Nicht nur sauber, sondern rein

Reinheit bedeutet für uns mehr als Freiheit von Schmutz. Der Begriff berührt Vorstellungen von Sittlichkeit, die uns prägen und unbewusst beeinflussen.

Bild zeigt einen leeren Bilderrahmen vor einer weißen Wand
Die Metapher der Reinheit ist nach wie vor sehr verbreitet. © Getty Images

Nicht nur sauber, sondern rein“ – mit diesem Spruch bewarb die „Klempnerin Klementine“ 18 Jahre lang ein Waschmittel und wurde darüber zu einer Werbeikone. Die – natürlich weiße – Latzhose, die sie bei ihren Auftritten trug, wurde kurzzeitig sogar im Haus der deutschen Geschichte ausgestellt. Warum aber war ihr Werbespruch so erfolgreich? Kann „rein“ eine sinnvolle Steigerung von „sauber“ sein? Das Worttransportiert einen Mehrwert, eine Sinnaufladung, die auch die sauberste Wäsche für sich nicht hergibt.…

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Das Worttransportiert einen Mehrwert, eine Sinnaufladung, die auch die sauberste Wäsche für sich nicht hergibt. Sauber ist einfach nur sauber. „Rein“ hebt uns in eine höhere Sphäre und verheißt ein besseres Leben. Der Begriff der „Reinheit“ mitsamt dem zugehörigen Wortfeld zählt zu den wichtigsten Hochwertwörtern unserer Sprache, ruft Vorstellungen eines gelingenden, auch moralisch richtigen Lebens auf den Plan.

Wenn jemand sich die Hände gewaschen hat, sind sie danach eben einfach nur sauber. Aber sich von etwas reinzuwaschen – darin steckt die Idee von Schuld und dem Versuch, sie von sich abzutun. Wenn Pontius Pilatus sich, wie es im Matthäusevangelium steht, die Hände wäscht, nachdem das Volk den Tod Jesu gefordert hat, will er mit dieser symbolischen Handlung nicht sauber werden, sondern rein. Hier sieht man auch, dass es bei Reinheit ursprünglich um eine religiöse Dimension geht, um Vorstellungen des Heil- und Gottgefälligwerdens sowie der Überwindung von Schuld. Hinzu kommen männlich dominierte Vorstellungen von Geschlechterrollen, in denen der weibliche Körper hochambivalent ebenso als Bedrohung wie als Verkörperung von Reinheit stilisiert wird.

Ist man erst einmal darauf aufmerksam geworden, findet man die Spuren der Reinheitsmetapher fast überall und vielleicht am häufigsten in der Werbung. Mineralwasser beispielsweise wird niemals einfach als „sauber“ im Sinne von hygienisch einwandfrei vermarktet, sondern eben als rein, gerne kombiniert mit dem weiteren Hochwertwort „bio“, was im Falle von Wasser besonders unsinnig erscheint.

Wer nun reines Wasser trinkt, und zwar möglichst viel davon, der wird schließlich selbst rein, scheint die Werbung zu suggerieren. Pflegeprodukte und Kosmetika versprechen uns reine Haut, clean eating, Detox- und Fastenkuren sind eher für die innere Reinheit zuständig. Diese soll erreicht werden, indem jeweils das Richtige zu sich genommen oder weggelassen wird. Dabei wird klar unterschieden zwischen guten, also reinen, und schlechten, unreinen Lebensmitteln. Hier ist nicht selten ein deutlicher Dogmatismus mit im Spiel: Die Anhänger der jeweils einzig wahren Diät verkörpern die richtige Art zu leben und fühlen sich erhaben über die unerleuchtete Mehrheit der Allesfresser.

Weg mit der Unordnung!

Das Reinheitsversprechen ist hier zwar nur eine Komponente dessen, um was es geht, aber eben diejenige, die am stärksten mit positiven Gefühlen aufgeladen ist. Auf fast magische Weise scheint die Vokabel „rein“ – werbesprachlich auch oft in der englischen Variante pure – das Unordentliche und Unsaubere unseres täglichen Lebens wegfiltern zu können, und gerne lassen wir uns auf die Botschaft ein, die uns zu erheben verspricht.

