„Wir müssen Demokratie neu erfinden“

Was geschieht mit einer Gesellschaft, der die alten Autoritäten verlorengehen? Ein Gespräch mit dem Psychoanalytiker Paul Verhaeghe.

Professor Verhaeghe, glauben Ihnen Ihre Studenten alles, was Sie erzählen?

Die meisten schon. Das liegt im Wesentlichen an zwei Dingen: Ich habe einige Erfahrung mit dem Unterrichten – und einen guten Ruf bei den Studenten.

Das heißt, Sie besitzen eine gewisse Autorität?

Die Studenten haben Respekt vor mir. Das ist nicht dasselbe.

In Ihrem aktuellen Buch Autorität und Verantwortung sucht man den Begriff „Respekt“ vergeblich. Woran liegt das?

Nun, Respekt ist etwas, das zu einem Individuum gehört. Sie können sich…

Sie wollen den ganzen Artikel downloaden? Mit der PH+-Flatrate haben Sie unbegrenzten Zugriff auf über 2.000 Artikel. Jetzt bestellen

vergeblich. Woran liegt das?

Nun, Respekt ist etwas, das zu einem Individuum gehört. Sie können sich Respekt erwerben oder ihn verlieren – beides aufgrund Ihres Verhaltens. Autorität jedoch wird Ihnen verliehen aufgrund Ihrer Funktion. Anders gesagt: Wer als Professor einen schlechten Job macht, verliert nicht seine Autorität, sondern nur den Respekt der Studenten.

Wenn es nicht Ihre Leistung ist – was gibt Ihnen als Professor Autorität?

Autorität stammt immer aus einer dritten Quelle. Sie entsteht nicht einfach aus einem Verhältnis zwischen zwei Menschen. Früher besaßen Institutionen Autorität, weil sie sich auf Gott berufen konnten. Meine Autorität als Professor speist sich aus der Glaubwürdigkeit von Wissenschaft und Universität. Die Studenten glauben, dass Wissenschaft etwas taugt.

Haben die Studenten Angst vor Ihnen?

Das glaube ich eher nicht. Aber Sie spielen mit Ihrer Frage auf etwas an, das ich bei Hannah Arendt entlehnt habe, nämlich die Unterscheidung zwischen Macht und Autorität. Macht arbeitet ausschließlich mit Zwang und Angst. Bei Autorität kommt noch etwas anderes hinzu, nämlich Wissen. Autorität, so wie ich und einige andere Leute sie verstehen, hat jemand oder etwas, dem wir uns freiwillig unterwerfen.

Freiwillige Unterwerfung unter eine Autorität – das klingt sehr nach dem, was Sigmund Freud über das Über-Ich geschrieben hat. Das Gesetz der Väter wird zu meinem Gewissen. Deshalb folge ich ihm aus innerem Antrieb.

Das ist richtig und führt uns in die heutige Zeit. Denn das väterliche Prinzip existiert nicht mehr. Genau das ist unser Thema. Sie können das überall sehen: in der Politik, in der Wirtschaft, in den Familien, den Schulen. Unsere traditionelle Quelle für Autorität – das Patriarchat – ist am Ende. Wir glauben nicht mehr daran. Autorität funktioniert nur, solange wir daran glauben. Deshalb haben wir ein Problem mit dem Über-Ich. Wie Sie schon gesagt haben: Das Über-Ich ist eine Internalisierung der Vaterfigur. Wenn die Vaterfigur jedoch verschwindet – woher kann die Autorität noch kommen?

Wenn ich meinen Sohn darum bitte, sein Zimmer aufzuräumen, dann wird er sich zwar beklagen, das Zimmer aber trotzdem saubermachen. Warum tut er das, wenn ich für ihn keine Autorität mehr besitze?

Da muss man unterscheiden zwischen der symbolischen Vaterfunktion und der tatsächlichen Beziehung zu Ihrem Kind. In den 1950er Jahren gab es noch die symbolische Vaterfunktion. Damals wäre es ganz offensichtlich gewesen, dass Sie Macht und Autorität besitzen. Wenn das heute bei Ihnen klappt, dann nur deshalb, weil Sie eine gute Beziehung zueinander haben. Es läuft ganz ähnlich wie zwischen mir und meinen Studenten.

Sie haben die Autoritätskrise in der Politik angesprochen. Heute heißt es: „Wir glauben denen da oben nicht mehr.“

Und in dieser Formulierung liegt eine tiefe Wahrheit: Die alte Autorität kam immer von „da oben“. Das hat die komplette Gesellschaft bestimmt. Heute sehen wir an manchen Stellen eine andere Art von Autorität. Sie funktioniert nicht mehr Top-down, sondern Bottom-up, also von unten. Das ist ein ganz neues Phänomen. Ich fürchte aber: Die Letzten, die das verstehen werden, sind vermutlich die Politiker.

