„Immer irgendwie auf Abstand“

Paartherapeutin Helga Odendahl erklärt im Interview, wie wir ungünstige Beziehungsmuster ablegen können

Das Foto zeigt eine Frau, die sich an einen Baum legt. Auf der anderen Seite lehnt sich ein Mann an den Baum und dreht der Frau den Rücken zu
Wer schlechte Erfahrungen mit Beziehungen gemacht hat, verhindert unbewusst, dass emotionale Nähe entsteht © Jon Vallejo / Getty Images

Frau Odendahl, wie kann ich herausfinden, ob ich in einem Beziehungsmuster feststecke, das mir nicht gut tut?

Dafür wäre es ratsam herauszufinden, welchem Bindungstyp ich angehöre. Um das zu erfahren, können Bücher helfen, ich mag da sehr: „Warum wir uns immer in den Falschen verlieben: Beziehungstypen und ihre Bedeutung für unsere Partnerschaft“ von Amir Levine und Rachel F.S. Heller. Das kann ich sehr empfehlen. Es gibt auch Tests und Fragebögen, mit denen sich persönliche Bindungsmuster erkennen lassen.…

Sie wollen den ganzen Artikel downloaden? Mit der PH+-Flatrate haben Sie unbegrenzten Zugriff auf über 2.000 Artikel. Jetzt bestellen

empfehlen. Es gibt auch Tests und Fragebögen, mit denen sich persönliche Bindungsmuster erkennen lassen. Da würde ich feststellen können, zu welchem Bindungsstil ich neige, ob es ein eher unsicherer ist, wie ein ängstlich-vermeidender oder ein ängstlich-ambivalenter.

Menschen mit einem unsicherem Bindungstyp zeigen ein widersprüchliches Verhalten in Beziehungen. Sie können Angst davor haben, dass der Partner, die Partnerin ihnen zu nah kommt. Das erleben sie als störend und unangenehm. Es treten häufig negative Gedanken über die Beziehung auf und der Partner wird anderen gegenüber oft „schlecht“ gemacht.

Wer zum Beispiel dem ängstlich-vermeidenden Bindungsstil angehört, versucht, Distanz zu wahren. Diese Menschen haben Schwierigkeiten, sich auf enge Beziehungen einzulassen. Sie erscheinen unabhängig, doch in Wirklichkeit investieren sie viel Zeit und Energie, um ihre Abwehrmechanismen aufrechtzuerhalten, selbst wenn sie bereits schon einige Zeit in einer Beziehung sind.

Warum möchten diejenigen, die eigentlich eine Beziehung vermeiden, dennoch eine Partnerschaft?

Auch wer ein „negatives“ Bindungsmuster hat, wünscht sich doch trotzdem eine Beziehung, sehnt sich nach Liebe und Zärtlichkeit. Das Bedürfnis nach Bindungen liegt in unseren Genen. Wir brauchen andere Menschen in unserem Leben. Doch wer schlechte Erfahrungen mit Beziehungen gemacht hat, verhindert unbewusst, dass emotionale Nähe entsteht. Es gibt aber auch das Gegenteil, Menschen, die klammern, weil sie Angst davor haben, allein zu sein. Das kann zwar kurzfristig die Angst lindern, aber auf lange Sicht führt das ebenfalls zu Problemen.

Arg belastend wird es, wenn jemand mit Angst vor Nähe auf eine „ängstliche“ Partnerin, einen Partner trifft, der wiederum Furcht vor Einsamkeit hat, und beide sich ineinander verlieben. Eine solch extreme Unterschiedlichkeit tut beiden nicht gut: Der Ängstliche klammert und sucht viel Nähe, während die Vermeidende Abstand benötigt – deshalb geraten sie aneinander. In diesem Fall wäre es besser, wenn sie Partnerinnen finden würden, die nicht ihrem eigenen Muster entsprechen. Für denjenigen, der viel Nähe sucht, wäre jemand ideal, der oder die dies geben kann. Und für Menschen, die Distanz benötigen, wäre eben mehr Abstand angebracht.

Welche Anzeichen deuten darauf hin, dass einer von beiden sich nicht wirklich auf eine Zweisamkeit einlassen will?

