Professor Seibel, Sie haben vier Fälle eklatanten Behördenversagens untersucht: die NSU-Morde, die Massenpanik auf der Loveparade mit 21 Toten, einen zu spät erkannten Fall schwerer Kindesmisshandlung und den Einsturz einer Eissporthalle in Bad Reichenhall mit 15 Toten. Was man sich zuallererst fragt: Gab es in den Behörden Krisensituationen, die das Versagen erklären könnten?
Überhaupt nicht. Das waren desaströse Entwicklungen, die aus der normalen Verwaltung hervorgegangen sind und auch immer wieder…
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Entwicklungen, die aus der normalen Verwaltung hervorgegangen sind und auch immer wieder hervorgehen können. Die öffentliche Bauaufsicht oder die Genehmigung von Großveranstaltungen sind Allerweltsvorgänge. Und auch der Schutz des Kindeswohls durch Jugendämter ist eine Alltagsaufgabe.
Finden sich Gemeinsamkeiten bei derlei Fällen von Behördenversagen?
Ja. Zum Beispiel wenn Fachfragen der Verwaltung politisiert werden. Das war bei der Loveparade in Duisburg eindeutig so. Die zuständige Fachbehörde hat gesagt: Das können wir nicht genehmigen. Das wurde dann durch politischen Druck torpediert, weil man eben dachte, dass solch eine Veranstaltung für die ganze Region Rhein-Ruhr prestigeträchtig sei. Das hat auch mit einer wichtigen, eigentlich positiven Eigenschaft der Verwaltung zu tun: Die höheren Kommunalbeamtinnen und -beamten in Duisburg wollten der Öffentlichkeit ja einen Dienst erweisen. In solchen Fällen sagen Bürgermeister der Verwaltung schon mal: „Seht mal zu, dass ihr das hinkriegt.“ So war das auch im Fall Loveparade.
Was lief da schief in der Verwaltung?
Die Verantwortlichen in der Verwaltung sahen nicht mehr den Unterschied zwischen einer Situation, in der man sich das leisten kann, und einer Situation, in der man Leib und Leben von Menschen riskiert. In Bad Reichenhall war das ähnlich. Da hatte der Oberbürgermeister ambitionierte Pläne für die Stadtplanung und hat einen Beschluss des Stadtrats ignoriert, die Eissporthalle grundsanieren zu lassen. Nach seinem Willen sollte die Halle sowieso abgerissen werden. Warum also noch Steuergelder verschwenden? Auch da hätte die Verwaltung erkennen müssen, was auf dem Spiel stand angesichts des offensichtlichen Sanierungsbedarfs. Entweder hätte die Halle saniert oder umgehend geschlossen werden müssen.
Welche psychologischen Mechanismen stecken hinter solch schwerwiegenden Verwaltungsfehlern?
Erstens schleichen sich in Verwaltungen Gewöhnung und Routinen ein. Die Leute beginnen zu denken, dass sie sich bestimmte Abläufe sparen können, obwohl die selbstverständlich sein sollten. Dass man zum Beispiel vor dem Einbau einer tonnenschweren Lüftungsanlage auf dem Dach einer Halle, wie das in Reichenhall vor Jahren passiert war, nachschaut: Wie sieht es hier eigentlich mit der Statik aus? Stattdessen wurde ohne Nachprüfung unterstellt, dass es für das Gebäude eine Prüfstatik gebe und die von der eigenen Behörde abgenommen wurde, so dass dann keiner mehr fragte: Wo ist sie eigentlich, die Prüfstatik? Sie war nämlich tatsächlich nicht auffindbar. Das hat sich aber erst nach der Katastrophe vom 2. Januar 2006 herausgestellt.
Ein weiterer Punkt: In Verwaltungen entscheiden oft Gruppen, jedenfalls bei komplexeren Sachverhalten. Wenn sich da eine Mehrheitsmeinung abzeichnet, entsteht bei den anderen eine Hemmung, diese infrage zu stellen, also den Troublemaker zu spielen. Das war in der Duisburger Verwaltung im Vorfeld der Loveparade so. Da haben die Fachbeamtinnen und -beamten, die gegen eine Genehmigung waren, irgendwann resigniert.
Sie haben auch die NSU-Morde untersucht. Was ist hier auf Verwaltungsebene geschehen?
Nach dem fünften Mord wollte die bayerische Kriminalpolizei die Ermittlungen beim Bundeskriminalamt zentralisieren. Das hätte auf jeden Fall die Ermittlungsressourcen verstärkt. An diesem Punkt griff allerdings ein Mechanismus der sogenannten prospect theory. Demnach macht es einen großen Unterschied, ob wir eine Sache als einen drohenden Verlust oder als möglichen Gewinn definieren und ob es sich um kurzfristige oder langfristige Effekte handelt. Die subjektiv wahrgenommene Aussicht, kurzfristig einen Verlust zu erleiden, bewirkt einen stärkeren Handlungsimpuls als die langfristige Aussicht auf einen Gewinn.
