Eben habe ich eine Espressopackung aufgeschnitten und das Kaffeepulver in die Kaffeedose umgefüllt. Immer, wirklich immer fällt mir dabei Piero ein.
Mit achtzehn, neunzehn Jahren – also inzwischen vor Ewigkeiten – fuhr ich öfter über die Lagune zum Lido. Dort kannte ich eine Familie, bei der ich manchmal einige Wochen lebte. Sie bewohnten eine kleine Wohnung in der Nähe der Anlegestelle, von deren Küchenfenster man einen kleinen Blick auf die nahe Lagune hatte. Ich saß dort jeden Morgen an einem Brett, das…
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hatte. Ich saß dort jeden Morgen an einem Brett, das an der Wand angebracht war, auf einem Barhocker und trank italienischen Kaffee mit aufgeschäumter Milch, dazu stellte mir Barbara kleine Fenchelkekse hin, die ich in eine Thunfischcreme dippte, die Barbara eben angefertigt hatte.
Alles war leichter
Es herrschte eine für mich ganz besondere Atmosphäre dort. Das Licht, ganz anders als bei uns, der Blick aus der etwas dunklen Küche hinaus auf das erstrahlende, zugleich aber tiefblaue Wasser, die italienischen Aromen in meinem Mund und zugleich dieses Luftige um mich herum, das die Möbel, der Marmorboden, die dünnen Fenster ausstrahlten. Alles wirkte wesentlich leichter als dort, wo ich herkam: aus der Wetterau nördlich von Frankfurt am Main, tiefstes Hessen.
Ständig feierten sie. Ich kann mich an eine Woche erinnern, die verlief so: Barbaras Tochter hatte Geburtstag. Also machte Barbara Antipasti, zahllose kleine Dinge, gebratene Auberginen, Zucchini, eine Art russische Eier, gefüllte Tomaten, die obligaten Mozzarellascheiben usw. Wie gesagt, ich war jung, all das spielt Anfang der achtziger Jahre, und ich kam aus der Region der Krautwickel, der Fleischwurst und des Handkäses.
"Den Italiener machen"
Alle versammelten sich in einem nahegelegenen Garten, die Antipastiplatten sahen sehr hübsch aus, und wenn mehrere Platten so abgegrast waren, dass sie drohten, unansehnlich zu werden, wurden die restlichen Kleinigkeiten auf einer Platte zusammengefügt und wieder in schöne Optik gebracht. Ich nenne das seitdem „den Italiener machen“ und tue es seit meiner Zeit in Venedig ebenfalls.
Am nächsten Tag sah ich Barbara, wie sie in der Küche erneut Kleinigkeiten zauberte. Diesmal hatte eine Nachbarin, Engländerin, Geburtstag. Wieder opulentes Zusammensitzen bei übrigens meist lautstarkem Stimmengewirr.
Am nächsten Tag hatte ein Nachbar irgendetwas Berufliches zu feiern. Also Antipastiplatten. Am vierten Tag sah alles ganz unauffällig aus. Ich trank meinen Kaffee auf dem Hocker, schaute auf die Lagune, Barbara zeigte keine auffällige Aktivität. Am Mittag allerdings wurde telefoniert, und gegen eins begann die erneute Antipastilawine. Ich fragte Barbara: Was gibt’s denn heute zu feiern? Hat wieder jemand Geburtstag? Sie: Nein, heute feiern wir, dass so schönes Wetter ist.
Auf Festen wird die Individualität abgelegt
Bei diesem festiven Zusammensitzen, das für die Venezianer viel alltäglicher zu sein schien als für uns, verging die Zeit anders als bei uns in Deutschland. Sie hob sich gleichsam auf. Jeder streifte – so kam es zumindest mir vor – seine Individualität für einen Moment ab, um sie erst anschließend wieder anzulegen.
