Der eigentliche Julius

Im Kreis der Familie ist der Sohn giftig und problematisch, auf der Arbeit selbstbewusst und offen. Andreas Maier über prägende Familienkonstellationen.

Die Illustration zeigt eine Familie aus vier Personen in blauen Strichen, während ein bunter Mensch davonrennt
Die Eltern werden niemals die Chance haben, den anderen Julius zu sehen. © Jan Robert Dünnweller

In meinem Bekanntenkreis gibt es ein Kind, einen Zweitgeborenen, dessen Familie ich ganz gut kenne. Das Kind wirkte auf mich nie besonders glücklich. Natürlich befand sich der Junge, nennen wir ihn Julius, im Schlepptau des Erstgeborenen, der schnell Reife entwickelte und allgemein anerkannt war. Mit acht, neun Jahren bewies dieser Erstgeborene, Alfons, eine solche Eigenständigkeit, dass man damals munkelte: Den kannst du auch in einem Wald aussetzen, und vermutlich wird er das nicht nur problemlos…

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einem Wald aussetzen, und vermutlich wird er das nicht nur problemlos überleben, sondern am Ende ein ganzes Dorf erbaut haben mitten im Wald.

Tatsächlich war Alfons, der Erstgeborne, das Vorzeigekind, aber ganz und gar nicht so, als hätten die Eltern das etwa intendiert. Er beeindruckte von ganz allein. Sportlich war er früh ein Tier, und in der Großstadt bewegte er sich ebenfalls früh allein. Fahrrad fuhr er wie ein Henker, der Erstgeborene, und er ruhte in sich selbst, das heißt, er hatte an Konkurrenz zu anderen gar nicht groß Interesse und musste sich auch nicht ständig vergleichen, wie es andere Kinder oft tun.

Alfons war schnell von Begriff und kam in gewisser Weise auf seinen eigenen Vater hinaus, der eine ziemlich gewichtige Person mit Ausstrahlung ist. Ob er Schulprobleme hatte, kann ich nicht erinnern, ich rede von einer Zeit, die schon etwas länger zurückliegt.

Er fühlte sich ständig zurückgesetzt

Selbstverständlich, wie es in letzter Zeit so ist unter Stadtleuten, spielte auch Essen eine gesellschaftliche Rolle bei den Eltern. Man kocht, lädt ein, zeigt, was man kann. Alfons, der Erstgeborene, war nie ein Würstchenkind, sondern traute sich an alles heran und wuchs mit dem teils elaboriertesten, teils rustikalsten Kram auf, ohne jemals nach so etwas wie Pizza und Pommes zu verlangen. Alfons wollte immer bei den Erwachsenen mittun, und das gelang ihm auch problemlos. Konflikte mit den Eltern trug er aggressiv und mit Lautstärke aus.

Nun aber zu Julius, dem zweiten. Julius war stets um die gleiche Spanne jünger als sein Bruder, was banal klingt, denn bekanntlich ändert sich diese Zeitspanne nie, was dem Erstgeborenen in der Regel völlig schnuppe ist, dem Nachgeborenen aber Jahr für Jahr und Phase für Phase das Leben bestimmt, und insofern nicht banal ist, sondern stets aufs Neue tagesaktuell, solange er sich in der Familie aufhält.

Julius hatte den dunkleren Blick, und man sah seiner Körperhaltung Gehemmtheit an, auch sie hatte etwas Sinistres. Er war das Gegenteil von offen. In den Auseinandersetzungen mit den Eltern neigte er zum Giftigwerden, und natürlich fühlte er sich ständig zurückgesetzt, nicht nur von den Eltern (was sie objektiv nicht taten, höchstens reaktiv), sondern von der ganzen Umwelt, möglicherweise mit Ausnahme seiner gleichaltrigen Klassenkameraden.

Sein persönliches Gefängnis

In Wahrheit kam es gar nicht zu wirklichen Auseinandersetzungen mit den Eltern, sondern Julius pflegte eher schnell den Schwanz einzukneifen und unter hingezischelten Verwünschungen die Situation zu verlassen. Ich sah ihn jahrelang in einer Art persönlichem Gefängnis sitzen, offenbar durch seine Person oder Veranlagung. Ich wusste nicht, ob ich ihn sympathisch finden sollte oder nicht.