Das bedeutet im Fall der NSU-Morde…
Es gab ein Verlustszenario: Damit die Ermittlungen auf das BKA übertragen werden, hätte es eine Ausnahmeentscheidung des Bundesinnenministers gebraucht, und die hätte der bayerische Innenminister beantragen müssen. Ein ziemlich aufwendiges Verfahren. Dazu wollte sich der bayerische Landespolizeipräsident nicht entschließen. Das hat er dann übrigens später vor dem Bundestagsuntersuchungsausschuss selbst als Fehler bezeichnet. Ihm war – fälschlich, wie sich später herausstellte – vermittelt worden, dass man im BKA die Ermittlungsführung gar nicht übernehmen wolle. Sollte er das also gegen die übernehmende Behörde durchdrücken, weil seine eigenen Beamtinnen und Beamten sagten: „Wir kommen hier nicht weiter“, und: „Es kann auch noch mehr Tote geben“? Auf die Gefahr hin, dass er sich damit beim BKA keine Freunde machte? Das hätte die kooperativen Beziehungen belastet, auf die man gerade bei der Polizei im Bund-Länder-Verhältnis besonders angewiesen ist. In dieser Wahrnehmung war das Verlustszenario also sehr konkret, sozusagen mit Händen zu greifen.
Und das Gewinnszenario?
Das schien ziemlich vage und ungewiss: der Schutz möglicher weiterer Opfer. Darauf hatte die bayerischen Kriminalpolizei ihren Landespolizeipräsidenten hingewiesen. Bis heute knüpft sich daran die Frage, ob die psychologische Kosten-Nutzen-Bilanz nicht anders ausgefallen wäre, wenn die möglichen weiteren Mordopfer nicht Angehörige einer Minderheit gewesen wären, also keine kleingewerbetreibenden Migranten, sondern zum Beispiel Mittelständler mitten in Bayern.
Spielen bei solchen Fällen auch Machtstreben und die eigene Karriere eine Rolle? Möglicherweise gar zwischenmenschliche Manipulation?
Manipulation meist nicht. In Bad Reichenhall aber, wo der Bürgermeister eingeräumt hat, dass er den Beschluss des eigenen Stadtrates gezielt ignoriert hat, das kann man schon manipulativ nennen. Natürlich geht es auch in der Kommunalpolitik um Macht, selten aber um mutwillige Machtspiele. Dass Menschen den Einfluss, den sie auf die Verwaltung haben, auch missbrauchen, das kommt vor, auch in weitaus weniger krassen Fällen.
Von Fällen einer organisierten Verantwortungslosigkeit kann man also nicht sprechen?
Es kommt darauf an, was man darunter versteht. Es gibt Konstellationen, die für systematische Verantwortungsverzerrungen besonders anfällig sind. Das gilt grundsätzlich für alle arbeitsteiligen Vorgänge. Es gibt Grauzonen, bei denen man als neutraler Beobachter fragen würde: Wer ist hier eigentlich zuständig? Wer hat hier das Sagen? Und wo entstehen risikobehaftete Entscheidungsstrukturen, also Strukturen, die im Fall schwerer Fehler dazu einladen, anderen die Schuld in die Schuhe zu schieben? Das ist das Kennzeichen von dem, was man organisierte Verantwortungslosigkeit nennt. Diese Strukturen steigern die Risikobereitschaft zulasten Dritter. So war es bilderbuchmäßig in Duisburg. Nach der Loveparade-Katastrophe wollte es niemand gewesen sein. „Da war ich nicht wirklich zuständig. Da gab es noch ganz andere.“ So heißt es ja bis heute.
Mit anderen Worten: Es gibt auch ein strukturelles Problem in diesen Behörden?
Ja, klar. Aber hier muss man unterscheiden zwischen dem strukturbedingten Risiko, das man unter den gegebenen Umständen nicht ändern kann, und risikoanfälligen Strukturen, die mutwillig erzeugt werden. Die Kooperationsprobleme im deutschen Föderalismus kann die Verwaltung zum Beispiel nicht beseitigen. Aber auf übermäßige Delegation hoheitlicher Aufgaben in private Hände sollte sie verzichten oder, wenn das nicht machbar ist, ganz besonderes Augenmerk auf die kompensatorische Kontrolle legen.
Das bedeutet konkret?