Freilich herrschte wie in allen Familien auch in meiner in Venedig immer mal wieder Streit. Bei uns zu Hause in Hessen wurde auf Streit mit Beleidigtsein reagiert, und zu Festen erschien man dann mit saurer Miene oder blieb ganz weg. Das war bei den Antipastiplatten-Zusammenkünften nicht so. Für die Dauer des Beisammenseins standen alle wie unter einem anderen Gesetz.
Jeder bringt etwas mit
Mit der Zeit bemerkte ich, dass die berühmte Individualität auch jenseits der Feiern nicht wirklich komplett wieder angelegt wurde. Vielleicht kann man es am besten an Folgendem festmachen. Bei uns zu Hause wurde so eingekauft: Meine Mutter oder, je nach Parkplatznot, Vater und Mutter fuhren mit dem Auto zum Bäcker Mörler, zum Gemüseladen Speiser, zum Metzger Soundso oder gleich zu Edeka oder Toom. Das war ein einzelner, abgeschiedener Vorgang. Er hatte mit dem sonstigen Tagesablauf nichts zu tun.
In Barbaras Familie kam eigentlich niemand nach Hause, ohne unterwegs irgendwo etwas mitgenommen zu haben, was sich ihm gerade dargeboten hatte. Das betraf auch die Kinder (sie waren in meinem Alter). Es wurden also Essen und das kollektive Beisammensitzen ständig mitbedacht, das war Bestandteil des Tagesablaufs. Mal hatte wer Artischocken dabei, mal schaute Catalogna aus einem Beutel.
Was mich aber am meisten perplex machte: Der Vater, ein eindrucksvoll gewichtiger Mann, der viel arbeiten musste und die Familie eher nur notdürftig durchbringen konnte, brachte ebenfalls Dinge nach Hause. Ein Familienvater, der einkaufen geht! Der auf dem Heimweg an einem Gemüse- oder Obststand vorbeikommt, die Auslagen begutachtet und aussucht und kauft. So etwas hatte ich noch nie gesehen. In meiner Heimat undenkbar.
Eine revolutionäre Handlung
Mein Vater war vom Haushalt streng geschieden. Das war mir vorher gar nicht aufgefallen. Hätte mein Vater irgendwann einmal ein Bund Möhren oder einen Tafelspitz mitgebracht, hätte meine Mutter ihn vermutlich eher in Verdacht gehabt; ihr wäre diese Handlung unverständlich erschienen, vielleicht sogar revolutionär.
Alle in meiner Lido-Familie nahmen gleichermaßen am sozialen Leben teil. Heute denke ich manchmal an das verschiedene Sozialverhalten unter Singvögeln. Spatzen verhalten sich anders als Buch- oder Grünfinken. Einfach so. Ich kam sozusagen aus einer Buchfinkensozietät, und die Lido-Spatzen verhielten sich eben anders.
Piero und die Espressotüte
Für immer aber wird mir als Bild des Unterschiedes zwischen der venezianischen und unserer Familie folgende Handlung Pieros, des Vaters, bleiben: Einmal sah ich ihn, wie er mit geübten Bewegungen eine Espressotüte aufschnitt, eine Kaffeedose nahm und den Kaffee in die Dose hineinfließen ließ wie das Selbstverständlichste auf der Welt. Es gehörte offenbar zu seinem Lebensvollzug dazu und hatte die entsprechende Eleganz.
Es war das erste Mal, dass ich diesem Vorgang, dem Aufschneiden einer Espressotüte, beiwohnte. Piero, die Espressotüte, die Dose, das selbstverständliche Hineinfließenlassen – es war für mich das erste Mal, und seitdem habe ich es immer vor Augen und stelle Piero, den längst Verstorbenen, beim Öffnen und Leeren jeder neuen Packung nach.
Andreas Maier ist vielfach ausgezeichneter Schriftsteller. Auf elf Bände hat er seinen Zyklus „Ortsumgehung“ angelegt, 2021 ist der achte Band erschienen: Die Städte (Suhrkamp). In Psychologie Heute wird er künftig jeden Monat das Blaue vom Himmel erdichten. Wir sind stolz und glücklich – herzlich willkommen, Herr Maier!