Untreu ohne Absicht

Erst sind es nur regelmäßige Mittagessen mit dem Kollegen oder morgendliche Treffen an der Bushaltestelle. Doch dann wird aus Sympathie schleichend mehr

Eine Kollegin und ein Kollege sitzen vertraut an einem Tisch vor einem Laptop
Zusammen arbeiten, zusammen lachen: Sind vielleicht doch Gefühle im Spiel? © Anchiy/Getty Images

Ralph ist mit Rachel verheiratet und eigentlich sehr zufrieden mit seiner Ehe. Das Paar hat zwei Kinder, und für Ralph und Rachel ist klar, dass sie gemeinsam alt werden wollen. Doch dann kam Lara, eine neue Kollegin. Mit ihr änderte sich Ralphs Sicht aufs Leben. Er mag Lara, findet sie hübsch und lebendig. Beim Mittagessen im Kollegenkreis stellt er fest, dass sie viele Gemeinsamkeiten haben. Immer öfter verbringen sie ihre Pausen zu zweit. Dabei merkt Ralph, dass er mit Lara viel besser reden kann als mit…

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merkt Ralph, dass er mit Lara viel besser reden kann als mit Rachel. Die Sache beginnt aus dem Ruder zu laufen, als Ralph und Lara einander immer mehr über sich erzählen: Ängste, Hoffnungen, Eheprobleme, sogar ihre gegenseitige Anziehung teilen sie einander mit. Als Rachel irgendwann misstrauisch wird, streitet Ralph eine Affäre mit Lara energisch ab; schließlich hat er Lara noch nicht einmal geküsst!

Die Paartherapeutin Shirley Glass, aus deren Praxis dieser Fall stammt, sieht das jedoch anders. „Ein nützliches Kriterium, um festzustellen, ob eine Beziehung noch eine Freundschaft oder bereits eine Affäre ist, ist der Grad der Geheimhaltung, der sie umgibt“, schreibt sie in ihrem Buch Die Psychologie der Untreue.„Ralph und Laras Ehepartner waren zu diesem Zeitpunkt bereits zu einem Schattendasein verbannt. Schon Ralphs emotionale Bindung an Lara war ein Vertrauensbruch zwischen ihm und Rachel. Das implizite und explizite Verständnis ihrer Ehe betraf nämlich emotionale und körperliche Exklusivität.“

Auch ohne Sex ist eine emotionale Affäre gefährlich

Ralph und Lara steckten mitten in einer emotionalen Affäre. Denn eine emotionale Affäre beginnt – im Gegensatz zur rein sexuell motivierten Affäre – zunächst mit einer starken emotionalen Bindung an eine Person außerhalb der eigenen Partnerschaft und geht erst später möglicherweise in sexuelle Anziehung über. Die Beteiligten überschreiten erst die Grenzen emotionaler Intimität, indem sie vertrauliche Informationen, die normalerweise dem Partner vorbehalten sind, teilen und sich somit einen eigenen Kommunikationskanal schaffen. Später kommt die Heimlichkeit hinzu und dann folgt – meist, aber nicht immer – der Sex.

Doch auch ohne Sex ist eine emotionale Affäre von einer platonischen Freundschaft weit entfernt. In seinem Buch The Emotional Affair weist der US-Psychotherapeut Ronald Potter-Efron darauf hin, dass selbst die besten Freundschaften immer noch begrenzte Beziehungen im Leben sind – während emotionale Affären einen großen Teil der eigenen Energie und Zeit in Anspruch nehmen und dabei die Nähe zum Lebenspartner verringern. „Freundschaften sind quasi das Salz in der Suppe, sie machen unser Leben geschmackvoller“, so Potter-Efron, „emotionale Affären hingegen sind eher schon die Brühe in der Suppe. Sie machen die Substanz aus und nehmen einen Menschen emotional voll in Anspruch.“ Viele Paarforscher argumentieren, dass emotionale Affären eine größere Bedrohung für Paarbeziehungen darstellten als rein sexuell motivierte Seitensprünge, weil sie verbindlicher seien und schneller die Fantasie eines gemeinsamen Lebens weckten.

Glücklich verheiratet? Na und?

