Herr Sheskin, sehnen sich die Menschen in ihrem tiefsten Inneren nach wirtschaftlicher Gleichheit?
Kurz gesagt: Nein! Im realen Leben da draußen sehnen sich die Menschen nicht danach, dass Geld und Güter in einer Gesellschaft gleich verteilt sein sollten. Sie wollen ein Quantum Ungleichheit.
Wie kommen Sie darauf? Sucht man in einschlägigen Datenbanken nach „Abneigung gegen Ungleichheit“, finden sich 10000 wissenschaftliche Veröffentlichungen zum Thema. Und da liest man oft, dass wir einen universellen Wunsch…
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Veröffentlichungen zum Thema. Und da liest man oft, dass wir einen universellen Wunsch nach gleicher Bezahlung haben.
Stimmt, diese Studien gibt es. Wenn man Leute ins Labor holt und sie darum bittet, bestimmte Ressourcen zwischen ihnen wildfremden Menschen aufzuteilen, bekommt jeder die gleiche Menge. Wenn Probandinnen und Probanden eine in Laborstudien hergestellte Situation der Ungleichheit erkennen, bügeln sie sie sofort aus, wenn man ihnen die Chance dazu gibt. Die Tendenz zur Gleichheit ist so stark, dass die Befragten es sogar bevorzugen, dass die Ressourcen gleich aufgeteilt werden und jeder weniger bekommt gegenüber einer ungleichen Aufteilung, in der jeder grundsätzlich mehr bekommen würde. Menschen werden in Laborstudien sogar wütend auf andere, die von ungleicher Verteilung der Ressourcen profitieren. Und sogar Kleinkinder zeigen ähnliche Neigungen im Laborexperiment.
Bedeutet das nicht doch, dass sich der Mensch grundsätzlich nach Gleichheit sehnt?
Wenn man den anderen Teil der wissenschaftlichen Untersuchungen ignoriert, dann schon. Wir – meine Kollegin Christina Starmans, mein Kollege Paul Bloom und ich – wollten es allerdings genauer wissen und haben Studien analysiert, die das Thema nicht unter Laborbedingungen, sondern im wahren Leben beleuchten. Das ist das, was wirklich zählt.
Aber Ihre Kollegen Michael Norton und Dan Ariely haben doch genau in einer solchen „Alltagsstudie“ herausgefunden, dass Menschen sich eine Gesellschaft wünschen, in der es mehr wirtschaftliche Gleichheit als heute gibt.
Die Kollegen haben in dieser zu Recht vielbeachteten Studie sogar ermittelt, dass konservative und begüterte Amerikanerinnen und Amerikaner das begrüßen würden, was man nicht gerade erwarten würde. Was in der Berichterstattung über diese Studie allerdings vergessen worden ist zu betonen: Die meisten der Studienteilnehmer waren in keiner Weise beunruhigt über eine große Ungleichheit in der Gesellschaft. Dieses Ergebnis hat sich inzwischen in vielen Ländern der Welt bestätigt – bei Anhängerinnen des ganzen politischen Spektrums und sogar bei Teenagern –, so dass wir derzeit guten Gewissens sagen können: Wirtschaftliche Gleichheit lehnen die meisten Menschen ab.
Wie ungleich wollen sie es denn?
Das kommt darauf an, wie man die Menschen fragt. In manchen Studien ist das Verhältnis eins zu vier. Wenn man, wie wir das üblicherweise machen, alle Menschen in fünf Vermögensgruppen einteilt – von den 20 Prozent an der Spitze bis zu den 20 Prozent mit dem niedrigsten Vermögen –, dann sollten die 20 Prozent oben viermal so viel haben wie die 20 Prozent unten. In einer hervorragenden Studie wurde direkt gefragt, wie viel Geld und Güter Menschen jedes Bevölkerungsfünftels durchschnittlich haben sollten. Da stieg das Verhältnis der Ungleichheit auf 1 zu 50. Das bedeutet: Den Reichen wurde 50-mal mehr zugestanden als den Ärmsten der Gesellschaft.
Warum bevorzugen die Menschen eine Gesellschaft mit wirtschaftlicher Ungleichheit?
