Im Fokus: Mit Pädophilie leben

Sexualtherapie: Mit Pädophilie leben lernen. Was Menschen mit Pädophilie hilft, straffrei zu bleiben, erklärt Psychiater Kolja Schiltz

Ein rotes Schild auf der mit weißen Punkten das Wort "Nein" steht.
An 13 Standorten bietet das Präventionsnetzwerk "Kein Täter werden" therapeutische Hilfe für Pädophile an. © Psychologie Heute

Herr Schiltz, das Präventionsnetzwerk Kein Täter werden bietet nun auch in München Menschen mit Pädophilie therapeutische Hilfe an. Zur Eröffnung des Standortes wurde von Politikern und Politikerinnen betont, dass es dabei vorrangig um die Verhinderung von Sexualstraftaten und Kinderpornografie gehe. Wie eng ist die Verknüpfung zwischen Pädophilie und solchen Verbrechen?

Der beste Opferschutz ist immer die Prä­vention von Straftaten. Deshalb denken wir, dass es wichtig ist, Personen mit pädophilen Neigungen…

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die Prä­vention von Straftaten. Deshalb denken wir, dass es wichtig ist, Personen mit pädophilen Neigungen Hilfe anzubieten, damit sie keine Übergriffe begehen. Aber: Die überwältigende Mehrheit der Personen mit einer sexuellen Präferenz für Kinder begeht keine Straftaten.

Sie vermeiden das, weil sie Kinder mögen und ihnen nicht schaden wollen. Man muss dazu auch sagen, dass sexuelle Übergriffe auf Kinder nur zu 40 Prozent von Menschen mit Pädophilie begangen werden. Die Mehrheit der Täterinnen und Täter, nämlich 60 Prozent, weist keine solche Sexualpräferenz auf.

Was ist der Unterschied zwischen den beiden Gruppen?

Es handelt sich bei Letzteren um sogenannte Ersatzhandlungstäter. Das sind häufig Menschen, die sich sexuell für Gleichaltrige interessieren, aber ein Problem haben, Zugang zu ihnen zu finden. Das können also Männer oder auch Frauen sein, die keinen Freund oder keine Freundin finden, die generell Probleme im Umgang mit anderen haben und möglicherweise keine befriedigenden sexuellen Erfahrungen mit Gleichaltrigen erleben. Sie leben ihre Sexualität dann an Kindern aus.

Anders ist es bei einer Pädophilie. Der Begriff bezeichnet eine bestimmte sexuelle Vorliebe, keine Erkrankung. Jeder Mensch hat eine sogenannte Präferenzstruktur, innerhalb derer verschiedene Reize für ihn oder sie sexuell ansprechend sind. Für jemand mit Pädophilie sind kindliche Reize bedeutsam, wie ein kindliches Körperschema oder kindliche Eigenschaften.

Was Pädophilie aber nicht heißt, ist, dass jemand wegen seiner Neigung straffällig werden muss. Im Gegensatz zur sogenannten pädophilen Störung. Die wird erst diagnostiziert, wenn die Pädophilie Probleme bereitet, also bei den Betroffenen ein psychisches Leiden dadurch entsteht, jemand deshalb eine Straftat begeht oder einen großen Drang dazu verspürt.

Wie viele Menschen mit Pädophilie gibt es?

Es handelt sich um etwa ein Prozent der männlichen Bevölkerung. Es betrifft aber auch Frauen; wie viele, wissen wir nicht, da Studien dazu fehlen. Pädophilie zieht sich durch alle Schichten und Bildungsniveaus, das sehen wir auch in unserer Arbeit.

Ähnlich verhält es sich mit Missbrauch, was an den großen bekanntgewordenen Fällen deutlich wird. Darunter sind Menschen mit geringem Einkommen und mit gesellschaftlichem Status, die des Kindesmissbrauchs schuldig sind. Das Gleiche kann man aber auch in der Kirche sehen, wo zahlreiche Priester zu Tätern geworden sind.

Weiß man, wie Pädophilie entsteht?

Sicher wissen wir das noch immer nicht. Wir müssen von einem sehr komplexen Zusammenspiel von biologischen, sozialen und psychologischen Faktoren ausgehen. Aus großen kanadischen Studien gibt es beispielsweise Hinweise darauf, dass bestimmte Kopfverletzungen vor der Pubertät bei Personen mit einer pädophilen Sexualpräferenz signifikant häufiger vorkommen als bei Menschen ohne diese Präferenz. Das ist allerdings zunächst nur ein statistischer Zusammenhang, kein ursächlicher.

In Filmen wird es oftmals so dargestellt, dass Menschen, die zu Pädophilie neigen, schlimme Erfahrungen im Elternhaus gemacht haben.