Doch nicht jede Freundschaft geht in eine emotionale Affäre über. Wann sind Menschen besonders empfänglich dafür, sich trotz bester Vorsätze zu verlieben? Bislang waren Forscher und Paartherapeuten überzeugt, dass Untreue in Paarbeziehungen vor allem auf zwei Ursachen zurückzuführen ist – auf unglückliche Ehen und schlechten Sex. Das ist nicht falsch. Aber heute weiß man, dass Affären auch in Partnerschaften vorkommen, die von beiden Beteiligten eigentlich als glücklich empfunden werden. Shirley Glass befragte über mehrere Jahre ihre Klienten zum Zustand ihrer Ehe und war erstaunt zu hören, dass 56 Prozent der untreuen Männer und 34 Prozent der untreuen Frauen ihre Beziehung vor ihrer Affäre eigentlich als „glücklich“ empfunden hatten. Auch der Paartherapeut Ulrich Clement hat in seiner Praxis schon viele Paare gesehen, bei denen alles bestens war und ein Partner dennoch untreu wurde.

„Ich halte es für falsch, Fremdgehen immer als Symptom für etwas Gestörtes zu betrachten“, schreibt Clement in seinem Buch Wenn Liebe fremdgeht. Untreue hat manchmal weniger mit der Partnerschaft als mit den individuellen Beweggründen des „Fremdgehers“ zu tun. Denn ein ganzes Bündel an Motivationen kann Menschen dazu treiben, trotz einer glücklichen Partnerschaft fremdzugehen: Manchmal haben Menschen in schwierigen Übergangsphasen Affären, um der Verantwortung eines Familienlebens oder der Auseinandersetzung mit dem Älterwerden zu entgehen. Auch Unzulänglichkeitsgefühle oder Selbstwertprobleme können den Weg in eine Affäre erleichtern.

„Wenn wir uns nach dem verliebten Blick eines anderen sehnen, wenden wir uns nicht unbedingt von unserem Partner ab, sondern oft von der Person, die wir geworden sind“, erklärt die renommierte amerikanische Psychotherapeutin und Paarberaterin Esther Perel. „Es geht dann weniger darum, uns jemand anderes zu suchen, sondern darum, dass wir nach einem anderen Selbst suchen.“ Gelegentlich sind aber auch Neugier oder Langeweile Motive. „Manchmal kommt es gewissermaßen aus einer Lebendigkeitsmotivation heraus zum Fremdgehen“, erklärt Ulrich Clement. „Weil durch eine Begegnung mit einer Person eine neue Qualität ins Spiel kommt, mit der man einfach nicht gerechnet hat. Da spielt dann auch die Gelegenheit eine Rolle.“

Gerade am Arbeitsplatz, wo Kollegen einander immer wieder sehen, ist diese Gelegenheit ausreichend vorhanden: Die gemeinsame Arbeit an einem tollen Projekt, der Druck einer Abgabefrist, die Anspannung vor einer langerarbeiteten Präsentation kann die sexuelle Chemie schnell befeuern. Selbst dann, wenn die Kollegen in ihren Partnerschaften eigentlich ganz zufrieden sind. Die amerikanischen Paartherapeuten James Wiggins und Doris Lederer fanden in einer Studie über die verschiedenen Spielarten der Untreue heraus, dass gerade bei Affären unter Arbeitskollegen die untreuen Ehepartner meist der Meinung waren, eigentlich glücklich verheiratet zu sein: Ehepartner, die Affären mit Kollegen hatten, waren etwa im Schnitt doppelt so lang verheiratet wie Ehepartner, die Affären außerhalb ihres Arbeitsplatzes hatten. Auch im Vorfeld hatten die mit Kollegen fremdgehenden Ehepartner viel seltener Affären gehabt. „Für uns liegt der Schluss nahe, dass am Arbeitsplatz weniger das Bedürfnis nach Bestätigung oder Aufregung, sondern eher die räumliche Nähe und die gemeinsamen Interessen ausschlaggebend für das Entstehen außerehelicher Beziehungen sind“, erklären Wiggins und Lederer.

Die Liebe zum Partner allein schützt also nicht vor dem Reiz einer neuen romantischen Verbindung. Auch ein glücklich verheirateter Partner rutscht ­bisweilen ohne Vorsatz in eine Affäre hinein. Der Paartherapeut Ulrich Clement behauptet: „Der Haken liegt nicht unbedingt bei den Personen, er liegt im Modell.“ Grundsätzlich geht es beim Thema Affären nämlich immer auch um das Dilemma der Monogamie: um die Frage, ob wir zu akzeptieren bereit sind, dass in langjährigen Beziehungen neben aller Vertrautheit, Verlässlichkeit und Sicherheit ­irgendwann ein Stück weit Leidenschaft und Aufregung auf der Strecke bleiben.