Die meisten hoffen wohl auf einen ökonomischen Aufstieg, dass sie, salopp gesagt, den Jackpot knacken. Einige Studien zeigen: Je mehr soziale Mobilität eine Gesellschaft zulässt, desto eher ist man geneigt, größere Ungleichheit zu akzeptieren. Je mehr Menschen die Chance auf einen wirtschaftlichen und damit auch sozialen Aufstieg haben, desto mehr akzeptiert man Ungleichheit. Viele Leute gehen außerdem davon aus, dass ein Quantum Ungleichheit Fleiß fördert und Menschen motiviert, mehr zu arbeiten, auch in nicht so tollen Jobs. Sie glauben auch, dass eine Gesellschaft insgesamt leiden würde, wenn alle Menschen gleich verdienten und das gleiche Vermögen besäßen. Dass es dann weniger gute Produkte gäbe, dass technologische Entwicklung nicht so stark gedeihen könnte und so weiter.
Intuitiv würde ich annehmen, dass viele Menschen eine gewisse Ungleichheit als fair empfinden, abhängig von der Leistung jedes Einzelnen. Ist das so?
In der Tat: Gleichheit würde den Fairnesssinn des Homo sapiens fundamental aushebeln. Wer mehr beiträgt, muss mehr bekommen. Eine Ärztin, die 80 Stunden in der Woche arbeitet, Krankheiten behandelt und Leben rettet, verdient mehr Gehalt und Vermögen als ich als Kognitionswissenschaftler. Fairness ist das wesentlich wichtigere Merkmal als Ungleichheit. Menschen lehnen es aus der Tiefe ihrer Seele ab, wenn gegen ökonomische Fairnessregeln verstoßen wird.
Wie meinen Sie das?
Gleichheit und Fairness erscheinen auf den ersten Blick identisch, sind in Wahrheit aber unterschiedlich. Wenn Sie und ich zusammen eine Bäckerei aufmachen würden und Sie arbeiten vier Tage die Woche und ich drei, würden Sie vier Siebtel des Profits erwarten. Würde ich auf ökonomischer Gleichheit bestehen, hätten wir einen Zustand unfairer Gleichheit. Den Zustand fairer Ungleichheit – wenn Sie ihre vier Siebtel bekommen – halten die allermeisten Leute für die viel bessere Option. Wir mögen Fairness wirklich intuitiv. Die meisten Laborexperimente über Gleichheit berücksichtigen das allerdings nicht.
Was passiert bei den Laborstudien über Gleichheit, die Fairness mit untersuchen?
Dann ist die Aversion gegen Unfairness immer größer als die Aversion gegen Ungleichheit. Zum Beispiel: Wenn man Studienteilnehmerinnen und -teilnehmer fragt, wie sie fünf Belohnungen für zwei Jungs aufteilen, die ihr Zimmer sauber gemacht haben, geben sie jedem zwei. Die fünfte Belohnung lassen die Teilnehmer verfallen. Doch wenn man dazu sagt, dass einer der Jungen härter gearbeitet hat, soll dieser die fünfte Belohnung bekommen. Nach diesem Prinzip verfahren schon kleine Kinder und selbstverständlich auch Erwachsene, und zwar in allen bisher darauf untersuchten Kulturen. Das steckt tief im Menschen drin, was natürlich nicht bedeutet, dass nicht auch Anteile von Gier das Verhalten leiten. Es ist aber absolut erstaunlich, wie oft Menschen in allen möglichen Situationen fair handeln. Aus all den genannten Gründen wird die Debatte um wirtschaftliche Ungleichheit meines Erachtens falsch geführt: Wir müssen die exorbitant reichen Leute viel mehr an Fairness erinnern, als das bisher geschehen ist.
Sie meinen, man könnte mehr Reiche dazu bekommen, wenn man an ihren Sinn für Fairness appelliert?
Ich könnte mir das vorstellen. Die Diskussion würde besser und fruchtbarer werden, wenn man zwischen Ungleichheit und Fairness unterschiede. Wir könnten viel mehr Übereinstimmung in die Debatte bringen und mehr erreichen. Denn die meisten Menschen wollen die Ungleichheit nicht auf null bringen, sie wollen sie nur auf ein Maß reduzieren, das Fairness widerspiegelt.
Das ist dann eine Frage der Quantität, oder?
Ja, das ist eine entscheidende Ebene dieser Diskussion. Mit dem Wissen der überragenden Bedeutung von Fairness kann man aber auch viel besser Antworten auf die Frage suchen, welche Faktoren faire oder unfaire Parameter für Ungleichheit sind und welche nicht; Parameter wie harte Arbeit, Fähigkeiten, Bedürftigkeit oder eine moralische Pflicht, Armut zu bekämpfen.
Warum reden dann so viele Menschen über wirtschaftliche und soziale Ungleichheit, statt für Fairness zu argumentieren?