Anzeichen dafür sind, dass die oder der andere nicht auf Zuwendung reagiert und den Wunsch nach Nähe zurückweist, also immer irgendwie auf Abstand geht. So gibt es keinen Anruf nach dem ersten Date, und Verabredungen und Treffen werden ständig verschoben. Es mangelt auch an liebevollen Sätzen wie: Ich möchte dich sehen! Ich vermisse dich, wenn du nicht da bist! Ich möchte dich meinen Freunden vorstellen! Das sind Hinweise darauf, dass die oder der andere sich bedeckt hält. Halbherzigkeiten, ständiges Zögern, häufige Kritteleien deuten darauf hin, dass der Beziehung Bodenhaftung, Sicherheit und Verbindlichkeit fehlen. Oft stellt sich bei einem der Beteiligten das Gefühl ein, nichts zurückzubekommen und abgelehnt zu werden.

In Beziehungen haben es Partner von unsicher vermeidenden Menschen also wahrlich nicht leicht?

Genau, weil diese sehr auf Autonomie bedacht sind und ihre Gefühle nicht zeigen und sie auch nicht benennen können. Schwierigkeiten kann es ebenso in der unsicher-ambivalenten Bindung geben. Solche Menschen haben als Kinder keine berechenbaren und stabilen Beziehungen erlebt und wollen sich nun der Zuwendung des Partners stets aufs Neue versichern. Oft steht hier die Angst im Vordergrund, nicht genug geliebt und deshalb verlassen zu werden.

Gilt für schwierige Beziehungen das Sprichwort: Gleich und gleich gesellt sich gern – oder ziehen sich da eher Gegensätze an?

Es ist möglich, dass Menschen tendenziell Partnerinnen wählen, die dem eigenen Bindungsstil entsprechen, aber es kann auch genau das Entgegengesetzte der Fall sein. Häufig besteht ein starker Wunsch, ähnliche Erfahrungen zu teilen, aber manche Menschen suchen auch nach jemandem, der sie ergänzt. Wie zwei nun zusammenkommen und beieinanderbleiben, das alles hängt von verschiedenen Faktoren ab, von persönlichen Erfahrungen, bestimmten Persönlichkeitseigenschaften, kulturellen Einflüssen und aktuellen Lebensumständen. Oft ist es so, dass ein unsicherer, also ein ängstlich-vermeidender oder ängstlich-ambivalenter Partner als aufregender wahrgenommen wird.

Warum ist das so?

In solch einer Beziehung gibt es mehr Spannung und Herausforderungen, was fälschlicherweise mit intensiven Liebesgefühlen verwechselt wird. Ein Beispiel: Wenn jemand sehr nett und zugewandt ist, plötzlich jedoch den Kontakt abbricht, dann aber wieder auftaucht, mit Entschuldigungen und Einsichten, und kurz darauf Schluss macht… das hält beide in permanenter Aufregung. Eine sicher gebundene Partnerin hingegen zeigt sich verbindlicher und bleibt in Kontakt. Übrigens: Besonders auf Dating-Plattformen gibt es häufig Personen, die dem unsicheren Bindungstyp angehören, ängstlich-vermeidend oder ängstlich-ambivalent sind.

Wie ist das zu erklären?

Zusätzlich sei kurz angemerkt: Im Gegensatz zu den drei unsicheren Bindungstypen - den ängstlich-vermeidenden, den ängstlich-ambivalenten und den desorganisierten - gibt es den sicher gebundenen Typ (Übersicht siehe Kasten). Personen dieses Typs bleiben in der Regel länger in Beziehungen, sind zufriedener und suchen weniger häufig nach neuen Partnerinnen. Im Gegensatz dazu ist die oder der Vermeidende oft erneut auf der Suche, da sie oder er sich zwar nach einer Beziehung sehnt, sich jedoch nicht vollständig darauf einlassen kann und daher keine langfristige Erfüllung findet. Dies führt zu anhaltendem Stress und häufig zu einem Wechselspiel zwischen Nähe und Distanz. Daher ist es wichtig, sich der eigenen Bedürfnisse und Erwartungen in einer Beziehung bewusst zu sein.

Warum wiederholen Menschen Muster, die sie als leidvoll erfahren haben?