Der Einfluss des Elternhauses bezieht sich nicht auf die sexuelle Präferenz, darauf haben Eltern keinen Einfluss. Die Erziehung beeinflusst, ob jemand die Grenzen anderer Menschen überschreitet und ihnen Schaden zufügt. Wir wissen aus Untersuchungen mit Menschen, die wegen Körperverletzung oder anderer Straftaten verurteilt wurden, dass der Umgang der Eltern mit ihnen die Neigung zu Straftaten verstärken kann. Bei einer Person mit Pädophilie, die in einem fürsorglichen Elternhaus mit gesunden Bindungsstrukturen aufgewachsen ist, ist die Hemmung viel höher, und damit werden Grenzüberschreitung und Straftaten unwahrscheinlicher.

Was macht es mit den Menschen, wenn sie feststellen, dass sie Kinder sexuell anziehend finden?

Viele bemerken das früh in der Pubertät und sind dann irritiert. Zugleich trennt es sie von den Gleichaltrigen, weil sie nicht mit ihnen über sexuelle Themen sprechen können. Andererseits interessieren sie Gleichaltrige ja auch weniger, weil sie sich zur Kindeswelt hingezogen fühlen.

Die meisten aber sind ganz normal Teil der Gesellschaft, sie werden nicht übergriffig, vermeiden Annäherungen und wollen Kindern keinesfalls schaden. Sie machen ihre Schule fertig, absolvieren eine Ausbildung. Viele suchen sich Berufe, in denen sie mit Kindern in Kontakt sind, weil sie sich zu kindlichen Umgebungen und Gedankenwelten hingezogen fühlen.

Häufig liegt keine vollkommen exklusive Pädophilie vor. Das bedeutet, dass die Betroffenen durchaus auch Sexualität mit gleichaltrigen Partnerinnen oder Partnern leben können. Manche von ihnen leiden aber an ihren Bedürfnissen, vor allem wenn sie ihre Neigung für moralisch verwerflich halten oder erkennen, dass es Kindern schaden würde, diese mit ihnen auszuleben.

Die Hälfte der Allgemeinbevölkerung plädiert einer Umfrage zufolge dafür, Männer vorsorglich zu inhaftieren, wenn sie sexuell an Kindern interessiert sind. Was stößt uns an Pädophilie so ab?

Kennen Sie jemanden, von dem Sie wissen, dass er sexuell an Kindern interessiert ist? Wenn ja, dann in der Regel nur verurteilte Straftäter, von denen wir das aus den Medien hören. Tatsächlich wissen wir wenig über jene, die sexuell an Kindern interessiert sind, aber nie etwas machen. Diese Menschen sehen wir nicht in der Öffentlichkeit, sondern nur die Fälle, bei denen es zu Straftaten kommt. Diese Taten sind natürlich für die meisten Menschen abstoßend.

Wie sollten wir also mit Menschen umgehen, die eine Pädophilie haben?

Zunächst ganz normal. Das sind Menschen wie Sie und ich. Das Problem ent­steht dann, wenn jemand den sexuellen Drang empfindet und kurz davorsteht, diesen auszuleben. Dann ist es gut, das Risiko zu senken und der Person dabei zu helfen, auch weiterhin nicht straffällig zu werden, etwa indem man auf spezialisierte Beratungsangebote wie Kein Täter werden hinweist.

Was kann Kein Täter werden den Betroffenen anbieten?

Wir können nicht die Sexualpräferenz behandeln, die ist bei allen Menschen relativ stark fixiert. Wir können die Betroffenen aber dabei unterstützen, nicht darunter zu leiden und eben kein Täter zu werden. Das machen wir, indem wir mit ihnen in Therapiegruppen Handlungen und Maßnahmen erarbeiten, die ihnen helfen sollen, mit ihren Bedürfnissen umzugehen und Kindern nicht zu schaden.

Kommen die Männer von sich aus zu Ihnen?

Ja, und das ist wichtig, denn unsere Behandlung fußt auf Mitarbeit und Interesse daran, die eigene Problemsituation aufzuarbeiten. Häufig sagen die Männer, die zu uns kommen: „Ich habe das schon lange und ich leide darunter. Ich möchte damit zurechtkommen, möchte diese Spannung oder auch die Angst davor, dass ich vielleicht irgendwann etwas mache, was ich nicht machen will, unter Kontrolle bekommen.“

Wir nehmen keine Personen in unser Programm auf, gegen die aktuell strafrechtlich ermittelt wird, die eine Bewährung laufen haben oder für die eine Weisung vom Gericht vorliegt, sich behandeln zu lassen. Für diese Menschen gibt es spezielle eigene Angebote.

Wie läuft Ihr Programm konkret ab?

Der erste große Schritt für Betroffene ist, sich überhaupt an jemanden zu wenden. Denn Pädophilie ist mit einem starken Stigma verbunden. Die meisten haben Angst vor sozialer Ausgrenzung. Deshalb gehört es zum Grundkonzept bei Kein Täter werden, dass sich die Interessierten anonym melden und auch behandelt werden können. Für viele ist das entlastend. Mit therapeutisch geschulten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern können sie offen und ohne Scham oder Stigmatisierung über die Pädophilie sprechen – für manche ist es das erste Mal im Leben.

Wie geht es dann weiter?

