Darf man das so sagen?

In Deutschland hat jeder das Recht, seine Meinung frei zu äußern. So steht es im Grundgesetz. Tatsächlich aber sind die Dinge komplizierter.

Illustration zeigt Menschen, die sprechen
Redefreiheit: Was man sagen darf und was nicht, ist im Grundgesetz geregelt. © Jan Rieckhoff

Es ist immer derselbe Witz. Fernseh­entertainer Jan Böhmermann blickt in die Kamera und sagt mit sächsischem Akzent: „Das wird man ja wohl noch sagen dürfen.“ Und schon wissen alle: Aha, jetzt geht’s wieder um die Nazis – oder zumindest um AfD-Sympathisanten. Ein sicherer Lacher in seiner Sendung Neo Magazin Royale. Tatsächlich ist die Sache aber viel ernster. Folgt man dem jüngsten Freiheitsindex des John-Stuart-Mill-Instituts, glauben nur 63 Prozent der Deutschen, dass man in Deutschland „seine politische…

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John-Stuart-Mill-Instituts, glauben nur 63 Prozent der Deutschen, dass man in Deutschland „seine politische Meinung frei sagen kann“. Mehr als ein Drittel der Befragten ist sich da nicht mehr so sicher.

Für all das gibt es Gründe. Böhmermanns Witz funktioniert, weil Rassisten wirklich überdurchschnittlich oft „Meinungsfreiheit!“ schreien. Das haben Psychologen der Uni Kansas kürzlich für die USA nachgewiesen. Doch natürlich ist das noch nicht die ganze Geschichte. Millionen von Deutschen wissen nicht mehr, was man noch sagen darf und was nicht. Die allermeisten davon sind weder Rassisten noch Nazis. Wie steht es also um die Redefreiheit bei uns? Sechs Fragen und Antworten zu einem umstrittenen Thema.

1. Was darf man in Deutschland eigentlich sagen – und was nicht?

„Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten und sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten.“ So beginnt Artikel 5 unseres Grundgesetzes. Der Staat unterscheidet nicht zwischen klugen und bescheuerten Meinungen. Nicht zwischen Alt und Jung. Nicht zwischen Links und Rechts. Er sperrt – anders als in autoritären Systemen – niemanden dafür ein, dass er eine unbequeme oder abweichende Meinung äußert. Darf man in Deutschland also sagen, was man will? Natürlich nicht. Denn manchmal kollidiert das, was man sagt, mit anderen Rechtsprinzipien. So heißt es in Artikel 1 des Grundgesetzes: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Dieses Grundrecht kann ich mit einer Meinungsäußerung verletzen. Etwa indem ich jemanden herabsetze und beleidige. So schrieb vor vielen Jahren ein Kollege des Stern über eine TV-Moderatorin, sie sehe aus wie eine „ausgemolkene Ziege, bei deren Anblick den Zuschauern die Milch sauer wird“. Das war eine Meinungsäußerung. Aber eine, die darauf abzielte, die Würde der Fernsehmoderatorin zu verletzen – das Gericht entschied auf eine hohe Geldstrafe. Dabei spielte es übrigens keine Rolle, ob die Ansagerin wirklich wie eine Ziege aussah oder nicht. „Ich darf meinen Nachbarn nicht als Arschloch bezeichnen, selbst wenn er ein Arschloch ist. Ich darf sagen, dass ich ihn nicht mag. Aber beschimpfen darf ich ihn nicht“, erklärt der Jurist Volker Kitz, Autor des Buches Meinungsfreiheit! Demokratie für Fortgeschrittene. Auch wenn die meisten keine Anzeige erstatten, wenn sie beleidigt werden: „Hurensohn“ ist als Meinungsäußerung ebenso wenig okay wie „dreckige Systemnutte“. Zu beidem gibt es entsprechende Gerichtsurteile.