Haben Sie ein Beispiel für diese Autorität von unten?

Auf der politischen Ebene heißt das, dass wir Demokratie neu erfinden müssen. Das klingt wie ein Märchen, aber es passiert bereits. Nehmen wir an, der Bürgermeister Ihrer Stadt möchte den Nahverkehr anders organisieren. Das Beste, was er tun kann, ist: eine Vertretergruppe der Bürger einberufen, ihnen eine Reihe von Plänen vorlegen, die Vor- und Nachteile diskutieren und dieser Gruppe dann die Entscheidung überlassen.

In Stuttgart will man den Hauptbahnhof unter die Erde verlegen. Das wurde – ganz nach dem alten Muster – von oben beschlossen, Top-down. Als dann die Bagger anrückten, gingen Zehntausende auf die Straßen und haben dagegen protestiert. Die Lage ist irgendwann ziemlich eskaliert.

Das wundert mich überhaupt nicht. Ich hatte eine ähnliche Diskussion mit dem belgischen Umweltminister. Er sagte: „Ich weiß genau, was ich gegen den Klimawandel unternehmen müsste. Aber sobald ich das mache, verlieren wir die nächsten Wahlen.“ Ich habe geantwortet: „Da haben Sie etwas Grundlegendes nicht verstanden. Sie müssen diese Entscheidung gar nicht treffen. Die Bürger müssen das tun. Sie präsentieren den Leuten die Alternativen mit den Folgen, die damit verbunden sind. Dann lassen Sie die Bürger bestimmen – und bleiben im Amt.“ Wer heute Top-down regiert, wird abgewählt.

Das heißt: Sie fordern ein Referendum?

Nein, das wäre die falsche Lösung. Für diese Form der direkten Demokratie braucht man nämlich eine gewisse Tradition, wie die Schweizer sie haben. In Belgien und Deutschland funktioniert das nicht. Auch nicht bei den Briten, wie man am Brexit sehen konnte. In den meisten Ländern ist ein Referendum der schlechteste Weg, um Demokratie zu fördern – und der beste, um Entscheidungen zu manipulieren.

Was schlagen Sie stattdessen vor?

Es gibt ein schönes Beispiel, wie so etwas tatsächlich klappen kann. Es stammt aus Texas, dem Ölstaat Nummer eins in den USA. Dort hat man die Bürger befragt, wie die Energiepolitik der großen Städte gestaltet werden soll. Man hat dabei auf eine moderne Methode namens deliberative polling zurückgegriffen, die der Stanford-Professor James Fishkin entwickelt hat. In den acht größten Städten hat man repräsentative Gruppen gebildet, nach denselben Regeln, mit denen man wissenschaftliche Stichproben erstellt, einen Spiegel der Gesellschaft: soundso viele Schwarze, Weiße, Latinos, Männer, Frauen, Gebildete, weniger Gebildete und so weiter. Diese Leute hat man für ein Wochenende zusammengebracht. Während dieser Zeit hat man ihnen so viele objektive Informationen wie nur möglich präsentiert. Über Energiegewinnung, Energieversorgung, die Auswirkungen auf das Steuersystem, die Umwelt, das Leben und was auch immer.

Was geschah dann?

Die Teilnehmer konnten Fragen stellen und in kleinen Gruppen darüber diskutieren. Am Freitag, zum Beginn des Treffens, ließ man sie einen Fragebogen zur Energiepolitik ausfüllen. Am Sonntag wurde dann abgestimmt. Danach gab’s noch einmal denselben Fragebogen.

Mit welchem Ergebnis?

Anfangs war nur ein Drittel der Leute für erneuerbare Energien. Am Sonntag waren es drei Viertel. Heute ist Texas führend auf dem Gebiet der Windenergie. So funktioniert diese Methode. Und wir reden jetzt nicht ausschließlich von extrem gebildeten oder politisierten Personen, sondern über ein repräsentatives Spiegelbild der Gesellschaft. In der Abstimmung saßen sehr viele Menschen aus bildungsfernen Schichten.

Sie meinen: Leute, die bei der Präsidentenwahl für Trump gestimmt haben?

Ganz ohne Zweifel! Das Texas-Beispiel macht etwas deutlich. Die neue Art von Autorität braucht drei Zutaten: gute Informationen, die Möglichkeit, darüber zu reden – und Verantwortung. Man hat den Gruppen nämlich gesagt: Was ihr wählt, wird tatsächlich umgesetzt.

Und das funktioniert?