Ungünstige Konstellationen ergeben sich daraus, dass unser Unbewusstes dazu neigt, schlechte Erfahrungen zu wiederholen. Egal, ob positiv oder negativ, alles, was wir erlebt und überstanden haben, ist für unser Gehirn erstmal sicher, jedenfalls sicherer als alles Neue und Unbekannte. Deshalb fliegen manche Frauen immer wieder auf denselben Typ Herzensbrecher, den verheirateten Mann, der eine Affäre sucht, eben jener angeblich einsame Cowboy, der zwar anziehend wirkt, sich aber nicht binden will. Oder es werden Partnerinnen und Parter ausgewählt, die an Mutter oder Vater erinnern. Das ist zunächst sicheres Terrain, ganz gleich, ob es eine gute oder schlechte Beziehung zu unseren Eltern gab.

Ist es möglich, dass sich der eigene Bindungsstil im Laufe der Zeit verändert?

Es kann zum Beispiel gelingen, vom ängstlich-vermeidenden oder ängstlich-ambivalenten zu einem sicheren Stil zu wechseln. Wer dem vermeidenden Beziehungstyp entspricht, müsste lernen, dass sich die unguten Gefühle, die sie oder er in einer Beziehung hat, ändern können. Das bedeutet, darüber nachzudenken, warum in bestimmten Situationen negative Emotionen auftauchen und wie es sich angemessen darauf reagieren lässt. Dafür ist es wichtig, die eigenen Gefühle besser wahrzunehmen, sie zu benennen und schließlich zu regulieren. Auch wenn es sich für einen ängstlich-vermeidende Partner zunächst ungewohnt anfühlt, ist dies eine wichtige Erfahrung, damit echte, wohltuende Bindung gelingen kann.

Wie könnte das zum Beispiel aussehen?

Zwei Menschen lernen sich kennen, verlieben sich ineinander und möchten zusammen ein Wochenende verbringen. Einer der beiden bekommt plötzlich Panik und denkt: Die ganze Zeit zusammen zu sein, das halte ich nicht aus! Doch genau das zu riskieren, würde vielleicht zu neuen Erkenntnissen führen, eben dass es ganz schön sein kann, länger Zeit miteinander zu verbringen und diese gemeinsam zu gestalten. Wer immer davor flieht, entwickelt sich nicht weiter. Wer aber bereit ist, unbefriedigenden und enttäuschenden Bindungen etwas entgegenzusetzen, aus den bekannten Mustern auszusteigen, wird Neues erleben.

Das heißt aber noch lange nicht, dass an einem gemeinsamen Wochenende alles wunderschön wird.

Natürlich nicht, es muss schon eine Person sein, die in der Lage ist, Freude zu bereiten und für emotionales Wohlbefinden zu sorgen. Es ist von entscheidender Bedeutung, dass beide ihre Bedürfnisse und Wünsche kennen und offen darüber reden.

Aber wenn der eine in den kühlen Norden fahren möchte, und der andere den sonnigen Süden liebt?

Dann passt das nicht. Oder beide finden einen Kompromiss, der sich gut anfühlt. Der nächste Schritt wäre zu überlegen, inwieweit sich beide auf Nähe einlassen und diese genießen können. Dafür ist es gut zu wissen, warum man zuvor in einer unglücklichen Beziehung gelandet ist. Wer nämlich immer nach Aufregung sucht und sich von unsicheren Partnerinnen und Partnern angezogen fühlte, gerät wiederholt in die Falle des Adrenalinkicks. Die neue Erfahrung wäre, diesen zu umgehen, zu erleben, dass auch ohne ein ständiges Hin und Her die Beziehung interessant und schön sein kann. Es ist nicht nur aufregend, sondern letztendlich anstrengend, von einer Beziehung in die andere zu wechseln, ständig zu daten und von vorne anzufangen. Manchmal kommt der Punkt, an dem die Lust auf Veränderung nachlässt und der Aspekt der Sicherheit höher wird.

Ist es möglich, die eigene Bindungsangst vollständig zu überwinden?