Das kann allerdings auch nach hinten losgehen, wie kürzlich im Falle einer Werbung für ein neu auf den Markt gebrachtes Deodorant. Sie zeigt die Rückansicht eines Models, das in einen weißen Bademantel gehüllt ist, und dazu den Schriftzug white is purity. Damit löste die Firma einen Proteststurm im Internet aus, weil das begreiflicherweise als rassistisch empfunden wurde. Der Fall ist auch deshalb so interessant, weil er deutlich macht, dass die Rede von Reinheit immer mehr oder weniger deutlich einer binären Logik folgt: Das Reine braucht das Unreine, von dem es sich abgrenzt und das es symbolisch ausgrenzt. Und wenn die Farbe Weiß in der Werbung für Reinheit steht, ist es zur Abwertung des Schwarzen eben nicht mehr weit.

Reinheitsrhetorik neigt dazu, die Welt in zwei Hälften zu zerteilen: eine gute, gesunde und saubere, der man zugehörig sein will, und eine schlechte, kranke und unsaubere, die man ablehnt. Wer rein sein will, steht eigentlich immer im Kampf gegen das Unreine. Auch für Ideologen und Demagogen jeder Art ist die Reinheitsmetapher deshalb unentbehrlich. Wohin das führen kann, zeigt in schlimmster Form die Besessenheit der Nationalsozialisten von der Reinheit des deutschen Volkes, als deren Gegenstück die als Schmutz, Krankheit und Ungeziefer dehumanisierten Juden herhalten mussten.

Die Reinen gelten als die Auserwählten, denen das Heil zuteil wird 

Es ist aus diesem Grund eine gute Idee, sich immer wieder deutlich die Gefahren vor Augen zu führen, die in Reinheitsvorstellungen liegen: ihre Ideologisierbarkeit durch Fanatiker ebenso wie ihre oft fragwürdige Funktion, in einer unübersichtlichen Welt klare Oppositionen zu schaffen und damit Komplexität zu reduzieren. Reinheit und Fanatismus, Reinheit und Entmenschlichung Andersdenkender, das ging in der Geschichte und geht auch noch in der Gegenwart leicht zusammen. Die Reinen sind die Auserwählten, denen das Heil zuteilwird, während der unreine Rest der Menschheit zugrunde gehen muss. Fundamentalistische Religionen leben ganz aus diesem Gegensatz heraus.

Die Bedeutung ursprünglich religiöser Reinheitsvorstellungen kann sich aber nicht in dieser menschenfeindlichen Logik erschöpfen. Es bliebe dann nämlich unverständlich, warum Reinheit in der Alltagskultur nichtfundamentalistischer, oft religionsferner moderner Menschen immer noch eine so wichtige Rolle spielt. Denn genau das ist der bemerkenswerte Befund: Vermutlich gibt es in säkularisierten Gesellschaften nur noch wenige Menschen, für die Reinheit weiterhin eine starke religiöse Bedeutung hat. Das hat aber keineswegs dazu geführt, dass der Sinn von „rein“ nun nüchtern auf den von „sauber“ zusammengeschrumpft wäre. Im Gegenteil: Die Aufladung von „Reinheit“ als Wert ist so stark wie eh und je; sie hat unter dem Bedeutungsverlust religiöser Reinheit keineswegs gelitten, sondern ist in gewandelter Form lebendig geblieben.

Die Sehnsucht nach Reinheit ist ein menschliches Grundbedürnis

Es ist schwer, zu übersehen, wie viele Menschen sich immer noch von Bildern der Reinheit emotional berühren und beispielsweise in Konsumentscheidungen beeinflussen lassen. Viele suchen auch mithilfe einer Diät oder durch Fasten nach einer Art von Reinigung, die keineswegs nur als körperliche Entschlackung verstanden werden kann. Und stets bleiben Menschen anfällig für Weltanschauungen und Ideologien, die ihnen ein ganz anderes, ein von den Schlacken des Unwesentlichen gereinigtes Leben versprechen. Es spricht also viel dafür, dass es ein menschliches Grundbedürfnis gibt, Reinheitsmetaphern zu artikulieren. Dieses Bedürfnis hat in den meisten Kulturen zunächst einen religiösen Ausdruck gefunden, aber es überlebt offensichtlich alle Säkularisierungsprozesse. Vermutlich erzeugt auch die wachsende Unübersichtlichkeit pluralistischer Gesellschaften einen starken Wunsch nach Klarheit und Einfachheit, der sich wiederum mit Reinheitsbildern verbinden kann. Clean your life heißt das passende Fitnessprogramm dazu.