Die Bauüberwachung bei öffentlichen Hoch- oder Tiefbauten kann man an ein externes Ingenieurbüro delegieren, aber dann muss die Behörde auch sicherstellen, dass die privaten Ingenieurinnen und Ingenieure genauso gewissenhaft und frei von Interessenkonflikten arbeiten wie die Fachleute der Verwaltung. Ein notorisches und nicht vermeidbares Problem ist die Kooperation von Polizei und privaten Sicherheitsdiensten. Wenn, wie im Vorfeld der Duisburger Loveparade, die Polizei wochenlang an den vorbereitenden Besprechungen gar nicht beteiligt ist, darf man sich nicht wundern, wenn es am Veranstaltungstag Koordinationschaos gibt. Als leitender Mensch in der Verwaltung muss ich Risikozonen kennen und Bescheid wissen, wie man diese unter Kontrolle behält. Wir wünschen uns natürlich zudem Beamte und Beamtinnen, die nein sagen, wenn ihnen Pflichtverletzungen zulasten von Dritten zugemutet werden.
Herr Seibel, Sie singen grad das Hohelied der Bürokratie.
Stimmt – aber nicht in einem naiven Sinn. Es ist gut, wenn man Menschen in der Verwaltung hat, die pragmatisch sind und nicht nur auf die Vorschriften gucken, nicht nur hierarchisch denken, sondern auch kooperativ und partizipativ. Die gibt es auch. Wenn dem nicht so wäre, hätten wir die Flüchtlingssituation 2015/2016 wahrscheinlich nicht bewältigt. Das war eine Sternstunde der Verwaltung, die bürokratisch und pragmatisch zugleich gehandelt hat.
Ein bürokratisches, regelgebundenes und berechenbares Handeln bleibt nun einmal das Rückgrat der Verwaltung – das macht sie bemerkenswert effektiv und vor allem sichert es klare Verantwortlichkeiten. Und unter diesen Vorzeichen überlegen sich Verwaltungsangehörige schon, ob sie wirklich Regeln dehnen oder missachten sollten, wenn das Risiken für Menschen mit sich bringt.
Wenn der zuständige Dezernent in Duisburg seine schützende Hand über seine Genehmigungsbehörde gehalten und seinem Dezernentenkollegen gesagt hätte: „Hör mal, das ist alles schön und gut, du willst die Veranstaltungsgenehmigung durchdrücken, aber wir gehen hier nicht über Leichen“, dann hätte er in dem Moment die bürokratische Rationalität durchgesetzt, ohne die der Schutz von Leben und körperlicher Unversehrtheit im Sinne des Grundgesetzes nicht verwirklicht werden kann. Im Fall Bad Reichenhall war das nicht anders.
Nun ist die juristische Aufarbeitung solcher Fälle die eine Sache, aber es gibt auch die ethische Seite.
Als entscheidungsbefugter Mensch in der Verwaltung muss ich wissen: Was ich tue und unterlasse, hat Folgen. Ich muss bereit sein, mir diese Folgen zurechnen zu lassen. Das ist Verantwortungsethik. Dazu gehört, ein Bewusstsein dafür zu haben, dass auch banale Entscheidungen in der Verwaltung erhebliche Folgen nach sich ziehen können. Ich muss abwägen: Mache ich jetzt noch mal eine Sitzung oder nicht? Sehe ich mir diese Fallakte noch mal genau an oder gibt es nicht noch wichtigere Fälle? Diese Fähigkeit zur Unterscheidung dürfen wir bei der großen Mehrzahl der Menschen, die in den Verwaltungen arbeiten, voraussetzen. Kritisch wird es dann, wenn diese Menschen ihre fachliche Rationalität gegen falsche Anreize oder Druck jedweder Art – das kann auch finanzieller Druck sein – verteidigen müssen. Oder wenn man ein bisschen mehr Aufwand als üblich treiben muss, damit alles sachgerecht abläuft.
Brauchen wir generell mehr Ethiklehre, etwa für angehende Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Behörden?
Das allein reicht nicht. Wir haben in Deutschland ein ganz großes Defizit an anderer Stelle: die fehlende systematische Aufarbeitung schwerwiegender Verwaltungsfehler. Dass der Staat uns lückenlose Aufklärung schuldet, wenn in staatlicher Zuständigkeit Menschen zu Schaden kommen, ist hierzulande keine verinnerlichte Erkenntnis. Solch eine Aufklärung bei schwerwiegendem Behördenversagen erfolgt in Deutschland nach politischer Opportunität, mal findet sie statt, mal nicht. Da haben wir in Deutschland eine große Reformbaustelle. Dass nach der Loveparade in Duisburg bei 21 Todesopfern keine Behördenfehler aufgearbeitet wurden und es damit auch keine amtliche Anerkennung der individuellen und institutionellen Verantwortlichkeiten gegeben hat, ist schlicht skandalös. Aus Fehlern, die man nicht wahrhaben will, kann man auch nichts lernen. ■
Vier Fälle von Behördenversagen
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Wolfgang Seibel ist Professor für Politik- und Verwaltungswissenschaft an der Universität Konstanz und Adjunct Professor of Public Administration an der Hertie School in Berlin