Natürlich! Zwar können bestimmte Ängste bestehen bleiben, doch entscheidend ist, wie wir darauf reagieren. Die Frage, ob wir uns vermeidend verhalten, ist dabei von großer Bedeutung. Es ist durchaus möglich, Ängste zu haben und dennoch die Dinge zu tun, die wir tun möchten. Indem wir uns diesen Herausforderungen stellen, können wir die Intensität unserer Ängste verringern. Der Umgang mit Ängsten ist eine individuelle Herausforderung, die jedoch Chancen für ein persönliches Wachstum birgt.

Welches sind aus Ihrer Sicht wichtige Schritte für eine gesunde Balance zwischen Nähe und Distanz?

Neben dem offenen Austausch von Gedanken und Gefühlen ist es entscheidend, den Raum der oder des anderen zu respektieren und auch mal Zeit für sich allein zu haben. Es geht darum, einander zu verstehen, sich in die Lage des Partners, der Partnerin zu versetzen und gemeinsam Lösungen zu finden, die für beide passen. Dabei ist es nie zu spät, auch über die eigenen Bedürfnisse nachzudenken und sich selbst zu reflektieren, um eine harmonische und erfüllende Beziehung zu führen.

Wie lässt sich Vertrauen in Beziehungen aufbauen, besonders wenn Unsicherheiten oder Ängste im Spiel sind?

Vertrauen ist etwas, das man der anderen erst einmal schenkt, es ist sozusagen ein Vorschuss: Also Vertrauen schenken, jedoch darauf schauen, wie die andere Person damit umgeht, – und ob er oder sie es auch verdient. Das bedeutet, dem anderen etwas zuzutrauen und darauf zu achten, dass er zuverlässig ist und seine Versprechen einhält. Wenn die oder der andere Rückzieher macht, sollte es Konsequenzen geben. Gerade in solchen Situationen wird es deutlich, ob man es mit einer vermeidenden Person zu tun hat. Dann stellt sich die Frage: Will ich solch jemanden in einer Beziehung? Manche Menschen machen ja unglaubliche Kompromisse, die es oft nicht wert sind. Ich finde, da ist es besser, nach einer neuen Partnerschaft Ausschau zu halten. Oder, wer große Kompromisse eingeht, sollte sich dessen bewusst sein und verstehen, warum es so ist.

Welche Ratschläge würden Sie Menschen mit einem ängstlich vermeidenden Bindungstyp geben?

Stellen Sie sich vor, Sie haben zwei potenzielle Partner zur Auswahl: Der erste ist äußerst aufregend und voller Überraschungen, aber auch unzuverlässig und nicht wirklich in der Lage, auf Ihre Bedürfnisse einzugehen. Der zweite mag auf den ersten Blick weniger aufregend erscheinen, aber er ist einfühlsam, zuverlässig und interessiert sich aufrichtig für Sie und Ihre Bedürfnisse. Letztendlich geht es darum, jemanden kennenzulernen, der emotionale Unterstützung und Zuneigung bietet, und der bereit ist, eine verbindliche, wohltuende Beziehung aufzubauen, in der beide Partner sich ergänzen, unterstützen und zufrieden sind.

Wann könnte eine Paartherapie nützlich sein, und welche anderen Optionen gibt es zur Selbsthilfe in solchen Beziehungsfragen?

Eine Paartherapie kann hilfreich sein, wenn es darum geht, Probleme in der Beziehung anzugehen und Ansätze zu entwickeln, die für beide Partner passen. Eine weitere Möglichkeit besteht darin, sich selbst zu fragen: Warum wiederhole ich immer wieder ungesunde Muster? Warum ziehe ich Personen an, die mir nicht guttun, die nicht verlässlich sind, obwohl ich nach Verlässlichkeit suche? Wichtig ist, die eigenen Schwächen zu erkennen. Dabei kann auch der offene Austausch mit guten Freunden nützlich sein: Wie sehen mich Menschen, die mich gut kennen? Wie ist ihre Perspektive auf meine Beziehung? Das kann Impulse geben, um sich besser zu verstehen und unbefriedigende Bindungen zu lösen oder zu verändern.

Helga Odendahl ist Tiefenpsychologische Psychotherapeutin in Berlin und Köln

Stand: April 2024

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: DAS DOSSIER Psychologie Heute: Bindung