Die zweite Grenze der Redefreiheit ist dort erreicht, wo ich mit einer Meinungsäußerung den öffentlichen Frieden störe. Als in Deutschland die Lokführer streikten, sagte ein Nutzer auf YouTube: „Vergasen sollte man die Mistviecher“ – und wurde wegen Volksverhetzung verurteilt. Es setzte acht Monate auf Bewährung plus 15 000 Euro Geldstrafe. Volker Kitz erklärt: „Der Mann hätte zum Beispiel sagen dürfen: ,Ich finde es zum Kotzen, dass Ihr uns am Bahnsteig stehen lasst, nur weil Ihr mehr Geld wollt!‘ Aber man darf nicht zu Gewalttaten gegen bestimmte Personengruppen aufrufen.“ Jemanden zu hassen und das auch zu äußern, verstößt noch nicht gegen deutsches Recht. Aber andere zu Hass anzustacheln, zu Gewalt oder Willkürmaßnahmen aufzurufen, überschreitet eine Grenze.

Ebenfalls verboten ist das, was Juristen als „Verleumdung“ oder „üble Nachrede“ bezeichnen. Wer in der Nachbarschaft herumerzählt: „Der Herr Mustermann schlägt regelmäßig seine Frau“, macht sich strafbar, wenn Herr Mustermann in Wahrheit nie gegen seine Frau gewalttätig geworden ist. „Denn dabei“, sagt Volker Kitz, „handelt es sich nicht um eine Meinung. Sondern um eine Tatsachenbehauptung. Die ist überprüfbar und kann wahr oder falsch sein.“ Auch das ist eine wichtige Unterscheidung: Das Gebot der Meinungsfreiheit schützt Meinungen, keine Tatsachenbehauptungen. Die aktuelle Diskussion um „Fake News“ ist zwar wichtig, hat aber mit dem Prinzip Meinungsfreiheit im engeren Sinn nichts zu tun (siehe: „Wie verbreitet man ein Gerücht?“, Psychologie Heute 8/2017).

2. Warum gibt es überhaupt Meinungsfreiheit?

Die einflussreichste Antwort auf diese Frage ist fast 160 Jahre alt. Damals schrieb der englische Philosoph John Stuart Mill seinen Essay On liberty. Mill war der ziemlich radikalen Ansicht, dass die „Gemeinschaft aller“ nur unter einer einzigen Bedingung berechtigt ist, die Freiheit eines Einzelnen zu beschränken. Nämlich aus „Selbstschutz“. Anders gesagt: Jeder kann tun und lassen, was immer er will, solange er keinem anderen damit schadet.

In Bezug auf die Redefreiheit ging Mill sogar noch einen Schritt weiter. Er glaubte: Man muss unbedingt mit Leuten diskutieren, die einem widersprechen. Wer das nicht tut, hat im Grunde keine Ahnung, wovon er redet. „Wer nur seine Seite eines Falles kennt, weiß wenig davon. (…) Wenn er selbst nicht fähig ist, die Argumente der Gegenseite zu entkräften, wenn er sie nicht einmal kennt, hat er keinen Grund, eine Seite zu bevorzugen.“

Heute würde John Stuart Mill alle Träger von „Refugees welcome“-Shirts dazu auffordern, aktiv die Gesellschaft von AfD-Anhängern zu suchen und mit ihnen zu debattieren, statt sie zu meiden und zu beschimpfen. Von den AfD-Wählern würde er umgekehrt natürlich dasselbe verlangen.

Fazit: Meinungsfreiheit ist wichtig für das Freiheitsstreben des Einzelnen. Aber auch als Gesellschaft insgesamt kommen wir nur dann zu klugen Entscheidungen, wenn jeder seine Meinung äußern kann. Der Wettstreit der besten Argumente zum Wohle aller wird erst durch die Redefreiheit möglich.

