Im Sommer 2009 stieß sich die Computerspiel-Entwicklerin Jane McGonigal ordentlich den Kopf. Sie erlitt eine leichte Gehirnerschütterung mit starken Schmerzen. Ihr war übel und schwindelig, noch dazu vergaß sie ständig Dinge. Typische Symptome, die normalerweise nach ein paar Tagen wieder nachlassen. Doch mehrere Wochen später fühlte sich die Amerikanerin noch immer wie benebelt. Die damals 31-Jährige litt unter dem sogenannten postkommotionellen Syndrom, anhaltenden Beschwerden nach einer…
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litt unter dem sogenannten postkommotionellen Syndrom, anhaltenden Beschwerden nach einer Gehirnerschütterung. An Arbeit oder Sport war nicht zu denken, stattdessen verschrieb eine Ärztin ihr absolute Schonung. Die Beschwerden blieben trotzdem – und Jane McGonigals Stimmung sank auf den Tiefpunkt. „Ich war so ängstlich und deprimiert wie nie zuvor in meinem Leben“, schreibt sie in ihrem Buch Gamify your Life (Herder 2016).
Statt sich ihren Symptomen weiter ausgeliefert zu fühlen, besann sie sich schließlich auf das, was sie wirklich beherrschte: Spiele entwickeln. „34 Tage, nachdem ich mir den Kopf gestoßen hatte, sagte ich mir: Entweder ich bringe mich um, oder ich mache ein Spiel daraus“, so ihre Gedanken. Als Erstes legte sie sich einen heldenhaften Namen zu und wurde „Jane, die Gehirnerschütterungsjägerin“. Sie identifizierte „Bösewichte“ in ihrem Alltag, also alles, was bei ihr Schmerzen, Ängste oder Stress auslöste (wie zu helles Licht) oder das ihren Fortschritt hemmte – wie negative Gedanken. Gleichzeitig überlegte sie sich, was ihr die Kraft für den Kampf gegen diese Bösewichte geben könnte, zum Beispiel fünf Minuten mit dem Hund zu kuscheln oder kurz mit ihrem Ehemann spazieren zu gehen. Power-ups werden solche kleinen Energiespritzen in PC-Spielen genannt.
Zudem setzte sich Jane McGonigal Ziele. Zunächst nahm sie sich vor, aus dem Fenster zu schauen und die Umgebung bewusst wahrzunehmen – für sie eine echte Herausforderung. Später machte sie sich an Vorhaben wie Kekse backen. Zusätzlich rekrutierte sie „Verbündete“ für ihr Spiel, zum Beispiel ihre Zwillingsschwester, die ihr Ziele vorgeben konnten und Mut machten.
Indem McGonigal ihren Alltag auf diese spielerische Weise strukturierte, gewann sie die Kontrolle über ihr Leben zurück. Zudem feierte sie schnell kleine Erfolge, wenn sie eine Herausforderung absolviert hatte – das stärkte ihr Selbstvertrauen. Und so ließen die depressiven Symptome allmählich nach. Zwar hielten die Kopfschmerzen noch über ein Jahr an, doch durch ihren neuen, spielerischen Lebensstil hörte Jane McGonigal auf, unter ihnen zu leiden. Ihr Alltagsspiel nannte sie SuperBetter, weil sie sich noch „glücklicher und gesünder fühlen wollte als vor meiner Verletzung“, und beschrieb es in einem Blogbeitrag.
„Schon bald hörte ich von Spielern aus der ganzen Welt, die ihre individuellen geheimen Identitäten annahmen, ihre eigenen Verbündeten rekrutierten und ihre persönlichen Bösewichte bekämpften“, erzählt Jane McGonigal. Inzwischen hat fast eine halbe Million Menschen weltweit ihr SuperBetter gespielt. Diese Spieler hatten ganz unterschiedliche Probleme – von Trauer und Ängsten über Liebeskummer und Frustration bis hin zu chronischen Krankheiten und Schmerzen. Viele berichteten von ähnlichen Effekten, wie Jane McGonigal sie erlebt hatte: Das Spiel gab ihnen neuen Mut, und es machte sie lebensfroher.
Mit SuperBetter greift die Entwicklerin einen Trend auf, der sich Gamification nennt. Die Idee dahinter: Mechanismen aus Spielen werden auf nicht-spielerische Umgebungen übertragen. In einigen Bereichen unseres Lebens ist Gamification längst an der Tagesordnung, zum Beispiel wenn wir Treuepunkte sammeln, um Prämien zu erhalten. Inzwischen gibt es auch moderne Anwendungen für das Handy, die Spieler wetteifern lassen, wer im Alltag den geringsten Stromverbrauch hat, oder Fahrgästen im Londoner U-Bahn-Netz Rätselfragen stellen.
