Du warst ein winziges, sehr schwaches Baby, wir mussten lange bangen, ob du es schaffst, und wir waren so froh, dass du überlebt hast! Du warst von Anfang an ein Kämpfer.“ „Fast wärst du im Taxi zur Welt gekommen, so eilig hattest du es.“ „Du warst das schönste Baby auf der ganzen Station, die Schwestern waren verliebt in dich.“
An die Umstände unserer Geburt erinnern wir uns nicht. Aber wir hören die Erzählungen darüber immer wieder gerne. Uns faszinieren die Details, die Ausschmückungen, der emotionale…
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wieder gerne. Uns faszinieren die Details, die Ausschmückungen, der emotionale Ton der Geschichte, ihre Deutung durch die Mutter, den Vater oder andere Verwandte. Und je öfter wir diese Story hören (manche Menschen bekommen sie jedes Jahr zur ihrem Geburtstag neu erzählt), desto mehr machen wir sie zu einem Teil unserer Geschichte. Wir sehen uns als „Kämpfer“, als „jemand, dem es nie schnell genug gehen kann“, als „Schönheit, die geliebt wird“.
Wir erzählen die Geschichte über unsere Geburt, wie auch alle anderen Geschichten über Episoden unseres Lebens, immer und immer wieder – um uns selbst zu verstehen. Der Antrieb, durch Erzählungen die Vielfalt des Lebens zu erklären, zu ordnen und einen Sinn darin zu finden, ist tief in uns verankert. Dabei ist uns meist nicht bewusst, dass diese Erzählungen nicht nur auf Fakten, sondern zu einem großen Teil auf Interpretationen beruhen – und es liegt im Wesen von Interpretationen, dass sie die interessanten Teile einer Lebensgeschichte betonen und weniger wichtig erscheinende weglassen. Unsere erzählte Lebensgeschichte ist immer subjektiv und etwas ganz anderes als der objektive Lebenslauf und erfüllt ganz andere Aufgaben als dieser: Sie ist die Grundlage unseres Lebensgefühls, sie formt unsere Identität. Wir leben mit dem emotionalen Akkord, der einer solchen Geschichte beigegeben wird – und der unser Leben prägt, ohne dass wir es bemerken. Die Mehrzahl unserer wichtigsten Lebensepisoden wird in unserer Kindheit und frühen Jugend geschrieben. In den Jahren, in denen sich unsere Identität festigt, entscheiden sich oft die Richtung und die Tonalität unserer Lebensgeschichte. In diesem Alter entwickeln wir Erzählungen, die die Qualität eines Drehbuchs haben: Wenn wir auf besondere Herausforderungen stoßen oder wichtige Entscheidungen treffen müssen, befragen wir diese Geschichte und suchen nach Hinweisen, die sie uns geben könnte. Wenn sie beispielsweise sagt, dass wir Probleme meistern können, dann werden wir das auch weiterhin versuchen. Wenn sie uns erzählt, dass wir bestimmten Herausforderungen besser aus dem Weg gehen, dann tun wir auch das.
Unglücklicherweise erinnern wir uns beim Erzählen der Lebensgeschichte oder von Lebensepisoden eher an negative Ereignisse. Der Psychiater und Psychotherapeut Arnold Retzer spricht von „monomythischer Identitätsatrophie“ und meint damit einen Vorgang, der uns bei Selbstbeschreibungen und beim Erzählen unserer Lebensgeschichte häufig unterläuft: Wir verengen unser Selbstbild auf einige wenige (meist negative) Eigenschaften oder vermeintlich prägende Erfahrungen. Wir (über-)identifizieren uns mit dieser Geschichte und glauben, mit dieser Geschichte identisch zu sein: „Ich bin eben ein ängstlicher Mensch“, „Ich bin und bleibe ein Pechvogel“ oder „Ich bin bindungsunfähig“.
Dabei ist uns nicht bewusst, dass diese Geschichte oft nur ein zentrales Thema hat, dass sie „monomythisch“ ausfällt. Wir erzählen sie ohne Zweifel. „Man ist sozusagen mit Haut und Haar in diese Geschichte hineinverwoben“, erklärt Retzer. Wir sehen dann nicht, dass diese Geschichte auch ganz anders erzählt werden oder es noch andere Erzählvarianten geben könnte. Die Version, die wir uns – und anderen – erzählen, halten wir für die ganze Wahrheit. Aber das ist sie nicht.
