Prinz Charles wartet seit über sechs Jahrzehnten auf den Thron des englischen Königreichs. Zwei von drei Deutschen sind nicht bereit, länger als fünf Minuten auf eine Verabredung zu warten.
Gleichgültig ob man ein halbes Leben lang auf etwas wartet oder nur fünf Minuten: Warten ist in den meisten Fällen ein „ungeliebter Zustand“, so der Untertitel des Buches von Friederike Gräff, aus dem die beiden Beispiele stammen. Geduld ist nicht unsere Stärke, aber die meisten von uns wünschen sich, sie hätten mehr…
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aber die meisten von uns wünschen sich, sie hätten mehr davon.
„Theoretisch betrachten wir sie als Tugend, praktisch besitzen wir sie nicht“, schreibt Gräff. „Wir sind fasziniert von Menschen, die sich fernab des täglichen Gerennes behaupten, aber die alte Frau, die in der Schlange vor uns steht und mit der Kassiererin plaudert, treibt uns zur Weißglut. Wir ahnen dunkel, dass Geduld zu etwas gut sein kann, aber man hat uns zu lange erzählt, dass wir effizient mit unserer Zeit umgehen müssen, als dass wir dieser Ahnung nachgehen könnten.“ Wir haben keine Zeit zu verschenken – sie ist kostbar.
Aber Wartenkönnen ist auch und gerade heute eine Kompetenz, die in vielen Situationen und Lebensbereichen wertvoll ist. Manchmal ist Abwarten, Pausieren oder Hinauszögern die beste Option, nämlich immer dann, wenn wir dadurch paradoxerweise Zeit gewinnen – Zeit für bessere Entscheidungen, bessere Leistungen und klügere Lösungen. Der Autor und frühere Investmentbanker Frank Partnoy hat in seinem Buch Wait. The Art and Science of Delay wichtige Bereiche aufgezeigt, in denen Wartenkönnen eine essenzielle Tugend ist.
Kommunikation: Sprich langsam, damit ich dich hören kann
Der größte Teil unserer Alltagskommunikation besteht darin, dass wir uns sprechend präsentieren: Wir erzählen von unseren Ideen und Erfahrungen, wir versuchen, andere für uns einzunehmen oder zu überzeugen, wir wollen kooperieren, beeindrucken, uns behaupten, besänftigen oder korrigieren. Kurz: Wir wollen gehört werden. Das wird eher der Fall sein, das beweisen Beobachtung und Erforschung gelungener Kommunikation, wenn die Sprecher öfter mal eine Pause machen. Klingt banal – ist aber ein viel zu wenig beachtetes Rezept für erfolgreiches Sprechen.
Die Analyse erfolgreicher, überzeugender Sprecher zeigt immer wieder aufs Neue, dass es die Pausen sind, die über die Wirkung des Gesprochenen entscheiden. Die Kunst der Sprechpause erfordert jedoch Übung, Kontrolle und Bewusstheit: Dieser Satz ist mir besonders wichtig – deshalb betone ich ihn, indem ich eine ganze Weile danach schweige. So gebe ich meinen Worten Gelegenheit, einzusickern und nachzuwirken. Gute Redner wissen, wie wichtig Pausen sind: wie wirksam Pointen sein können, wenn man sie so lange wie möglich hinauszögert, wie man Spannung oder Neugier steigert, wenn man für einige Sekunden innehält. Wie man ein Zitat, einen Kernsatz, ein Schlusswort lange „nachklingen“ lässt und so weiter. Es ist fast ein Grundgesetz der Kommunikation: schnelles und intensives Einreden ist kontraproduktiv. Auch die besten Argumente, im Stakkato vorgetragen, machen die Zuhörer nervös und misstrauisch – der Inhalt verpufft.
Aber dieses Grundgesetz wird nur allzu oft vergessen, vor allem wenn die Sprecher angespannt sind, mitunter bis zur Panik. Öffentliches Sprechen ist für die meisten Menschen, zumindest in beruflichen oder anderen „Leistungssituationen“, etwas Unangenehmes. Beobachtet und bewertet werden – das will man schnell hinter sich bringen, und je unsicherer man ist, desto schneller spricht man in der Regel.
Timing ist in der Kommunikation (fast) so wichtig wie der Inhalt. Und zum Timing gehört wesentlich die lange Pause, das bewusste Schweigen. Den meisten Menschen fällt es schwer, Schweigen auszuhalten, insbesondere in Verhandlungen oder Geschäftsgesprächen. Erfolgreiche Verkäufer oder Vertreter kennen das „Berufsgeheimnis“: Sag, was du zu sagen hast, und ab einem bestimmten Punkt halte einfach den Mund und warte ab! Die Cracks unter den Verkäufern lassen den Kunden „kommen“, und oft genug hält der das Schweigen nicht aus. Er bricht das Schweigen – und unterschreibt den Kaufvertrag. Das nächste Mal, wenn Sie ein Auto kaufen: Warten Sie ab, schweigen Sie zurück – bis der Verkäufer ein noch besseres Angebot macht.