Spiele fördern genau die Eigenschaften, die einen innerlich starken Menschen ausmachen
Doch wie ist es möglich, dass ein scheinbar kindischer Zeitvertreib bei ernst zu nehmenden psychischen und körperlichen Erkrankungen hilft? Jane McGonigal zählt viele Gründe dafür auf. Ihr zufolge lernen wir beim Spielen vor allem, die Aufmerksamkeit bewusst zu steuern. Dadurch können wir auch unsere Gedanken und Gefühle besser kontrollieren. Aus ihren Untersuchungen schließt sie zudem, dass wir schwierige Herausforderungen beim Spielen kreativer, entschlossener und optimistischer angehen. Durch kleine Erfolge gewinnen begeisterte Spieler das Vertrauen in ihre eigenen Fähigkeiten zurück, sie stärken ihr Selbstwirksamkeitsempfinden. Und sollten sie doch mal scheitern, starten sie einfach wieder von vorn.
Spiele scheinen also genau die Eigenschaften zu fördern, die einen innerlich starken Menschen auszeichnen. „Sie sind eine Anleitung dafür, wie wir die beste Version unserer selbst werden können“, ist Jane McGonigal überzeugt. Spielerisch und locker an das Leben heranzugehen stärke unsere psychische Widerstandskraft, die Resilienz. Resilienz ist wichtig, um belastende Situationen besser verarbeiten zu können und weniger leicht an einem Burnout oder einer psychischen Störung zu erkranken. Eine wichtige Rolle spielt dabei die Selbstwirksamkeitserwartung, die auch bei SuperBetter aufgebaut werden soll. „Menschen, die sich selbst in schwierigen Situationen mehr zutrauen, sind auch resilienter“, sagt Klaus Lieb, Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Universitätsmedizin Mainz und stellvertretender Sprecher des Deutschen Resilienz-Zentrums.
Spielerische Ansätze verlangen, öfter mal die Perspektive zu wechseln, also Situationen und Erlebnisse zum Beispiel als Power-up oder Bösewicht wahrzunehmen oder ein Missgeschick humorvoll zu betrachten, statt es als Versagen zu sehen. Auch das könnte helfen: „Die positive Neubewertung von Situationen ist möglicherweise ein wichtiger Mechanismus, um die psychische Widerstandskraft zu stärken“, erklärt Lieb. „Ich kann üben, ob ich das Glas als halb voll oder halb leer empfinde.“ Negative Emotionen führte zum Tunnelblick, ergänzt Willibald Ruch, Professor für Persönlichkeitspsychologie und Diagnostik an der Universität Zürich, der zu Humor forscht. „Wenn es mir dagegen gelingt, eine Situation auch unter Druck von der heiteren Seite zu sehen, fällt mein Blick leichter auf Dinge, die mir helfen, ein Problem effektiv zu lösen.“
Wissenschaftliche Studien bestätigen, dass Menschen körperlich und psychisch von Spielen profitieren können. So setzen Mediziner und Psychologen aus Seattle (USA) Patienten mit schweren Brandverletzungen beispielsweise eine spezielle Virtual-Reality-Brille auf, während sie ihre Wunden behandeln. Die Brandopfer tauchen so in eine virtuelle Welt ab – und empfinden dadurch bei der unangenehmen Wundversorgung bis zu 50 Prozent weniger Schmerzen. Mit PC-Spielen lassen sich auch leichte bis moderate Depressionen behandeln, fanden Forscher der University of Auckland in Neuseeland heraus. Sie haben ein spezielles Computerspiel für depressive Jugendliche entwickelt, bei dem diese zum Beispiel ihre negativen Gedanken – im Spiel virtuelle boshafte Wesen – mit Feuerbällen zerstören müssen. Das Spielen verbesserte die Symptome der Patienten ähnlich gut wie eine bewährte Psychotherapie.
Und auch gegen die Entstehung einer posttraumatischen Belastungsstörung scheint ein Spiel zu helfen: Tetris. Britische Psychiater zeigten ihren Probanden in einer Studie erst verstörende Fotos und ließen gleich im Anschluss die Hälfte von ihnen 30 Minuten lang Tetris spielen. Die spielende Gruppe litt in der folgenden Woche deutlich seltener an Flashbacks, also unkontrolliert wiederkehrenden Bildern, als die Teilnehmer, die nicht spielen durften. Offenbar hatten die herunterschwebenden Tetris-Steinchen die volle visuelle Aufmerksamkeit der Versuchspersonen gefordert und so verhindert, dass die zuvor präsentierten Fotos allzu lebhaft gespeichert wurden.
Jane McGonigals SuperBetter ist ebenfalls wissenschaftlich getestet worden. Im Rahmen einer randomisierten kontrollierten Studie der University of Pennsylvania ließ ein unabhängiges Team von US-Wissenschaftlern Patienten mit einer klinischen Depression das Spiel zusätzlich zu den üblichen Behandlungsmaßnahmen wie der Einnahme von Antidepressiva oder einer Psychotherapie zehn Minuten täglich spielen. Nach einem Monat zeigten die spielenden Patienten deutlich weniger Symptome von Depressionen und Angststörungen. Sie waren zufriedener, glaubten daran, ihr Leben selbst in der Hand zu haben, und fühlten sich von ihrer Umgebung stärker unterstützt als Patienten, die nur eine Therapie oder Medikamente bekommen hatten. Eine Untersuchung der Ohio State University mit 20 Patienten zwischen 13 und 20 Jahren, die am postkommotionellen Syndrom litten, zeigte laut McGonigal zudem, dass „SuperBetter die Stimmung hebt, Angstgefühle und Trauer mindert und Familienbeziehungen während des Genesungs- und Rehaprozesses festigt“.