3. Warum glauben so viele, ihre Meinung nicht äußern zu können?

„An den Gesetzen und der Rechtsprechung liegt das nicht“, sagt Volker Kitz. „Niemand wirft mich in Deutschland wegen meiner Meinung ins Gefängnis, ich werde auch nicht ausgepeitscht, wie das zum Beispiel in Saudi-Arabien der Fall ist.“

Was in Deutschland und anderswo hingegen vielen zu schaffen macht, ist das, was John Stuart Mill die „Tyrannei der öffentlichen Meinung“ nennt: Wer von dem abweicht, was die Mehrheit glaubt, hat unter Umständen kein lustiges Leben.

Noch in den 1980er Jahren waren es in der Bundesrepublik eher die Linken, die das Gefühl hatten, ihre Ansichten nicht öffentlich äußern zu dürfen. Auf ihren Ladas klebte damals der nicht ganz unwitzige Aufkleber: „Ein kluges Wort, schon ist man Kommunist.“

Heute kommen die Klagen eher von Rechts. Im Januar 2018 musste sich der Chefredakteur eines Fußballmagazins öffentlich dafür entschuldigen, dass er die wiederholten Eskapaden eines Bundesligaspielers als „Affentheater“ bezeichnet hatte. Der Vater des Spielers ist Afrikaner, manche Fans und auch der Spieler selbst witterten deshalb eine rassistische Anspielung. In den sozialen Medien murrten daraufhin viele, dass man in Deutschland „jeden Tag weniger Redefreiheit“ erlebe.

Schuld daran sei vor allem die übertriebene „Political Correctness“ unserer Zeit. Was uns zwanglos zu Punkt vier bringt.

4. Gefährdet Political Correctness die Meinungsfreiheit?

Spätestens hier wird’s knifflig. Denn bereits der Begriff Political Correctness ist vergiftet. Wer ihn benutzt, signalisiert, dass er das Phänomen dahinter doof und verlogen findet. Manche sagen: Sprache kann Menschen diskriminieren, und das wollen wir nicht. Die anderen fordern: Lass mich gefälligst reden, wie mir der Schnabel gewachsen ist.

Doch natürlich sind diese beiden Positionen noch nicht alles, was es dazu zu sagen gibt. Das beweist der aktuelle Kreuzzug von Jonathan Haidt. Haidt ist einer der renommiertesten Moralpsychologen der Welt. Seine Arbeiten zeigen unter anderem, dass unsere politische Haltung zumindest teilweise durch unsere Persönlichkeitsmerkmale vorbestimmt wird. Aktuell sorgt Haidt sich vor allem um die Kultur an den amerikanischen Hochschulen; seine Argumentation läuft in etwa so: Es ist die Aufgabe einer Uni, die Wahrheit zu suchen. Diese Wahrheit erkennt man nur in einer kontroversen Debatte – denn der Einzelne wird immer parteiisch sein und deshalb nie zu einem wirklich objektiven Urteil gelangen (siehe Kasten unten).

„So eine Diskussion gibt es aber nicht, wenn eh alle einer Meinung sind“, mahnt Haidt. Doch genau das scheint an den amerikanischen Hochschulen zunehmend der Fall zu sein. Noch in den 1960er Jahren war die Lage so: Vier von fünf Psychologieprofessoren sahen sich politisch eher links der Mitte, einer von fünf war eher konservativ – vier Demokraten, ein Republikaner. „Die Uni hatte schon immer eine Tendenz nach links. Ich halte das nicht für problematisch“, sagt Haidt. Heute sieht die Sache jedoch anders aus: Das Verhältnis zwischen Linksliberalen und Konservativen liegt laut Haidts Studien bei 14:1. In den Geisteswissenschaften ist das Missverhältnis sogar noch extremer. „Dadurch schwindet die Fähigkeit zu kritischem Denken“, sagt Jonathan Haidt. Konservative Positionen seien an der Uni kaum noch vertreten. Statt einer offenen Diskussion gebe es nur noch Meinungen, die zwar lautstark vertreten, aber nicht mehr solide begründet würden.

