Hin und her gewehte Existenz

Schriftsteller Andreas Maier erzählt vom alten Klaus, dessen Leben kein Idyll war – und dem es doch gelang, dass die Welt für einen Moment ganz bei sich war

Die Illustration zeigt einen Männerkopf über einer Flamme einer roten Kerze
Andreas Meier erinnert sich an Klaus Adomeit, der einfach lebte und ihm in seinen jungen Jahren doch ein Idyll schuf. © Jan Robert Dünnweller

Draußen ist es kalt, die Menschen laufen in dicken Mänteln herum, haben Atemwölkchen vor dem Mund. Ich sitze im Sessel, habe eine Kerze angezündet, nein, vielmehr ein Kerzlein, und überhaupt neigt gerade alles in meinem Kopf bedrohlich zur Verniedlichung. Das liegt wohl am Winter und daran, dass ich derzeit in einer stillen Straße wohne, in der man von der Welt draußen nichts mitbekommt. Ich habe sogar das Räuchermännchen hervorgeholt. Manchmal muss das so sein.

Jetzt aber muss eine Themenwahl her! An…

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hervorgeholt. Manchmal muss das so sein.

Jetzt aber muss eine Themenwahl her! An irgendetwas muss ich doch den­ken, wenn ich so beschaulich dasitze! Gut, wenn ich schon bei den Verniedlichungen angekommen bin, dann denke ich einfach mal an den alten Klaus und das „Städtchen“, aus dem ich stamme und in dem ich schon seit 35 Jahren nicht mehr lebe.

Unser Städtchen konnte man auch als still bezeichnen, damals in fernen Zeiten. Die Züge fuhren noch pünktlich, die Fahrkarten waren vorgedruckte kleine Kärtchen aus dicker Pappe, die erste Rolltreppe im Kaufhaus war eine vielbestaunte Sensation und der Apfelwein kostete neunzig Pfennig. Natürlich war das Städtchen, bei all seiner Stille, den verschiedenen politischen Großwetterlagen ausgeliefert und erlebte sie mit.

Da sehen wir gerade eine Erster-Mai-Kundgebung mit Megaphon und Bannern vorbeiziehen! Dann biegt ein Ostermarsch durch die Stadt, mich selbst kann man bei der Blockade im Schneidersitz vor den Toren der US-amerikanischen Kaserne auf dem Boden hockend antreffen. Und da kommt schon Helmut Kohl mit großer Entourage um die Ecke gefahren, um auf unserem Herbstmarkt eine Wahlkampfrede im Festzelt zu halten.

Messerscharfe, ironisch zwinkernde Augen

Wen man immer in der Stadt traf, war der alte Klaus. Er soll für die vorliegende Kolumne das Idyllen-Thema liefern. So recht vom Kerzenlicht beschienen und vom Räuchermann umnebelt. Passend in den Januar. Ein Idyll hat keine Handlung.

Dieses Leben war allerdings entschieden kein Idyll. Wir wussten alle viel und wenig von ihm. Klaus Adomeit war ein Heimatvertriebener, hatte also mein „Städtchen“ noch vor mir kennengelernt und damit noch einmal ganz andere Zeiten als Ostermärsche und Blockaden, alleinstehend und sozial am unteren Rand der Gesellschaft. Meistens trug er eine zerbeulte Jeans, ein Unterhemd und darüber einen ausgedienten Armeeparka.

Klaus war nicht groß, eher kompakt gebaut, buschige Augenbrauen und messerscharfe, ironisch zwinkernde Augen. Die Zigarette drehte er sich stets selbst und hatte dementsprechende Fingerfarben. Und er war ein absoluter Lügenbaron! Klaus erzählte dir Geschichten, unter anderem aus irgendwelchen Kriegsgefangenschaften, die sich allesamt widersprachen und schon zeitlich nicht hinhauten. Ziemlich oft spielten sie in Italien, und da war er dann meist auf angeblichen Gehöften inhaftiert, wo es stets im Stall mit der Hofmagd zur Sache ging.

Einladung zum Festessen

Er hatte eine eigene kleine Wohnung, alles war einfach und simpel, ein Holztisch ohne Tuch, eine einsame Kerze, viel zu wenig Stühle, manche saßen mit ihrem Teller auf Klaus’ Schlafpritsche im winzigen zweiten Zimmer seiner Wohnung (auf dem Nachttisch lagen billige Erotikheftchen, die wir ihm manchmal auf seinen Wunsch hin mitbrachten). Andere machten es sich auf dem Boden bequem. Der „Trut“ hatte infolge der schlichten Garmethode keinerlei Röst­aromen, war nur mit Salz gewürzt, gab aber überraschend reichlich Fleisch für alle, und wir liebten ihn. Es war wie bei der Speisung der 5000. Die Beilage bestand aus Graubrot.

Die Stimmung war nicht rührselig und nicht kitschig. Keiner hatte etwas zu verstecken, zu verhehlen, zu verbergen, denn eigentlich gehörte niemand an diesen Ort, dafür war alles an diesem Kreis um den alten Kriegsteilnehmer zu unwahrscheinlich. Wir lungerten einfach eine Weile bei ihm herum, tranken und rauchten und quatschten dasselbe Zeug wie auch jeden Abend sonst in unserer Kneipe, aber diesmal im Schein der nackten Küchenlampe und im Bewusstsein der Klaus’schen „Trut“-Festlichkeit.

Mit Klaus’ Leben hätte keiner tauschen wollen, mit uns in diesen Augenblicken aber wahrscheinlich viele! Es gab keine Fragen mehr, alles war selbstverständlich und die Welt für diesen Moment ganz bei sich.

Er schuf uns ein Idyll

Es passte zu Klaus, dass er sein Ende allein mit sich zu Hause verbrachte. Er haute eigenständig aus dem Krankenhaus ab, dann dauerte es noch zwei Wochen. Am Schluss war er kaum noch vorhanden. Ich sah ihn noch einmal auf der Straße, da war er schon fast durchscheinend.

Klaus’ Leben war kein Idyll, aber es gebar für einige Jahre unseres jungen Lebens genau das: ein Idyll. Als könnte die Welt so sein. Das hätte keiner je geschafft, mit dessen Leben man eher hätte tauschen wollen. Das ging wohl nur mit jener hin und her gewehten Existenz.

„Die Kunst, die ist verhunzt!“

So, die Kerze ist heruntergebrannt, der Räuchermann aus. Und jetzt raus aus dem Sessel, Schluss mit der Beschaulichkeit und das große Zimmerlicht wieder angemacht!

Andreas Maier ist vielfach ausgezeichneter Schriftsteller. Auf elf Bände hat er seinen Zyklus „Ortsumgehung“ angelegt, 2021 ist der achte Band mit dem Titel Die Städte erschienen (Suhrkamp). In Psychologie Heute erdichtet er an dieser Stelle jeden Monat das Blaue vom Himmel.

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 2/2022: Für sich einstehen