Viele Menschen können gut damit leben, andere erleben das – trotz aller Zuneigung für den Partner – als großen Verlust. Sie drängt es nach Abenteuer, Risiko, Herzklopfen. Sexualtherapeut Ulrich Clement hält die zeitgenössische Gleichsetzung von Liebe und Erotik ­deshalb für einen Ursprung vieler sexueller Konflikte: Die Vorstellung, Vertrautheit müsse immer ­erotische Anziehung mit sich bringen, stürze viele Paare in Schwierigkeiten. Sie könnten die gemeinsame Geschichte ihrer sexuellen Begegnungen dann nicht mehr als Reichtum erleben, sondern lediglich als Gewohnheit.

Verliebt, gebunden, desillusioniert

Die Hamburger Paartherapeutin Kirsten von Sydow findet, dass in Partnerschaften mittlerweile zu viel Wert auf sexuelle Entwicklung gelegt werde. „Nachlassende Leidenschaft ist normal, steht aber schnell im Verdacht, Symptom einer Krise zu sein“, sagt die Psychotherapieforscherin, „aber permanent glücklich ist niemand. Bestenfalls ist man immer mal wieder glücklich miteinander. Das gilt auch für Sex.“ Und es gilt sogar für die Beziehung zum Partner. Auch dessen Stern sinkt häufig mit der Anzahl der gemeinsam verbrachten Jahre: Je länger ein Paar zusammen ist, desto realistischer schauen die Partner aufeinander – und desto schmerzlicher ist die Erkenntnis, dass der Unterschied zwischen dem Menschen, den man sich wünscht, und dem Partner, mit dem man leibhaftig zusammenlebt, groß ist.

„Enttäuschung über den Partner ist ein normaler, nicht pathologischer Prozess jeder Paarbeziehung“, erklärt auch Ulrich Clement lapidar, „aus verliebt, verlobt, verheiratet wird dann manchmal verliebt, gebunden, desillusioniert.“ Gerade in einer emotionalen Affäre aber, die von einer neu gefundenen Nähe und Intimität lebt, wird die Differenz zwischen dem idealisierten neuen Partner und dem Ehepartner mit seinen Macken und Schwächen offensichtlich.

Wie also einen Ausweg finden aus dem Dilemma, dass Bindung und Begehren, Alltag und Aufregung dauerhaft oft nicht zu vereinbaren sind? Paartherapeuten raten dazu, erwachsen an die Sache heranzugehen. Also überzogene Erwartungen an Partnerschaften herunterzuschrauben und stattdessen der gemeinsamen Geschichte mit mehr Wertschätzung zu begegnen. Wer monogam leben und bei seinem Partner bleiben möchte, der sollte seine widersprüchlichen Wünsche wahrnehmen, um sich dann bewusst gegen das Abenteuer und für die Partnerschaft entscheiden zu können.

Bis hierher und nicht weiter: Der Verführung bewusst aus dem Weg gehen

Doch nicht nur bewusstes Durchhalten und Wertschätzen schützen gegen die Verlockung einer emotionalen Affäre. Genauso wichtig ist es, Grenzen gegenüber Dritten zu wahren. Wer nicht in Versuchung geraten möchte, sollte emotionale Intimität mit Menschen, die potenzielle Kandidaten für die nächste Partnerschaft sein könnten, vermeiden. Im Klartext: Auf Distanz zum sympathischen Kollegen gehen, um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen. Heiklen Situationen wie Absackern auf Hotelzimmern nach gemeinsamen Konferenzen aus dem Weg gehen. Nicht mit der hübschen Nachbarin über Eheprobleme sprechen. Nicht andauernd mit dem netten Kollegen Mittagessen gehen. „In einer festen Partnerschaft errichtet ein Paar rings um sich einen Schutzwall, der es vor jeglichen äußeren Kräften schützt, die es auseinanderbringen könnten“, empfiehlt die Paartherapeutin Shirley Glass.

Gleichzeitig sollte man in die bestehende Partnerschaft investieren, um sie lebendig zu halten. Denn neben einer bejahenden Einstellung zur Ehe braucht es immer auch Möglichkeiten zur individuellen und zur gemeinsamen Entwicklung.

Quelle

Ulrich Clement: Wenn Liebe fremdgeht. Vom richtigen Umgang mit Affären. Ullstein, Berlin 2010

Shirley Glass: Die Psychologie der Untreue. Klett-Cotta, Stuttgart 2015

Ronald Potter-Efron: The emotional affair: How to recognize emotional infidelity and what to do about it. New Harbinger Publications 2009

Kirsten von Sydow, Andrea Seiferth: Sexualität in Paarbeziehungen. Hogrefe, Göttingen 2015

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 3/2016: Eigensinn