Natürlich ist diese „monomythische“ Erzählung nicht vollständig erfunden, sie entspringt nicht unserer Fantasie. Aber es ist ratsam und letztlich auch heilsam, die Geschichten, die wir über uns erzählen, kritisch zu betrachten und sich zu fragen: Könnte ich diese Geschichte auch anders erzählen? Welche anderen Facetten hat meine Lebensstory noch? Es lohnt sich, die „Wahrheiten“, die wir über uns im Kopf haben, zu überprüfen. Wir können das Drehbuch, das in unseren frühen Jahren von anderen geschrieben worden ist, auf seine Richtigkeit überprüfen, und wir können es umschreiben. Das ist keineswegs als Aufforderung zu verstehen, unsere Geschichte schönzufärben oder gar zu fälschen. Damit wäre nichts gewonnen. Vielmehr sollten wir ein Bewusstsein dafür entwickeln, dass es zum einen Lücken gibt in diesem Drehbuch und dass zum anderen die Erzählweise zu einseitig, eben „monomythisch“ ist.
Eine Geschichte erzählen, mit der man leben kann
Der eigenen Lebensgeschichte einen anderen, einen positiveren Dreh zu geben ist jedoch nicht einfach – wir alle kennen die Macht traumatischer Erinnerungen, die uns in eine Abwärtsspirale von Grübelei, Selbstvorwürfen, Scham oder Verzweiflung treiben können. In den letzten drei Jahrzehnten hat die Psychologie jedoch eine ganze Reihe von Techniken und Theorien entwickelt, die es uns ermöglichen, unsere Lebensgeschichten umzuschreiben, sie im neuen Licht zu betrachten, kurz: eine Geschichte zu erzählen, mit der wir leben können und die vor allem die negativen, emotional aufwühlenden Episoden in möglichst lehrreiche und heilsame verwandelt.
Zum Beispiel hilft uns die aus der Systemtheorie stammende Technik des Reframings dabei, Ereignisse und Erfahrungen neu zu bewerten, der Ich-Erzählung eine deutliche Wendung zu geben, vorzugsweise ins Positive, und sich von der vermeintlichen Zwangsläufigkeit eines festgefügten Schicksals zu verabschieden. Solche Reframingtechniken haben sich in Psychotherapien bereits als erstaunlich wirksam erwiesen, und sie funktionieren oft schneller und besser, als man es aufgrund einer verfestigten Lebenserzählung vermuten wollte (siehe auch Seite 24).
Der Sozialpsychologe Timothy Wilson von der University of Virginia hat in vielen einschlägigen Untersuchungen zeigen können, wie ein solches Reframing möglich ist. Zwei Methoden haben sich als besonders hilfreich herausgestellt: story editing (die eigene Geschichte redigieren) und story prompting (die Erzählrichtung ändern).
Story editing: Die eigene Geschichte redigieren
Die eigenen Erfahrungen werden überarbeitet mit dem Ziel, schmerzhafte Erfahrungen zu entschärfen, damit sie nicht in bedrückende, selbstzerstörende Denk- oder Verhaltensmuster übergehen. Ziel ist, neue Erzählperspektiven ins Spiel zu bringen. Timothy Wilson schlägt dazu folgende, in zahlreichen Experimenten erprobte und bewährte Methoden vor:
Selbstdistanzierung: Während wir eine quälende oder traumatische Erinnerung in einem „inneren Film“ abrufen, versuchen wir, die Erfahrung mit deutlicher Distanz, eben wie ein neutraler Zuschauer zu beobachten. Anstatt sie immer wieder zu durchleben, schauen wir nun zu – und stellen dabei Fragen nach dem Warum. Warum ist die Sache so abgelaufen? Warum hat die beobachtete Person (also wir) bestimmte Gefühle? Diese Haltung ermöglicht, Erklärungen für Ursachen und Wirkungen zu finden, Schuld- oder Ohnmachtsgefühle zu überwinden oder auch Alternativen für künftige Situationen zu erkennen.