Aber hier ist Differenzierung nötig, denn das Bedürfnis nach Reinheit kann sehr unterschiedliche Formen annehmen – solche, die uns helfen, persönlich zu reifen und ein gelungenes Leben zu führen, und solche, die das Gegenteil bewirken. Das größte Problem, das Reinheitsmetaphern mit sich führen, ist immer die Abhängigkeit von ihrem Gegenteil und damit der drohende Radikalismus, der Krampf eines dauernden Kampfes gegen das als unrein Abgewertete. Das gilt, wie schon betont, am deutlichsten für alle Reinheitsideologien, die ihre Kraft aus der Ablehnung des angeblich Unreinen beziehen. Es kann aber auch alltäglichere Formen annehmen, etwa solche, die sich in rigide eingehaltenen Diätvorschriften äußern. Die Logik der Reinheit ist eben zutiefst doppeldeutig. Sie kann uns dazu bringen, einem simplen und letztlich unmenschlichen Kontrast zu verfallen, der alle Zwischentöne ausschließt, das Unordentliche und Unreine des Lebens verdrängt und seine Anhänger letztlich zu Fanatikern macht. Aber Reinheit kann auch etwas symbolisieren, das wir dringender denn je nötig haben, wenn wir all den fremdgesteuerten Anreizen des modernen Lebens entkommen wollen: Integrität.

Alte Denkmuster in neuem Gewand

Verdächtig sind Reinheitsmetaphern immer dann, wenn sie von einem leibfeindlichen Dualismus getragen werden. Im westlichen Denken hat das bekanntlich eine lange Tradition. Der Leib als Gefängnis der Seele, die „Torheit des Leibes“, das kennen wir zum Beispiel von Platon, der Sokrates in seinem Dialog Phaidon so reden lässt, und viele christliche Theologen haben diese Denkweise aufgegriffen. Nun könnte man meinen, das sei alles lange her und wir lebten mittlerweile in einer Welt, in der das Körperliche und Materielle eher überbetont wird. Aber der Schein trügt, denn unsere Leiblichkeit wird noch immer als ambivalent erfahren, ist sie doch nicht nur die Quelle von Jugend, Schönheit und Gesundheit, sondern ebenso von Alter, Krankheit und Tod.

Die Versuchung, sich von der biologischen Seite unserer Existenz reinigen zu wollen, zeigt sich heutzutage in neuen Gewändern, die bei genauerem Hinsehen aus uralten Garnen gewebt sind. Das Alte sind die Denkmuster des platonischen Dualismus, das Neue besteht darin, dass das Heilsversprechen nicht mehr an die Schau der Ideen gebunden wird, sondern an die Technik. Computerwissenschaft, Robotik und künstliche Intelligenz sollen uns vom Imperfekten der leiblichen Existenz reinigen und erlösen. Ray Kurzweil, der technische Direktor von Google, ist einer der Vorreiter dieser auch als „Transhumanismus“ bekannten Richtung (siehe Heft 8/2016: Das Ende der Menschheit, so wie wir sie kennen). Bereits 1999 hat er ein Buch mit dem Titel Homo S@piens veröffentlicht, in dem es als Utopie dargestellt wird, dass wir unsere menschliche Identität immer mehr vom biologischen Organismus ablösen, um uns schließlich ganz in Software zu verwandeln. Gegen Ende des 21. Jahrhunderts, so Kurzweil, wird es Sterblichkeit in dem uns bekannten Sinn nicht mehr geben. Ob wir das glauben sollten?

