Der Verlust des Gewesenen

Ein asphaltierter Weg durch den geliebten Wald. Ein Sakrileg! Und gleichzeitig wohnt man selbst in einem Haus, wo mal eine Wiese war.

Die Illustration zeigt einen Radfahrer vor einer Stadtkulisse mit Häusern, Baukränen und Bäumen
In dem Wald, den Andreas Maier so sehr genießt, soll bald ein asphaltierter Weg angelegt werden. © Jan Robert Dünnweller

Durch den Wald bei Buchschlag führt ein Weg, auf dem ich fast täglich mit dem Fahrrad fahre. Der Baumbestand ist durchforstet, wie üblich in einem hessischen Waldgebiet, und die Wege sind in Planquadraten angelegt. Aber immerhin, die Kronen der Bäume schießen zusammen, und du hast stets das Gefühl, dich im Mittelschiff eines riesigen gotischen Doms zu befinden. Die Äste imitieren die Rippen der Kreuzgewölbe.

Im Frühling fährst du auf dem Weg ausschließlich durch den Frühling, alles frisch, alles grün, im…

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dem Weg ausschließlich durch den Frühling, alles frisch, alles grün, im Herbst wird der Prospekt zur Farbenorgie in Rot-Gelb-Ocker-Braun, im Winter ist auf dem Weg Winter und sonst nichts. Geäst, Laub auf dem Boden, Matsch oder Schnee.

Auf dem Weg bekomme ich den jahreszeitlichen Ablauf der Tage, Wochen und Monate in ihrer langsamen Entwicklung unmittelbar und stufenlos mit. Wirklich fast Tag um Tag. Das ist außergewöhnlich und habe ich so noch nicht erlebt.

Ich nutze den Waldweg, um von meinem derzeitigen Wohnort nach Frankfurt zu gelangen. Auf einer bestimmten Höhe des Weges stehen Holzskulpturen in einem kleinen Rondell: eine bäurische Frauenfigur mit Milchkanne, ein alter gebeugter Mann mit Bart, vielleicht einen Meter hoch und bereits dunkel verwittert.

Die unbekannte Schnitzkünstlerin

Sie sehen aus wie aus einem Märchen, man fühlt sich wie zu Zeiten der Brüder Grimm. Dazu Rehe, Uhus, eine Wildschweinfamilie. Neulich traf ich eine Frau an diesem Platz und fragte sie, ob sie die Künstlerin sei. Sie verneinte. Die Künstlerin sei ihr gut bekannt, diese wolle aber anonym bleiben. Es handle sich um eine alte Dame.

In der Tat wirkt das ganze Ensemble wie völlig aus der Zeit gefallen.

Der Weg führt schon lange durch den Wald bei Buchschlag. Vor dem Städtchen passiert er eine kleine Eisenbahnlinie und mündet dann in ein Viertel, das ausschließlich aus villenartigen Einfamilienhäusern aus den 70er und 80er Jahren besteht. Dort, wo heute diese Häuser stehen, war früher ebenfalls Buchschlager Wald gewesen. In einem dieser Häuser – alle haben große Gärten – vermute ich die anachronistische Schnitzkünstlerin.

Neulich gab es auf dem Weg eine Art Zusammenrottung. Es hing kurz hinter dem Ortsrand von Buchschlag ein Anschlag an einem der Bäume. Man weiß hier in der Region seit längerem, dass ein großangelegter Rad- und Skaterweg, asphaltiert, beleuchtet und mit allem Pipapo, von Darmstadt nach Frankfurt gebaut werden soll. Es hieß stets, dass der Weg direkt an der Bahnlinie entlanggeführt werden soll, die schnurgerade von Darmstadt nach Frankfurt führt.

Auf dem Anschlag stand nun Folgendes: „Keine Rad- und Skaterbahn im Buchschlager Wald! Keine Lichtverschmutzung! Keine Betonpiste!“

Bestimmt ein Zugezogener!

Das war mir neu! Ich wusste nicht, dass der Rad- und Skaterweg auch eventuell hier durch den Wald führen könnte.

Man kann es sich gut ausmalen, eine ausgebaute Piste, großzügig beleuchtet, und darauf Leute mit Rollen, Helmen und Knieschützern, mal die ganze Familie, andere sportlich unterwegs. Schlagworte wie „Weg vom Auto, hin zum Fahrrad“, „Urbanität“, „Grünes Bewusstsein“, „Aufwertung der Region“ kommen einem unwillkürlich in den Sinn.

