es gibt also gute Gründe, die kritische, nie zufriedene innere Stimme, die immer 100 Prozent Leistung verlangt, zum Schweigen bringen. Wie das gelingen kann, hat der Psychotherapeut Elmar Woelm beschrieben:
Die Ursprünge des inneren Richters identifizieren
Wenn Sie verstehen, woher die Stimme des inneren Richters kommt, können Sie sich schrittweise von ihr emanzipieren. Welche Botschaften kamen von den Eltern? Wie leistungsorientiert und perfektionistisch waren Mutter und Vater? Wurden Sie nur gelobt, wenn Sie Außergewöhnliches geleistet hatten? Wurden Sie kritisiert oder ignoriert, wenn Sie nicht gut genug waren? Als Kind haben Sie Strategien entwickelt, um das Wohlwollen der Eltern zu erlangen. Diese Strategien setzen Sie heute noch ein, obwohl Sie sie längst nicht mehr brauchen. Soll die perfektionistische Seite in Ihnen schwächer werden, sollten Sie sich für die gespeicherten Elternbotschaften sensibilisieren.
Den Richter erkennen
Oftmals ist Ihnen nicht bewusst, dass der innere Richter eine Macht über Sie hat. Ihre negativen Selbstgespräche laufen dann unbemerkt ab. Wenn Sie den Richter enttarnen wollen, sollten Sie auf Folgendes achten:
- Selbstgespräche: Sagen Sie häufig „Ich sollte nicht, ich darf nicht“ (versagen, wütend werden, die Fassung verlieren, unfreundlich sein, Fehler machen) oder „Ich muss“ (mich mehr anstrengen, fleißiger, pünktlicher, verlässlicher sein), dann ist ganz sicher der Richter anwesend. Ebenso ist er am Werk, wenn Sie sich nicht positiv auf ein Ziel einstimmen wie „Ich freu mich über die Herausforderung“, sondern sich selbst schon im Vorfeld entmutigen mit Gedanken wie „Hoffentlich bau ich keinen Mist“.
- Denkmuster: Gedanken wie „Die ist attraktiver als ich“, „Der kann das viel besser“, „So gut wie X bin ich lange nicht“ oder „Entweder mir gelingt das perfekt, oder ich kann es gleich bleiben lassen“ sind Hinweise darauf, dass der innere Richter Sie antreibt.
- Scham- und Schuldgefühle: Fühlen Sie sich schlecht, wenn Sie einen Fehler machen? Wälzen Sie sich nachts wach im Bett herum, weil Ihnen eine peinliche Situation nicht aus dem Kopf geht?
- Auch körperliche Beschwerden wie Migräne, Rücken- und Magenschmerzen, rheumatische Schmerzen können auf die Anwesenheit des Richters hinweisen.
Den Richter hinterfragen
Sie haben mal wieder nicht geschafft, was Sie sich für den Tag vorgenommen hatten. Klar, dass sich am Abend die Stimme des Richters meldet. „Du hast versagt! Du bist nicht fertig geworden, auf dich ist kein Verlass!“ Sagt die Stimme die Wahrheit? Richtig ist: Die To-do-Liste ist nicht abgearbeitet. In diesem Punkt hat der innere Richter durchaus recht. Aber sind Sie deshalb gleich ein Versager, auf den man sich nicht verlassen kann? Der Richter „begnügt sich nicht mit der einfachen Wahrheit“, schreibt der Autor Elmar Woelm. „Er verurteilt Sie für das, was Sie getan beziehungsweise nicht getan haben.“ Und diese Bewertungen und Verurteilungen gilt es infrage zu stellen.
Dem Richter seine Macht nehmen
Wann immer Sie die verurteilende Stimme hören, sollten Sie sich klarmachen: „Ach, da spricht wieder mein Antreiber.“ Sie hören diese Stimme, aber sie gehört nicht Ihnen. Sie ist wie die Stimme eines Radiosprechers, der Ihnen etwas vorliest.
Sich gegen den Richter wehren
Wenn die Stimme es zu toll treibt, sollten Sie es nicht nur bei der Distanzierung belassen, sondern ihr aktiv entgegentreten. Sobald Sie merken, dass Sie in negative Selbstzuschreibungen verfallen, sollten Sie der Stimme Grenzen setzen: „Es verletzt mich, wenn du so mit mir sprichst.“ Oder: „Hör auf damit. Ich dulde das nicht länger. Du hast kein Recht, so mit mir zu sprechen.“
Dem Richter mit Humor begegnen
„Der Richter will ernst genommen werden“, sagt Elmar Woelm. Deshalb können Sie ihm die Kraft nehmen, indem Sie sich über ihn lustig machen und zum Beispiel seine Vorwürfe noch übertreiben. „Du hast recht, ich bin wirklich unfähig. Ich bin der unfähigste/dümmste/hässlichste/erfolgloseste Mensch weit und breit.“
Der Kampf gegen den inneren Richter und gegen das perfektionistische Streben nach Selbstverbesserung ist eine lebenslange Aufgabe. Denn der Richter gibt nicht so schnell auf. Schließlich ist er „eine Instanz, deren Aufgabe es ist, nie zufrieden zu sein“, wie der Psychotherapeut Woelm feststellt. Doch dieser Kampf lohnt sich.
Sie sollten also wachsam sein und immer auf der Hut. Allerdings: Sobald Sie gute Bekanntschaft geschlossen haben mit Ihrem inneren Richter, hat er kein so leichtes Spiel mehr.