Es ist immer erhellend, wenn jemand von außen einen Blick auf hartgesottene Familienlegenden wirft. Letztes Jahr habe ich meinen Freund Kai mit zu einem Familienfest genommen. Kai ist jemand von sehr weit außen, nämlich aus Sydney. Auf dem Weg zum Fest erzählte ich ihm, wer in meiner erweiterten Ursprungsfamilie als was gilt: Onkel Udo als extrem klug, Tante Lucy als außerordentlich witzig, und Onkel Ulrich gilt als maßlos schön.
Kai unterhielt sich blendend mit meiner Verwandtschaft, und hinterher sagte…
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maßlos schön.
Kai unterhielt sich blendend mit meiner Verwandtschaft, und hinterher sagte er: „Ehrlich gesagt: So klug fand ich Onkel Udo gar nicht, eher seine Frau“, er sagte: „Tante Lucy versemmelt ziemlich oft Pointen“, und dann fragte er auch noch: „Wo genau ist Onkel Ulrich eigentlich maßlos schön? Er ist sehr nett – aber schön, also, ich weiß ja nicht.“ All das war nicht von der Hand zu weisen, und mir fiel mal wieder auf, dass mir bereits in der Kindheit die Brille angepasst wurde, durch die ich meine Familie sehe, so, wie sie angeblich ist und angeblich immer sein wird.
Nun ist meine Großtante Traudl gestorben. Ich kannte Traudl kaum und kann mich nicht erinnern, mich je ausführlich mit ihr unterhalten zu haben. Sie hat nie viel gesagt auf Großfamilienzusammenkünften, sie hörte zu, was die anderen erzählten. Ich erinnere mich an einen Satz, den sie ab und zu in die Unterhaltungen warf; immer wenn jemand eine Prognose zu irgendwas abgab, sagte Tante Traudl: „Man weiß nie.“
Die unglückliche Traudl
Sie sagte das, wenn Onkel Ulrich prognostizierte, dass sein Sohn nie und nimmer das Abitur schaffen würde. Wenn es hieß, dass Onkel Hanno sich auf gar keinen Fall von seinem Schlaganfall erholen werde. Als Onkel Bernd mutmaßte, dass Tante Anna nach dem Tod ihres Mannes auf immer allein bleiben werde.
Tante Traudl, das wurde auf ihrer Beerdigung wieder und wieder gesagt, war „die unglückliche Traudl“. Unglücklich deshalb, weil sie angeblich eine ebenso große wie kurze Liebe nie verwunden hatte. Jeder in meiner Familie kennt die Geschichte: Als junge Frau tanzte Traudl auf einem Ball mit einem Mann namens Otto – und es war, weithin sichtbar, für beide die große Liebe auf den ersten Blick. „Ich liebe dich“, hatte Otto nach der durchtanzten Nacht zu Traudl gesagt, und dann war er verschwunden – so schnell heraus aus Traudls Leben, wie er hereingeprescht war. Kurz wurde vermutet, dass Otto vielleicht verstorben war, überfahren auf dem Weg nach Hause, denn nach dieser Nacht hätte mutmaßlich allein der Tod Otto von Traudl fernhalten können. Aber Jahre später hat man Otto in Frankreich gesichtet, der maßlos schöne Onkel Ulrich glaubte jedenfalls, ihn dort gesehen zu haben. Als er Traudl davon erzählte, sagte sie einen Satz, der noch maßloser schön war als Onkel Ulrich. Sie sagte: „Dann hat Otto dort wohl etwas zu erledigen.“
Traudl war ihr Leben lang allein geblieben und Lehrerin geworden, und im Alter hatte sie in ihrem Garten eine Auffangstation für verletzte Krähen unterhalten.
Es regnet stark, als ich nach Traudls Beerdigung im Auto sitze, die Scheibenwischer wedeln hektisch hin und her. Mein Freund Kai ruft aus Sydney an. „Wer war denn Tante Traudl?“, fragt er. Reflexartig leiere ich die Legende von der unglücklichen Traudl herunter, ihr Leben, das gänzlich eingefroren ist in der Szene, in der Otto aus ihrem Leben herausprescht, es ist trist und langweilig, deshalb sage ich: „Aber: Man weiß ja nie.“
Verbesserliche Romantikerin
„Was weiß man nie?“, fragt Kai. Man weiß nie, ob eine hereingepreschte, kurze große Liebe ihre Dauer um Jahrzehnte überdauern kann, sage ich. Man weiß nie, ob ein stundenlanges Glück so schwerwiegend ist, dass es lebenslang reicht. „Du bist eine Romantikerin“, sagt Kai, er sagt es überflüssigerweise, denn das ist mein Label in meiner Ursprungsfamilie: Ich bin die Romantikerin, gerne wird das kopfschüttelnd und mit dem Adjektiv „unverbesserlich“ gesagt. Es gibt schlimmere Zuschreibungen, und ich bin, wenn überhaupt, eine verbesserliche Romantikerin. „Wir dürfen Traudls Leben nicht so stehenlassen“, sage ich und halte mein Gesicht nahe an die überströmte Windschutzscheibe. Man weiß weiterhin nie, sage ich, ob Tante Traudl im Gegensatz zu uns anderen begriffen hatte, dass ein Verschwinden der Liebe keinen Abbruch tun muss, dass es sehr wohl möglich ist, dass jemand einen von Herzen liebt, aber trotzdem woanders etwas zu erledigen hat, etwas, das leider das ganze Leben lang dauert.
„Beispielsweise in Sydney“, sagt Kai. Oder, überlege ich, Tante Traudl hatte im Gegensatz zu uns anderen begriffen, dass letztendlich die Liebe zu jemandem an sich ein Glückfall ist, egal wie ausführlich dieser Jemand einen zurückliebt.
„Tante Traudl scheint sehr viel begriffen zu haben“, sagt Kai, „die Glückliche.“ „Vielleicht ist das auch alles Quatsch“, überlege ich, „stell dir vor: Vielleicht war Otto gar nicht ganz weg. Vielleicht haben sie sich ihr Leben lang heimlich getroffen.“ Weil man ja nie weiß, stelle ich mir vor, dass es eine unendliche Sammlung deftiger Liebesbriefe von Otto und Traudl gibt. Ich stelle mir vor, dass Traudl diese Briefe vor ihrem Tod alle in Fetzen gerissen und ihren rekonvaleszenten Krähen zum Nestbau zur Verfügung gestellt hat, weil sie nicht wollte, dass wir diese Briefe finden, weil wir dieser Briefe nicht wert waren, weil wir Tante Traudl als unglückliche Tante Traudl abgestempelt hatten, wir kurzsichtige, kleinmütige, bucklige Verwandtschaft.
„Wie schön“, sagt Kai in Sydney, „jetzt haben wir die Erzählung von Tante Traudls Leben gerettet.“ Der Regen, von dem ich dachte, dass er nicht stärker werden könne, schert sich nicht um Zuschreibungen und wird noch maßloser, er überspielt jetzt Kais Stimme und das letzte bisschen Sicht. „Ich muss jetzt mal Schluss machen“, sage ich, und Kai sagt, glaube ich: „Ich habe auch noch was zu erledigen.“
Mariana Leky stand mit ihrem Roman Was man von hier aus sehen kann über ein Jahr auf der Spiegel-Bestsellerliste. In Psychologie Heuteschreibt sie jeden Monat darüber, was die Menschen, die sie umgeben, bewegt. Mit psychologischen Themen kennt sich Leky aus: In ihrer Familie sind zehn Psychoanalytiker