Geld und Finanzen: Hin und Her macht Taschen leer
Wie verhalten sich Menschen, wenn es um ihr materielles (Wohl-)Befinden geht? Dass der Mensch im Grunde ein vernünftiges, auf seinen Vorteil bedachtes Wesen sei – diese Auffassung haben Psychologen und Ökonomen längst ad absurdum geführt. Den homo oeconomicus gibt es nicht oder nur höchst selten. Wenn es um unser Einkommen geht, um Konsum, Rente oder Sparen und Geldanlage überwiegen die irrationalen Entscheidungen meistens die rationalen. Verhaltensökonomen und Psychologen wie Daniel Kahneman, Amos Tversky und Richard Thaler haben das Spezialgebiet der Behavioral Finance begründet, und die vielleicht wichtigste Erkenntnis jahrzehntelanger Studien lautet: Unser Verhalten beim Geld, insbesondere beim Sparen oder Anlegen, ist bestimmt von zahlreichen und systematischen Denkfehlern.
Dazu gehört beispielsweise der Herdentrieb oder unsere Neigung zur Überreaktion auf Veränderungen. Wir sind vertrauensselig und leichte Beute für unhaltbare Versprechungen und falsche Hoffnungen. Wir können Risiken nicht richtig einschätzen und lassen uns zu schnell auf riskante Geschäfte ein. Und vor allem: Wir sind oft zu ungeduldig, das heißt: Wir agieren schlicht zu oft, kaufen und verkaufen ständig– und verlieren dabei langfristig. Abwarten ist eine große Stärke bei Geldgeschäften.
Warren Buffett, der erfolgreichste Investor unserer Zeit, erklärt es so: „Ich werde nicht fürs Aktivsein bezahlt, sondern dafür, richtig zu liegen.“ Und richtig liegt, wer abwarten, zuwarten, zögern kann – bis er die eine sichere Chance erkennt und ergreift: „Lethargie bis an die Grenze der Trägheit ist die tragende Säule unseres Investmentstils.“ Buffett und seine wichtigsten Mitentscheider überlassen das hektische Tagesgeschäft anderen – sollen die ruhig in Mikrosekunden auf eine Nachricht der Tokioter Börse reagieren und sich über kurzfristige Gewinne freuen. Langfristig gewinnen die Geduldigen. Der kluge Investor verhält sich wie ein Baseballspieler, der – anders als im wirklichen Spiel – beliebig viele Würfe (das heißt Chancen) an sich vorbeifliegen lassen kann und nur dann zuschlägt, wenn er sich absolut sicher ist, einen home run zu haben. Und wenn es Stunden dauert. Buffett verpflichtet seine Mitarbeiter auf eine low-frequence-Kultur. Das heißt, sie sollen das Warten lernen, Disziplin üben, viel lesen, intensiv und regelmäßig Informationen sammeln. Und das bedeutet, potenzielle Anlagen akribisch und, wenn es sein muss, monatelang zu beobachten und erst dann zu kaufen, wenn sie günstig sind.
Gesundheit: Der Selbstheilung eine Chance geben
Auch wenn es um unsere Gesundheit geht, können Abwarten und Geduld sich auszahlen. Das haben die Mediziner Ragnhild Schweitzer und Jan Schweitzer in ihrem aktuellen Buch Fragen Sie weder Arzt noch Apotheker. Warum Abwarten oft die beste Medizin ist (Kiepenheuer itsch, 2017) beschrieben. Anhand zahlreicher Belege zeigen sie auf, dass man dem Körper bei Beschwerden Zeit lassen und die Chance geben sollte, Probleme selbst zu lösen. Oftmals zahlt es sich aus, wenn sich der Arzt zusammen mit dem Patienten dafür entscheidet, zunächst nichts zu tun (siehe auch Rezension auf Seite 81). Watchful waiting nennt man dieses Verfahren – beobachten und abwarten. Das Zuwarten gibt den Selbstheilungskräften des Körpers eine Chance.
Zahlreiche Studien belegen inzwischen, dass dieses Hinauszögern von medikamentösen oder anderen Eingriffen hilfreich ist und die Selbstheilung tatsächlich einsetzt. Diese Haltung vermindert nicht nur den Einsatz von Medikamenten und damit auch eine Reihe von ungünstigen Nebenwirkungen. Sie kann auch zur Entlastung der stark ansteigenden Gesundheitskosten beitragen. Es geht beim Watchful waiting nicht darum, Patienten irgendwelche Leistungen vorzuenthalten – das Problem des heutigen Medizinbetriebs ist eher ein kostengetriebener Aktionismus.