Weil es leider komplizierter ist, über Fairness als über Gleichheit zu reden. Um zu beweisen, dass dies oder jenes massiv ungleich ist, muss ich nur sagen: Schau dir diesen einen Typen an, der eine Million Mal mehr hat als die meisten anderen! Um zu sagen, dass das auch extrem unfair ist, muss man zum Beispiel auf Basis der genannten Parameter darüber diskutieren, wie viel dieser Person zusteht im Vergleich zu anderen. Und dann müssen wir in die Details einsteigen: Welche Rolle hat er oder sie in der Gesellschaft? Wie sollte das belohnt werden? Und so weiter. Aber die Extraarbeit, über Fairness nachzudenken, lohnt sich. Denn nur so hat man eine Chance, Menschen, die viel mehr besitzen, zu motivieren, etwas abzugeben. Und ihnen zu sagen: Diese Situation ist unfair ungleich. An Fairness zu appellieren und damit zu argumentieren, ist der bessere Weg, um Fortschritte zu erzielen.
Der Moralphilosoph Harry Frankfurt meint, dass man sich nicht so sehr darum kümmern sollte, Ungleichheit zu beseitigen. Denn Ungleichheit sei moralisch irrelevant. Wirklich zählen würde nur, dass jeder Mensch so viele Ressourcen hat, dass er ein Leben in Anstand und Würde führen kann. Wie viele Ressourcen sind das?
Zunächst einmal stimme ich Harry Frankfurt zu, aus den genannten psychologischen Gründen. Alles darüber hinaus ist eine moralische Frage. Man könnte sich darauf zurückziehen und sagen: Jeder Mensch hat ein Recht auf Nahrung und eine Bleibe, die ihn vor Wind und Wetter schützt. Darüber hinaus müssen wir uns in unseren modernen Gesellschaften fragen: Wie viele Sozialleistungen gehören zu einem würdevollen Leben? Zugang zur Krankenversorgung zählt zwingend dazu, aber vielleicht auch Zugang zum Internet. Diese Frage jedenfalls wird immer wichtiger werden angesichts der Tatsache, dass immer mehr Jobs an Maschinen verlorengehen werden. Da werden wir noch lange und harte Diskussionen erleben – auch über ein Grundeinkommen für alle.
Wenn jemand nicht mit der Verteilung der Ressourcen in seiner Gesellschaft einverstanden ist, wie beeinflusst das diese Person?
Darüber gibt es kaum einschlägige Untersuchungen. Was wir aber aus mehreren Studien in unterschiedlichen Ländern wissen: Ein bisschen mehr zu verdienen als der Kollege in der Firma macht die Menschen nur marginal glücklicher. Doch ein bisschen weniger zu verdienen, macht sie erheblich unglücklicher, weil sie das unfair finden. Das heißt: Innerhalb der Gruppe, in der sich die Menschen vergleichen – in ihrer Firma, in ihrem Land, was auch immer –, macht es leider einen großen Unterschied, zu wissen, dass man etwas weniger verdient.
Hat sich an Ihren Erkenntnissen und Thesen durch Covid-19 etwas geändert?
Nein, im Gegenteil. Hier zeigt sich der Wert der Ungleichheit noch mal besonders. Es ist fair, wenn Intensivmedizinerinnen mehr Geld verdienen als ich und dass sie vor mir gegen Covid-19 geimpft werden. Gerade am Design und der Planung der Impfkampagnen lässt sich sehen, wie wichtig es ist, dass es im Rahmen der akzeptierten Ungleichheit fair zugeht. Deshalb ist es zugleich auch so herausfordernd, diese Kampagnen zu organisieren: Es braucht dafür Zeit und Vertrauen. Aber zugleich geht es auf Kosten eines Faktors, der in diesem Fall genauso wichtig ist: Schnelligkeit. Aber auch jetzt gilt wie vor der Pandemie: Menschen legen sehr viel Wert auf Fairness und sprechen oft von Ungleichheit, wenn sie eigentlich Fairness meinen.
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Literatur
Bericht zur weltweiten Ungleichheit 2018 des World Inequality Lab, Kurzfassung: wir2018.wid.world/files/download/wir2018-summary-german.pdf
Facundo Alvaredo u. a.: Die weltweite Ungleichheit. Der World Inequality Report. C. H. Beck, 2018
Mark Sheskin ist Professor für Entwicklungspsychologie an den Minerva Schools am Keck Graduate Institute in Kalifornien. Er forscht darüber hinaus an der Yale University