Die Technik soll uns von unserer biologischen Existenz befreien

Eher scheint es, dass sich in dem technologischen Projekt einer Überwindung der biologischen Existenz gefährliche, lebensfeindliche Reinheitsfantasien geltend machen. Der menschliche Körper in seiner Störanfälligkeit und Endlichkeit erscheint dann als etwas Veraltetes und Entbehrliches, als der „biologische Hautsack“ (Andy Clark), in dem unsere eigentliche Identität nur vorübergehend zu Hause ist. So früh wie möglich, so propagieren es die transhumanistischen Denker, sollten wir deshalb in eine „neue Wohnung“ umziehen, in das aseptische Paradies künstlichen Lebens, robotischer Körperlichkeit und sogar technisch erzeugter Unsterblichkeit.

Solche Fantasien, verbunden mit enormer technischer Intelligenz und wirtschaftlichem Machtstreben, sind im Silicon Valley besonders verbreitet. Es steckt in ihnen die alte platonische Sehnsucht nach einer Reinigung unseres eigentlichen Wesens von all den unappetitlichen Begleiterscheinungen unserer biologischen Existenz. Der neue, zum Cyborg gewordene Mensch altert und verfällt nicht, er nimmt nichts mehr zu sich und scheidet auch nichts mehr aus, er ist, um mit einem Bild aus der Bibel zu sprechen, den „alten Adam“ vermeintlich endlich losgeworden.

Wir brauchen lebensfreundlichere Vorstellungen von Reinheit

Derartige quasireligiöse Utopien übersehen, dass Menschen „mit Haut und Haaren“, wie man nicht ohne Grund sagt, Organismen sind. Unser Leib ist mehr als eine provisorische Verkörperung des Selbst, die wir auch hinter uns lassen könnten. Wir können zwar danach streben, ihn zu reinigen, aber uns von ihm zu reinigen – damit schaffen wir uns selbst ab. Die platonische oder, in der modernen Version, technologische Suche nach dem leibfreien Geist, der maschinenlesbaren Identität eines unsterblichen Ichs, ist eine lebensfeindliche und widersprüchliche Reinheitsutopie. Es wird also höchste Zeit, sich nach besseren, lebensfreundlicheren Reinheitsbildern umzusehen. Sie müssten die so unvergängliche, offenbar absolute Metapher der Reinheit aufgreifen, ohne einen Dualismus und die Abwertung des Körpers einzuführen.

Solche Deutungen lassen sich in den verschiedensten Religionen und Weltanschauungen ausfindig machen, auch wenn die Vorstellung ritueller oder sexueller Reinheit meist dominiert. Ihr gemeinsamer Nenner besteht darin, dass sie den Menschen als leibseelische Einheit im Blick haben. Reinheitsmetaphern verbinden sich dann mit Bedeutungen wie Lauterkeit, Sammlung aufs Wesentliche, Ganzheit, Klarheit des Blicks, Überwindung von Zerstreuung, Heilwerden etc. Damit werden zentrale Aspekte eines gelungenen Lebens in Erinnerung gebracht.

Es ist schon merkwürdig: Dualistische Weltbilder, sexualfeindliche Denkmuster, rassistische und religiöse Reinheitsfanatiker haben entscheidend dazu beigetragen, die Metapher gründlich zu ruinieren. Reinheit, so sollte man meinen, geht eigentlich gar nicht mehr. Aber absolute Metaphern wird man nicht so leicht los. Werbeagenturen und ideologische Fanatiker wissen das sehr gut. Es wäre deshalb besser, Reinheitsvorstellungen nicht ihren vielen falschen Freunden zu überlassen. Integrität zu verkörpern, klare Linie zu zeigen, mit sich und anderen „im Reinen“ zu sein – solche Vorstellungen kommen ohne die dunkle Seite der Reinheit aus, ohne Dualismus und Abwertung. Wir können auf sie nicht verzichten.

Matthias Jung, Jahrgang 1960, ist seit 2010 Professor für philosophische Ethik und Rechtsphilosophie am Institut für Philosophie der Universität Koblenz-Landau, Campus Koblenz.

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 5/2018: Akzeptieren, wie es ist