Selbst in der Notfallmedizin, in der es ja oft um die reine Schnelligkeit der Versorgung geht, erweist sich das Abwarten in manchen Fällen als bessere Strategie. Experten bemängeln heute die zu frühe Gabe von Antibiotika. Mit „zu früh“ meinen sie dabei die ersten 30 Minuten nach der Aufnahme des Patienten. Diese Anwendung verhindere die Anlage von Kulturen, die eine genauere Diagnose ermöglichen könnten. Nach der voreiligen Gabe von Antibiotika bleibe ein präziserer Befund jedoch auf Wochen oder gar Monate verbaut, die Behandlung gleiche einem Blindflug.
Entschuldigung: Wenn es dir wirklich leid tut, lass dir Zeit
Gibt es einen idealen Zeitpunkt, um sich zu entschuldigen? Klar doch, denken wir – am besten sofort! Das ist goldrichtig, wenn wir jemandem auf die Füße getreten sind oder unabsichtlich die Tür vor der Nase zugeschlagen haben. Auch das Vergessen eines Geburtstages oder der versehentliche „Diebstahl“ eines Joghurts aus dem Gemeinschaftskühlschrank erfordern ein möglichst schnelles „Sorry!“.
Was aber, wenn wir etwas Schwerwiegendes „verbrochen“ haben? Wenn wir jemanden beleidigt, zu Unrecht beschuldigt, unachtsam benachteiligt, gekränkt oder gar betrogen haben – und nun überführt dastehen? Dann wird auch die Entschuldigung eine komplexere Sache – und Schnelligkeit ist nicht mehr so wichtig. Im Gegenteil: Eine allzu schnelle Bitte um Entschuldigung ist dann meist kontraproduktiv. Wenn wir den Schaden wirklich reparieren wollen, sollten wir erst mal eine Reflexionsphase einlegen – und abwarten.
Denn zwei wichtige Aspekte sind nun zu berücksichtigen: Das „Opfer“ braucht Zeit und Gelegenheit, um selbst auf den Übergriff zu reagieren. Es muss beispielsweise seinen Zorn oder seine Enttäuschung artikulieren können. Der „Täter“ sollte sich erst mal zurückhalten mit Erklärungen, Beteuerungen und Wiedergutmachungsversprechen. Je größer der Fehltritt oder die Verletzung war, desto zurückhaltender und zögerlicher sollten wir mit unserer Entschuldigung agieren. Ein schnelles „Tut mir leid!“ heißt auch irgendwie: „Reg dich nicht so auf! Lass uns die Sache vergessen!“
Das Abwarten kommt auch dem „Täter“ zugute, er kann seinerseits über das Vorgefallene, über Ursachen und Vorgeschichte reflektieren, und er kann über angemessene Formen der Wiedergutmachung nachdenken. Forschungsergebnisse zeigen, dass das Timing einer Entschuldigung wesentlich über deren Erfolg mitentscheidet: Kommt sie verzögert, aber gut reflektiert, wird sie erheblich besser angenommen. Denn das „Opfer“ fühlt sich eher verstanden und respektiert, wenn es seine Kränkung, seinen Zorn und seine Trauer zeigen kann.
Die Bitte um Verzeihung muss mit Geduld und mit den nötigen Pausen vorgetragen werden. Wer sich zu schnell entschuldigen will und möglichst bald zur Tagesordnung übergehen möchte, der kränkt sein Opfer zum zweiten Male.
Erfolgreich ist, wer warten kann
Der Erfolg in vielen Bereichen unseres Lebens hängt maßgeblich davon ab, ob wir das Richtige zum richtigen Zeitpunkt tun. In moderner Sprache: Das Timing muss stimmen. Und das bedeutet nichts anderes, als zu lernen, wann wir etwas in Ruhe abwarten und unseren Hang zu schnellen Reaktionen und Entscheidungen unbedingt bezähmen sollten. Der renommierte amerikanische Intelligenzforscher Robert Sternberg umreißt unsere Situation so: „Das Wesentliche der Intelligenz ist, zu wissen, wann wir schnell denken und handeln müssen – und wann nicht.“
Die beste Strategie ist ein Vier-Stufen-Plan, das sogenannte OODA-Prinzip, wie Frank Partnoy erklärt. Wir sollten ein Phänomen so lange wie möglich beobachten (observe), so viele Daten wie möglich sammeln (orient), eine reflektierte Entscheidung treffen (decide) – und dann erst tätig werden (act). Erfolgreiche Menschen wissen, wie viel Zeit sie zur Verfügung haben, sagt Partnoy. Und dieses Zeitfenster schöpfen sie optimal aus, ehe sie reagieren. Der Erfolg kommt zu denen, die abwarten können.
Literatur
Rodion Ebbighausen: Das Warten. Ein phänomenologisches Essay. Königshausen & Neumann, Würzburg 2010
Friederike Gräff: Warten. Erkundungen eines ungeliebten Zustands. Ch. Links, Berlin 2015 (2. Auflage)
Frank Partnoy: Wait. The art and science of delay. PublicAffairs, New York 2012