Noch schlimmer: Haidt hat an den US-Unis ein paar „heilige“ Thesen entdeckt, die niemand mehr infrage stellen dürfe. Etwa dass Frauen, Farbige und Homosexuelle grundsätzlich Opfer seien. Was geschieht, wenn jemand diese heiligen Thesen missachtet, zeigte sich, so erzählt Haidt, in den 2000er Jahren an der Harvard University. Damals zitierte der Unipräsident Lawrence Summers eine Studie, in der es um Unterschiede in der IQ-Verteilung bei Männern und Frauen ging. Die Zahlen zeigten, vereinfacht gesagt, dass es deutlich mehr sehr dumme Männer als sehr dumme Frauen gibt. Allerdings fanden sich dieselben Unterschiede auch bei den extrem Intelligenten: Hier waren die Männer ebenfalls überrepräsentiert. Summers hielt das für eine (aber nicht die einzige) Ursache dafür, dass an den Eliteuniversitäten in den Naturwissenschaften mehr Männer als Frauen studieren. Allerdings hatte Summers mit dieser These gegen eine der „heiligen“ Thesen der modernen Hochschule verstoßen. Wenige Monate später war er seinen Job los.

Diese und ähnliche Geschichten bringen Jonathan Haidt auf die Barrikaden. Er sagt: Universitäten müssen sich entscheiden, ob sie weiter die Wahrheit suchen oder lieber soziale Gerechtigkeit herstellen wollen. „Sie können nicht beides zugleich.“ Haidt hat inzwischen die Heterodox Academy gegründet, eine Vereinigung von Akademikern, die für eine neue politische Vielfalt in den Hochschulen kämpft, für eine bessere Streitkultur an den Universitäten. Nicht weil Haidt selbst besonders konservativ wäre. Sondern weil Meinungsfreiheit nur funktioniert, wo Meinungsvielfalt möglich ist.

5. Ist das Internet an allem schuld?

Fest steht: Über das Netz ist jeder von uns mit Milliarden anderer Menschen rund um den Globus verbunden. „Noch nie in der Menschheitsgeschichte gab es solche Möglichkeiten zur freien Meinungsäußerung“, schreibt der britische Historiker Timothy Garton Ash. „Und noch nie waren die Nachteile der schrankenlosen freien Meinungsäußerung – Todesdrohungen, pädophile Bilder, ganze Schlammfluten von Beschimpfungen und Beleidigungen – so leicht über alle Grenzen zu verbreiten.“ Die Bedingungen für die freie Rede haben sich also fundamental verändert. Was, so fragt sich Ash, würde John Stuart Mill angesichts all dieser Veränderungen schreiben? Das Ergebnis hat Ash in zehn zentralen Geboten zusammengefasst (siehe Kasten unten).

Die Kommunikationswissenschaftlerin Elisabeth Noelle-Neumann sprach in den 1970er Jahren vom Effekt der „Schweigespirale“: Man behält eine Ansicht für sich, sobald man sich damit in der Minderheit wähnt. Und weil das viele verstummen lässt, glaubt man wiederum, sich mit seiner Meinung in der Minderheit zu befinden – der Teufelskreis schließt sich. Heute jedoch sorgen die Algorithmen der sozialen Medien dafür, dass jeder Teilnehmer vor allem die Beiträge von Gleichgesinnten zu sehen bekommt. Selbst eine Minderheitsmeinung sieht auf Facebook aus, als sei sie der einzig vernünftige Standpunkt auf Gottes weiter Erde. Die Folge: Es werden noch mehr solche Meinungen geäußert – und zwar jeweils mit einem noch stärkeren Gefühl, damit im Recht zu sein. Statt mehr Diskussion sorgt das Netz nur für mehr Rechthaberei und womöglich: für mehr Hass.