Die George-Bailey-Methode: Benannt nach der Hauptfigur des Hollywoodfilms Ist das Leben nicht schön? (It’s a Wonderful Life, 1946, Regie: Frank Capra), besteht diese Methode darin, sich vorzustellen: Wie sähe die Welt aus, wenn wir nicht da gewesen wären? Wenn wir nicht diesen Mann/diese Frau kennengelernt hätten, nicht dieses Studium, diese Ausbildung absolviert hätten, nicht Freund dieser Menschen gewesen wären? George Bailey rettet im Film unter anderem die Bank einer Kleinstadt und ermöglicht vielen Menschen, eine Existenz zu gründen. Als er selbst am Ende scheitert und sich umbringen will, erscheint ein Engel namens Clarence und führt ihm vor Augen, wie diese Stadt ohne sein Wirken aussähe (ziemlich traurig!). Und er fasst neuen Lebensmut.
Die Geschichte aufschreiben: Der Psychologe Jonathan Adler hat in einer Langzeitstudie 47 Psychotherapiepatienten ihre Lebensgeschichte aufschreiben lassen. Es zeigte sich, dass allein diese Beschäftigung mit dem eigenen Leben und der Versuch einer Sinngebung allmählich dazu führten, dass das Thema „Ich habe mein Leben unter Kontrolle“ (Adler spricht von agency) immer stärker in den Vordergrund trat. Und mit fortschreitender Thematisierung dieses Aspektes verbesserten sich allmählich auch das psychische Wohlbefinden und die mentale Gesundheit der Probanden. Es gibt also einen engen Zusammenhang zwischen der Erkenntnis „Ich habe etwas in meinem Leben bewirkt“ und dem Gesundheitsstatus. „Es ist, als ob die Patienten mit der Verschriftlichung ihrer Lebenserzählung eine neue Version von sich selbst erarbeiten konnten – und sie erfüllten diese verbesserte Version mit Leben“, erklärt Adler.
Glaubenssätze überprüfen: Wir alle pflegen einige grundlegende Gedanken über uns selbst, über die Welt und die Menschen, zu denen wir in Beziehung stehen – Gedanken, die wir schon so lange und oft wiederholt haben, dass wir ganz vergaßen: Es sind nur Gedanken. Sie haben sich zu unserer Geschichte verdichtet, einer Geschichte, die uns fesseln und belasten kann. „Ich bin ein ängstlicher Mensch“, „Ich bin risikobereit“, „Ich bin das Kind einer alkoholkranken Mutter“, „Ich werde immer zurückgewiesen“ – solche fest verankerten Gedanken, die Psychotherapie spricht von „Glaubenssätzen“, mögen irrational sein. Doch wir verlassen uns auf sie wie auf eine Straßenkarte, die uns durch das Labyrinth der Beziehungen führen kann. Dabei provozieren wir immer wieder genau die Reaktionen bei anderen, die dann die scheinbare Richtigkeit dieser Gedanken bestätigen: Die Furcht vor Zurückweisung zum Beispiel bringt uns dazu, uns so zu verhalten, dass die Wahrscheinlichkeit einer Zurückweisung größer und nicht kleiner wird. Doch wir können aus dem vertrauten Skript ausbrechen, indem wir einen anderen Blickwinkel einnehmen, die Perspektive wechseln und uns fragen, ob diese Glaubenssätze die ganze Wahrheit über unser Leben beinhalten.
Der Psychotherapeut Bill O’Hanlon hat dies getan. Viele Jahrzehnte lang war er überzeugt davon, ein schüchterner Mensch zu sein. Angeregt durch eine entsprechende Lektüre, beschloss er eines Tages, sein festgefügtes Selbstbild zu überprüfen: „Ich hatte mein Leben lang gehört, dass ich schüchtern sei. Meine Familie beschrieb mich immer so. Schließlich identifizierte ich mich damit. Aber nun dämmerte mir, dass das vielleicht einfach nur ein Märchen war. Schließlich kam ich eines Tages auf die Idee, dass ich gar nichtschüchtern war, sondern bloß gelernt hatte, mich schüchtern zu geben. Diese Vorstellung gefiel mir sehr, denn sie implizierte die Hoffnung, dass ich die Dinge zum Besseren verändern könnte. Wenn ich schüchterne Verhaltensweisen erlernt hatte, würde ich auch nichtschüchterne Verhaltensweisen erlernen können.“
Diese Erkenntnis führte dazu, dass O’Hanlon begann, „in einer Art und Weise zu handeln, die sich nicht mit meiner alten Geschichte deckte“. Seine Schüchternheit hat er immer noch, „aber ich habe jetzt auch die Fähigkeit, ‚nichtschüchtern‘ zu sein“.