Wir nehmen eine Diagnostik vor, prüfen also, was für ein Problem vorliegt. Viele wissen nicht genau, wie sie das nennen sollen, was sie erleben, und merken nur, dass ihre sexuelle Präferenz mit den gesellschaftlichen Normen nicht zusammenpasst. Die Diagnose schafft Klarheit und wir klären darüber auf, was sie bedeutet.

Im nächsten Schritt bearbeiten wir mit den Teilnehmenden verschiedene Aspekte ihrer eigenen Sexualität. Anfangs geht es zunächst um grundlegende Themen wie: Was ist überhaupt Sexualität? Was stellen sich Betroffene unter Sexualität vor? Was sind typische Gefühle? Was löst generell sexuelles Verlangen aus?

Das ist wichtig, damit die Teilnehmenden Begriffe lernen, um künftig ihre inneren Zustände beschreiben zu können. Dann wird es konkreter. Wir erklären, was Pädophilie ist, und wir fragen nach: Welche Reize sprechen Sie an? Was haben Sie für Fantasien? Wie leben Sie Ihre Sexualität aktuell aus?

Wann ist eine Behandlung erfolgreich abgeschlossen?

In der Regel dauert die Behandlung ein bis zwei Jahre. Ziel jeder sexualtherapeutischen Behandlung ist, Sexualität als intensive Beziehung zu einer anderen Person erlebbar zu machen – und zwar in einer Weise, die keiner der beteiligten Parteien schadet. Das geht mit Kindern natürlich nicht und ist deshalb das Zentrale, was die Personen verinnerlichen müssen. Die Personen lernen also: Wie kann ich meine Gefühle leben, ohne sexuelle Übergriffe auf Kinder zu begehen?

Gibt es da bestimmte Strategien, die die Betroffenen einüben?

Wir erarbeiten mit den Teilnehmenden, wie sie den Kreislauf hin zu einem möglichen sexuellen Missbrauch frühzeitig unterbrechen können. Etwa indem wir uns konkrete Situationen ansehen, die gefährlich werden könnten: Wie findet das Kennenlernen mit einem Kind statt? Welche tatsächliche Motivation steht dahinter? Welche Fantasien werden dadurch belebt? Wie kommt es zum sogenannten Grooming, bei dem zu dem Kind Vertrauen aufgebaut wird? Und wie kann sich daraus sexueller Kontakt ergeben? Wir erarbeiten an den verschiedenen Stellen Auswege für die Menschen mit Pädophilie.

Was können das für Auswege sein?

Zunächst braucht es überhaupt die Motivation auszuweichen und die Anerkennung, dass eine sexuelle Interaktion für das Kind schädlich ist. Das erwächst am zuverlässigsten aus dem Mitgefühl mit einem möglichen Opfer. Wir müssen also mit den Männern und Frauen herausarbeiten, was es mit einem Kind macht, wenn ein Erwachsener sich ihm sexuell nähert.

Wenn die Teilnehmenden sich in die Kinder hineinversetzen und für sich selbst erleben, was ein Übergriff bedeutet, dann ist das eine sehr wichtige Grundlage, kein Täter zu werden. Entwickelt jemand die Fantasie, mit einem Kind sexuell zu interagieren, empfindet dann aber direkt Mitgefühl mit dem Kind, dann hemmt das bereits den Antrieb, Schritte in diese Richtung zu gehen.

Kein Täter werden gibt es mittlerweile an 13 Standorten in Deutschland. Wie erfolgreich hilft das Konzept?

Da wir im Dunkelfeld arbeiten und Probanden nicht zuverlässig nachverfolgen können, können wir nicht direkt messen, wie viele der Teilnehmenden durch die Behandlung straffrei bleiben und wie viele nicht. Was wir aber messen, sind typische Risikofaktoren, die eine Tat wahrscheinlicher machen. Etwa wie geneigt jemand ist, übergriffig zu werden, aber auch Belastungen im Leben der Betroffenen wie etwa Ausgrenzung oder Konflikte mit anderen zählen dazu.

Studien, die auch im Rahmen des Präventionsnetzwerkes veröffentlicht wurden, haben in großen Teilen gezeigt, dass man diese Risiken durch das Behandlungsprogramm sehr gut reduzieren kann und daher mit einer hohen Wahrscheinlichkeit davon auszugehen ist, dass Übergriffe durch unsere Teilnehmerinnen und Teilnehmer unwahrscheinlicher werden.

Professor Kolja Schiltz leitet die Abteilung für Forensische ­Psychiatrie am Klinikum der Ludwig-Maximilians-Universität München sowie die dortige ­Präventionsambulanz Kein Täter werden.

Kein Täter werden ist ein Präventionsprogramm, das 2005 am Institut für Sexual­wissenschaft und ­Sexualmedizin der Charité, Universitätsmedizin Berlin gegründet wurde. Mittlerweile ist es ein Netzwerk mit 13 Standorten in ganz Deutschland, das nach gemeinsamen Qualitätsstandards kostenlos Betroffene behandelt. Mehr Infos unter: kein-taeter-werden.de

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 10/2021: Zeit finden