Dagegen gilt in Deutschland seit dem 1. Januar 2018 das „Netzwerkdurchsetzungsgesetz“. Es verpflichtet die Betreiber sozialer Netzwerke (etwa Face­book und Twitter), offensichtlich rechtswidrige Inhalte schnell von ihren Plattformen zu löschen. Tun sie das nicht, müssen sie mit saftigen Geldstrafen rechnen. Das Gesetz ist umstritten. Es führt in der Praxis dazu, dass auch Beiträge gelöscht werden, die rechtlich in Ordnung sind. Menschen neigen dazu, solche Dinge persönlich zu nehmen. Gut möglich also, dass bei der nächsten Umfrage des John-Stuart-Mill-Instituts noch mehr Menschen an der Meinungsfreiheit in Deutschland zweifeln.

6. Was tun?

Timothy Garton Ash hat drei Gruppen von Akteuren im Spiel um die Meinungsfreiheit ausgemacht: Hunde, Katzen und Mäuse. Als Hunde bezeichnet er die Nationalstaaten, als Katzen die mächtigen Internetkonzerne. Und dann sind da natürlich noch wir alle, die kleinen Internetnutzer – die Mäuse. Was können wir als „Mäuse“ tun, um die Meinungsfreiheit zu schützen?

Darauf hat Volker Kitz ein paar ebenso einfache wie überzeugende Antworten. Zuerst einmal sollten wir uns weniger darüber wundern, dass andere Menschen eine andere Meinung haben als wir selbst. Nicht jeder, der uns widerspricht, ist deshalb gleich verrückt, böse oder dumm. Im zweiten Schritt rät Kitz uns allen, ein bisschen weniger empfindlich zu sein. Ruhig durchatmen. Daran denken, dass niemand immer recht hat – nicht einmal wir selbst. Und dass eine Meinung gerade dadurch gekennzeichnet ist, dass sie subjektiv ist – also niemals „richtig“ oder „falsch“. Um Meinungsunterschiede besser aushalten zu können, empfiehlt er einen simplen Trick: Man konzentriert sich einfach auf das, was man mit seinem Gegenüber gemeinsam hat.

Dann geschieht nämlich das, was Psychologen als „Ähnlichkeitseffekt“ bezeichnen. „Dieser Effekt sagt: Ich liebe andere Menschen, die so ähnlich sind wie ich, mit denen ich Ähnlichkeiten entdecke“, erklärt Kitz. „Das können ganz banale Sachen sein, etwa dass man kleine Kinder hat, gerne Käsespätzle isst oder dieselbe Sportart betreibt.“ Kitz ist überzeugt: Würden wir stärker nach solchen Gemeinsamkeiten suchen, würden wir einander besser verstehen – und könnten auch viel leichter damit leben, dass unser Gegenüber zum Beispiel über Zuwanderungs- oder Flüchtlingspolitik Meinungen vertritt, die unserer eigenen Haltung zuwiderlaufen.

Verständnis und Offenheit für den politisch Andersdenkenden ist das eine. Das andere ist das, was der Philosoph Karl Popper 1945 in seinem Buch Die offene Gesellschaft und ihre Feinde geschrieben hat: „Im Namen der Toleranz sollten wir uns das Recht vorbehalten, die Intoleranz nicht zu tolerieren.“ Wer zu Gewalt gegen ganze Bevölkerungsgruppen aufruft, wer Verleumdungen in die Welt setzt, wer andere bewusst herabwürdigt, der verstößt gegen die Gesetze unseres Landes und begeht eine Straftat. „Ich halte es für wichtig, solche Straftaten anzuzeigen“, sagt Volker Kitz. „Dass Facebook und Twitter solche Beiträge schnell löschen, ist wichtig. Aber es ist sicherlich wirkungsvoller, wenn Menschen, die so etwas posten, auch mal Besuch von der Polizei bekommen.“ Timothy Garton Ash bezeichnet diese Haltung als „robuste Zivilität“: Toleranz gegenüber Andersdenkenden, aber Widerstand gegen Feinde der demokratischen Freiheit.