Einer, der den Gamification-Trend besonders aufmerksam verfolgt, ist René Proyer, Privatdozent für Psychologie an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Er forscht bereits seit mehreren Jahren zu sogenannter Verspieltheit. Diese Persönlichkeitseigenschaft ist bei jedem Menschen verschieden stark ausgeprägt und kann sich unterschiedlich äußern. Man erkennt besonders verspielte Menschen zum Beispiel daran, dass sie öfter improvisieren und das Leben leicht nehmen oder aber gern flirten und spielerisch mit anderen umgehen. Mancher Verspielte liebt Knobelaufgaben und betrachtet ein Problem gern von verschiedenen Seiten, wieder andere mögen schrägen Humor und machen im Alltag oft besonders amüsante Beobachtungen.
All diese Facetten des Persönlichkeitsmerkmals bringen offenbar Vorteile mit sich: „Studien zeigen, dass Verspieltheit unter anderem mit einer höheren Lebenszufriedenheit und einem aktiveren, gesünderen Lebensstil einhergeht“, erklärt Proyer. Eine seiner eigenen Untersuchungen ergab außerdem, dass verspieltere Studenten insgesamt bessere Noten im Examen erhalten als weniger verspielte, also erfolgreicher sind. „Auch für die Stressbewältigung ist ein leichtherziger Umgang mit schwierigeren Situationen förderlich“, sagt Proyer.
Was bei spielerischem Verhalten überhaupt im Körper passiert, ist noch unklar. Psychologen wissen jedoch bereits seit langem, dass das Gehirn während eines Computerspiels vermehrt Dopamin ausschüttet, einen Botenstoff im Belohnungszentrum. Er motiviert uns und macht zufrieden, ist aber auch an der Entstehung von Süchten beteiligt. Trägt Verspieltheit etwa zu einer Spielsucht bei? Auch das wurde noch nicht erforscht. René Proyer meint, dieses Merkmal könnte ebenso wahrscheinlich vor einer Sucht schützen, weil verspielte Menschen sich für Automatenspiele oder Ähnliches gar nicht interessierten.
Die Forschung scheint eine spielerische Lebensweise also zu befürworten. Resilienzexperte Klaus Lieb sieht einen möglichen Nutzen besonders darin, seinen Alltag in die Ordnung eines Spiels zu bringen, zum Beispiel indem man für sich Power-ups oder Bösewichte definiert: „Das könnte helfen zu erkennen, welche Faktoren mein Leben leichter und welche es schwerer machen.“ Allerdings warnen die Wissenschaftler auch davor, ein Spiel oder Humor als einziges Mittel zur Behandlung von Depressionen einzusetzen. Für eine dahingehende Wirksamkeit gibt es laut Persönlichkeitspsychologe Ruch keine wissenschaftlichen Belege. Und auch Jane McGonigal weist darauf hin, dass SuperBetter ausdrücklich nicht als Ersatz, sondern nur als Ergänzung zu einer psychologisch-medizinischen Therapie zu verstehen sei. Psychiater Klaus Lieb fürchtet gar, dass sich einige Menschen durch Gamification unter Druck gesetzt fühlen könnten, ihr Leben stetig optimieren zu müssen. „Wir sollten unser Gehirn auch mal zur Ruhe kommen lassen“, meint er.
Unabhängig davon ist nicht jeder zum Spieler geboren. „Gamification ist eine gute Sache, macht aber einigen Persönlichkeitstypen mehr Spaß und anderen weniger“, sagt René Proyer. Und selbst die begeisterte Spieleentwicklerin McGonigal gibt zu, dass ihr SuperBetter eventuell nur für solche Menschen funktioniere, die aktiv nach Lösungen suchten und besonders an der Verbesserung ihres Zustands interessiert seien. Trotzdem: Viele Dinge ein bisschen weniger ernst zu nehmen kann den meisten von uns nur guttun – um in unserem Spiel des Lebens ein wenig Zufriedenheit dazuzugewinnen.
Literatur
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Jane McGonigal: Gamify your life. Durch Gamification glücklicher, gesünder und resilienter leben. Herder, Freiburg im Breisgau 2016
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René T. Proyer: Being playful and smart? The relations of adult playfulness with psychometric and self-estimated intelligence and academic performance. Learning and Individual Differences, 21/4, 2011, 463–467. DOI: 10.1016/j.lindif.2011.02.003
Nora S. Stampfl: Die verspielte Gesellschaft. Gamification oder Leben im Zeitalter des Computerspiels. Heise Zeitschriften Verlag, Hannover 2012
Michael Stuhlmiller: Die Kunst des spielerischen Scheiterns. Wahres Selbstvertrauen gewinnen mit der Clownmethode. Kailash, München 2016