Die behelmten Familien, die dann hier fahren, könnten unter anderem aus den riesigen Neubausiedlungstürmen stammen, die derzeit am Rand meiner Stadt entstehen. Familien ziehen dorthin, weil die Stadt eine S-Bahn-Station besitzt und man in nur 13 Minuten in Frankfurt ist, der Metropole. Was früher eine eigenständige Region war, wird immer mehr zum Vorort.

Beweis: Wir selbst. Meine Frau und ich wohnen hier aus ganz genau demselben Grund, wenn auch nicht im Neubaugebiet: S-Bahn-Station, 13 Minuten. Es nennt sich Zersiedeln.

Auf meinen täglichen Fahrten nach Frankfurt habe ich mich auf diesem Waldweg, den ich so genieße, übrigens immer ein wenig als Fremdkörper gefühlt. Öfter habe ich alte Menschen gesehen, die noch ganz andere Zeiten kannten und in mir auf meinem schnellen Rad sicherlich die unübersichtlich gewordene beschleunigte Zeit gesehen haben. Was der brettert! Bestimmt ein Zugezogener! Einer, der mit hier gar nix zu tun hat!

Ewiger Zwiespalt

Vor dem Aushang sah man einhellige Reaktionen. Alle waren entgeistert. „Stellt euch das doch mal vor“, sagte eine ältere Frau in Gummistiefeln mit Hund, die aus dem Villengebiet Buchschlag kam (das vorher Wald gewesen war), „hier alles beleuchtet, und dann rasen die hier durch, das geht doch nicht!“

Ein junger Kerl mit langen Haaren, Brille und ebenfalls Hund, ziemlich nerdig, meinte resigniert: „Dann können sie ja auch gleich einen Parkplatz hier in den Wald bauen. Und eine Imbissstation. Und am besten gleich noch einen Hubschrauberlandeplatz dazu!“

Fürsprecher des Projekts waren im Wald natürlich keine zu finden. Es war ja bislang ihr Waldweg gewesen. Ich spürte einen Stich in meiner Brust. Es ist immer das Gleiche! Wie normal werden sehr bald Menschen aus Darmstadt oder Frankfurt oder von sonstwo diese Rennstrecke finden, wenn sie hier entstehen sollte. Sie werden sie einfach benutzen, als sei sie schon immer gewesen. Toll, mit Licht sogar!

Vorteil und Genuss

Buchschlag werden sie gar nicht kennen. Wie das riesige Gebiet mit den Neubau-Wohntürmen bei uns: Später werden das mal ganz normale Altbauten sein, und wer derzeit dort reinzieht, ist vermutlich schon jetzt glücklich. Wer dagegen früher dort lief, als alles noch Feld war, dürfte am Boden zerstört sein.

Ewiger Zwiespalt der janusköpfigen Welt!

Den einen wird der Verlust des Gewesenen immer eine Wunde bleiben, den anderen ist das Neue stets Vorteil und Genuss. Und während die anderen dann nachts in ihrer Stadtrandvilla aus den 70/80ern die Läden heruntermachen werden, um sich vor der neuen Lichtverschmutzung in Sicherheit zu bringen, werden draußen unbeschwert und ihre Freizeit genießend Menschen vorbeirollern, denen um nichts einfallen wird, wie es hier früher ausgesehen haben mag, als der Waldweg noch ein Waldweg war.

So wie die in den Villen sich wahrscheinlich auch kaum jeden Tag klarmachen, dass es ihre Häuser, ihre Straßen, ihre Trottoirs und die Laternen darauf noch vor einiger Zeit ebenfalls nicht gegeben hatte und dieses Villenviertel für noch Ältere ebenso ein Horror gewesen sein dürfte.

Andreas Maier ist vielfach ausgezeichneter Schriftsteller. Auf elf Bände hat er seinen Zyklus „Ortsumgehung“ angelegt, 2021 ist der achte Band mit dem Titel Die Städte erschienen (Suhrkamp). In Psychologie Heute erdichtet er an dieser Stelle jeden Monat das Blaue vom Himmel.

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 6/2022: Die Zeit, als alles neu war