Story prompting: Die Erzählrichtung ändern
Eine weitere Methode, die Timothy Wilson beschreibt, ist das story prompting, das Umlenken einer Erzählrichtung. Hier geht es darum, durch mitunter nur kleine Anstöße destruktive Selbstzuschreibungen oder Vorurteile zu entkräften oder sich von Zuschreibungen zu befreien, die man seit der Kindheit mit sich herumschleppt.
Ein positives Beispiel, wie das „Umlenken der Erzählrichtung“ gelingen kann: An den Universitäten von Stanford und Virginia in den USA wurden mit großem Erfolg narrative Trainingsprogramme mit Studenten durchgeführt, die aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einer Minderheit oder der Herkunft aus einem armen Elternhaus erfahrungsgemäß oft das Studium abbrechen. In den Programmen lernten sie, ihr Studium nicht unter dem Aspekt „Ich habe nur geringe Chancen“ zu betrachten und so einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung anheimzufallen, sondern ihre Geschichte als eine potenzielle Erfolgsgeschichte zu sehen. Den Studienteilnehmern wurden unter anderem professionell gemachte Videos gezeigt, in denen „Studenten wie sie“ mit denselben niedrigen Erwartungen und Selbstzweifeln ins Studium gingen, dort aber sehr bald Lerntechniken erwarben, mithalten konnten, sich Hilfe von Lehrenden und Mitstudenten holten und schließlich erfolgreich ihr Studium abschlossen. Der gar nicht so heimliche Lehrplan hinter diesen Videos: Den sich benachteiligt fühlenden Studierenden sollte die Idee vermittelt werden, dass Fähigkeiten nicht etwas Angeborenes und Unveränderliches sind, sondern Leistung vor allem darauf beruht, von Hilfsangeboten den richtigen Gebrauch zu machen und Hindernisse zu überwinden. Probanden, die diese Videos gesehen hatten, konnten tatsächlich in der Mehrheit ihre negativen Erwartungen und Selbsterzählungen („Die Weißen werden sowieso bevorzugt“) in positiv getönte Geschichten „umschreiben“. Dadurch verbesserte sich ihr Selbstwertgefühl – und infolge davon stiegen auch ihre schulischen Leistungen.
Umschreibe- oder Reframingtechniken zielen nicht darauf ab, Fakten und Daten zu verfälschen oder bestimmte Ereignisse auszublenden oder zu verleugnen. Vielmehr wird das bisherige Selbstbild in einem anderen Licht bewertet und sein Sinn neu gedeutet. Auf diese Weise können wir die Geschichten unseres Lebens so erzählen, dass sie uns nicht schaden, sondern ganz im Gegenteil unser psychisches Wohlbefinden steigern.
Ob wir lernen, anders über uns zu denken, ob wir die Erzählrichtung verändern oder ob wir die Episoden unseres Lebens selbstwertstärkend niederschreiben: Wenn wir über unsere Lebensgeschichte reflektieren, erleben wir uns sowohl als ihr Autor als auch als ihr Hauptdarsteller und gewinnen die wertvolle Einsicht: „Ich lebe nicht nur mein Leben, ich bin der Chef in dieser Geschichte.“
Literatur
Dan P. McAdams: The art and science of personality development. Guilford Press, New York 2015
Jonathan M. Adler: Living into the story. Agency and coherence in a longitudinal study of narrative identity development and mental health over the course of psychotherapy. Journal of Personality and Social Psychology, 102, 2012
Julie Beck: Life’s stories. The Atlantic, August 2015
James Pennebaker: Telling stories. The health benefits of narrative. Literature and Medicine, 19, 2000
Timothy D. Wilson: Redirect. Changing the stories we live by. Little, Brown and Company, New York 2011