Eine solche Haltung ist nicht bequem, weder für einen selbst noch für alle Mitmenschen. Man wird manchmal, um die Meinungsfreiheit zu schützen, seine Stimme erheben und sich streiten. Vielleicht geht es in der heutigen Debatte also gar nicht um das, was man sagen darf. Sondern eher um das, was man manchmal sagen muss.

Ich mach mir die Welt, wie sie mir gefällt

Unser Denken bleibt von persönlichen Wünschen nie unbeeinflusst. Und dieser Effekt wirkt sogar auf so fundamentale Prozesse wie unsere Wahrnehmung. Ein klassisches Experiment zu diesem Phänomen des motivated reasoning geht so: Man setzt seine Versuchspersonen vor einen Monitor, auf dem nacheinander verschiedene Zeichen und Gegenstände auftauchen. Man sagt: „Drück diesen Knopf, sobald ein Buchstabe auftaucht. Schaffst du das innerhalb einer halben Sekunde, bekommst du je fünf Cent als Belohnung.“ Der zweiten Gruppe gibt man dieselbe Aufgabe, allerdings nicht für Buchstaben, sondern für Zahlen. Nun präsentiert man auf dem Monitor manchmal auch Symbole, die sowohl Zahl als auch Buchstabe sein könnten. Im Experiment zeigt sich: Wer für Buchstaben bezahlt wird, erkennt darin einen solchen. Wer für Zahlen belohnt wird, entdeckt Ziffern. Mit anderen Worten: Sobald eine Sache knifflig wird, sehen wir genau das, was wir sehen wollen. Unser Denken ist von Interessen geleitet und niemals wirklich neutral oder objektiv.

Zehn Gebote der Redefreiheit

Der britische Historiker Timothy Garton Ash fasst die Ergebnisse seiner Analysen zur Redefreiheit in diesen zehn Sätzen zusammen:

1. Wir – alle Menschen – müssen in der Lage und befähigt sein, frei unsere Meinung zu äußern und ohne Rücksicht auf Grenzen Informationen und Ideen zu suchen, zu empfangen und mitzuteilen.

2. Weder drohen wir mit Gewalt, noch akzeptieren wir gewaltsame Einschüchterung.

3. Wir nutzen jede Chance, Wissen zu verbreiten, und tolerieren hierbei keine Tabus.

4. Wir benötigen unzensierte, vielfältige und vertrauenswürdige Medien, um gut informiert Entscheidungen zu treffen und vollständig am öffentlichen Leben teilzuhaben.

5. Wir sprechen offen und mit robuster Zivilität über alle Arten von Unterschieden zwischen Menschen.

6. Wir respektieren alle Gläubigen, aber nicht unbedingt alle Glaubensinhalte.

7. Wir sollten unsere Privatsphäre schützen und Rufschädigungen entgegentreten können. Jedoch sollten wir auch Einschränkungen der Privatsphäre akzeptieren, sofern dies im öffentlichen Interesse ist.

8. Wir müssen ermächtigt werden, Einschränkungen der Informationsfreiheit zu hinterfragen, die etwa mit dem Schutz der internationalen Sicherheit begründet werden.

9. Wir verteidigen das Internet und andere Kommunikationsmittel gegen illegitime Eingriffe durch öffentliche und private Mächte.

10. Wir treffen unsere eigenen Entscheidungen und tragen dafür die Konsequenzen.

Literatur:

Volker Kitz: Meinungsfreiheit! Demokratie für Fortgeschrittene, Fischer Verlag, Frankfurt/M., 2018

Mark White, Christian Crandall: Freedom of racist speech: Ego and expressive threats. Journal of Personality and Social Psychology, 113, 3, 2017

Timothy Garton Ash: Redefreiheit. Prinzipien für eine vernetzte Welt. Karl Hanser Verlag, München, 2016

John Stuart Mill, Über die Freiheit, Felix Meiner Verlag, Hamburg, 2009

Jonathan Haidts Argumente zu mehr Meinungsvielfalt an den Hochschulen: https://heterodoxacademy.org

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 5/2018: Akzeptieren, wie es ist