Eine Zeitlang verlor ich sämtliche Beteiligte aus den Augen.

Jahre später besuchte ich einen Freund, der Schreiner ist und einen Lehrbetrieb hat. Sein Betrieb ist verhältnismäßig groß, etwa 15 Leute, sie statten Schulen aus ebenso wie Privatwohnungen, von Einbauschränken bis hin zu Restauranteinbauten machen sie alles. Der Schreinerfreund erzählte, er habe einen neuen Lehrling, nächste Woche fange er an. Es handelte sich um jenen Julius. Will das sein Vater, fragte ich. Nein, antwortete der Freund. Ich: Und du hast ihn also angenommen? Er: Probephase, du weißt schon. Man muss ja jedem eine Chance geben!

Einen Monat später war ich wieder zu Besuch. Und, wie macht er sich, fragte ich. Oh, sehr gut, sagte der Freund. Er könne absolut nicht meckern. Sehr fleißig, sehr pünktlich, will lernen.

Ein anderer Julius

Ein, zwei Monate später kam ich wieder zu ihm. Wir saßen bei einem Bier. Das Thema Julius machte ihm inzwischen richtig Spaß. Er sagte, wo andere in diesen Lehrmonaten bloß ihren Stiefel runterreißen, ist Julius immer schon zwei Schritte weiter. Den kannst du inzwischen sogar allein auf die Baustelle gehen lassen. Der will richtig was, absolut talentiert. Mein Freund sagte, so jemand könnte mal den Betrieb übernehmen.

Dann erschien Julius in der Werkstatt. Er war, kurz gesagt, ein anderer Mensch. Ein eindrucksvolles, helles Gesicht, absolute Offenheit gegenüber seinem Lehrherren, ein In-sich-Ruhen, das ich niemals erwartet hätte. Er hatte jetzt diesen inneren Stolz, den man selbst nicht merkt, der einem aber den Rücken gerade macht.

Und vor allem: Er schien, obgleich er sowieso groß war, noch einmal um 10 Zentimeter gewachsen. Wenn man ihn in der Runde sah, wie sie gemeinsam Fragen und Anstehendes besprachen, war alles völlig natürlich und gut. Obgleich ich nie ein größeres inneres Verhältnis zu ihm hatte, machte es allein vom Zusehen her Spaß.

Alles war wie früher

So, nun aber zur Pointe. Sie bezieht sich nicht auf Alfons, den Erstgeborenen, den wir längst haben seiner Wege ziehen lassen. Aber vor einiger Zeit sah ich mal wieder die ganze Familie zusammen. Nur für eine halbe Stunde. Ich fiel aus allen Wolken. Alles war wie früher. Das Verhältnis zu den Eltern schwierig, die Ansprachen problematisch und beide Seiten stressend, der Blick wieder dunkler, die Körperhaltung wieder da und Julius insgesamt wieder zehn Zentimeter kleiner.

Und ich dachte: Schade, die Eltern werden niemals die Chance haben, den anderen Julius zu sehen. Sie können nur von ihm erzählt bekommen. Denn sie verhindern diesen anderen, ich würde sagen eigentlichen Julius kraft Anwesenheit. Und sind daran völlig unschuldig.

Jetzt weiß ich, dass Julius mir eindeutig sympathisch ist und meine vorige Unschlüssigkeit weniger mit ihm als mit der ganzen Konstellation während seines Heranwachsens zu tun hatte. Und eben nicht mit so etwas wie angeblichen Charaktereigenschaften oder Wesenhaftigkeiten. Das mal anschaulich vorgeführt bekommen zu haben ist mir nicht ganz unwichtig.

Andreas Maier ist vielfach ausgezeichneter Schriftsteller. Auf elf Bände hat er seinen Zyklus „Ortsumgehung“ angelegt, 2021 ist der achte Band mit dem Titel Die Städte erschienen (Suhrkamp). In Psychologie Heute erdichtet er an dieser Stelle jeden Monat das Blaue vom Himmel.

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 4/2022: Das Leben leicht machen