Natürlich. Der wesentliche Unterschied ist folgender: Die alte Autorität war von oben nach unten strukturiert, sie besaß die Form einer Pyramide. Die neue Autorität dagegen organisiert sich innerhalb eines horizontalen Netzwerks.

Einspruch: In der Politik haben wir noch immer den „Leviathan“, also den übermächtigen Staat, der darauf achtet, dass Regeln und Gesetze eingehalten werden.

Ja, natürlich. Aber dieser Leviathan hat seine Autorität verloren. Er stützt sich nur noch auf Macht.

In Deutschland gibt es den Versuch, diese Autorität wiederherzustellen, nämlich durch den Begriff des „Verfassungspatriotismus“. Kann das funktionieren, wenn kaum einer die Verfassung gelesen hat?

Fest steht, dass wir keine externe Quelle der Autorität mehr haben. Und sehen Sie sich die alten Autoritäten einmal an. Sie alle hatten eine Geschichte, ein Narrativ, das sie legitimiert hat. Diese Geschichten haben etwas gemeinsam: Sie arbeiten mit Segnungen, die weit in der Zukunft liegen. Sie sagen: Du musst heute gehorchen, dann kommst du später ins Paradies. Dieses Muster findet man nicht nur im Christentum, sondern auch im Islam und im Kommunismus. Sogar in der neoliberalen Ideologie.

Und welche Geschichte erzählt die neue Form von Autorität, von der Sie sprechen?

Ich beobachte, dass diese neuen Erzählungen viel beschränkter sind. Es geht immer um ein konkretes gemeinsames Ziel. Etwa um den neuen Bahnhof in Stuttgart oder den Nahverkehr bei mir zu Hause in Gent. Meinetwegen noch um den Klimawandel.

Also um kurz- und mittelfristige Ziele?

Genau. Und um die Frage: Was fangen wir damit an? Wie lösen wir dieses spezifische Problem? Das macht es viel leichter, Leute zusammenzubringen, weil es nicht mehr um Ideologie geht, sondern um praktische Dinge. Bisher haben wir es in der horizontalen Autorität also mit sehr konkreten Narrativen zu tun.

Reden wir über die Welt der Wirtschaft. Sie beschreiben in Ihrem Buch die Geschichte einer brasilianischen Firma namens Semco. Deren Besitzer Ricardo Semler erzählt abenteuerliche Dinge: Seine Mitarbeiter dürfen ihren Chef wählen, sie dürfen entscheiden, wie viel sie verdienen, bekommen eine Menge Urlaub – die Firma ist ziemlich demokratisch organisiert.

Und man sieht, dass diese neue Art der Autorität zu einer viel höheren Produktivität führt. Die Firma verdient mehr Geld. Die Angestellten arbeiten mit größerer Leichtigkeit. Der Krankenstand ist niedriger, und es gibt weniger Fälle von Burnout.

Sie haben vorhin die Felder angesprochen, an denen das Ende der alten Autorität besonders sichtbar wird: die Politik, die Wirtschaft, das Bildungssystem – und die Familien. Was bedeutet Ihre „neue Autorität“ für die Beziehung zwischen den Geschlechtern?

Das Patriarchat ist erledigt, das steht außer Frage. Die Menschheit befindet sich also in einer völlig neuen Situation. Noch in meiner Jugend glaubten die meisten Belgier, eine höhere Schulbildung für Mädchen sei völlig überflüssig. Heute sind 60 Prozent der Studierenden an den europäischen Hochschulen weiblich. Dieser Trend wird sich weiter fortsetzen. Für einige ist das eine bedrohliche Vorstellung. Andere sehen goldene Zeiten auf uns zukommen. Ich glaube aber, dass beide Sichtweisen auf einem falschen Frauenbild beruhen. Denn nach allem, was ich über Sozialpsychologie weiß, ist es nicht so wichtig, ob eine Frau den Laden schmeißt oder ein Mann. Das wird wenig verändern. Es hängt alles an den Strukturen einer Organisation. Top-down oder Bottom-up – das ist entscheidend.

Paul Verhaeghe lehrt als klinischer Psychologe und Psychoanalytiker an der Universität Gent. Der international renommierte Freud- und Lacanspezialist ist Autor mehrerer Bücher. Mit seinem streitbaren Buch Und ich? (2013) schrieb er eine psychologisch fundierte Kritik des Neoliberalismus.

Das aktuelle Buch von Paul Verhaeghe Autorität und Verantwortung ist 2016 bei Kunstmann erschienen. Es handelt vom Verschwinden partriarchaler Strukturen und beschreibt neue, horizontal organisierte Formen von Autorität.

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 4/2017: Lebenskunst