E-Mail statt Brief. SMS statt E-Mail. Expresslift statt Treppensteigen, Newsticker statt Zeitung. Onlineshopping statt Einkaufsbummel, Mikrowelle statt Schmortopf. Fast Food statt selbst kochen. Abitur in acht statt in neun Jahren. Bologna-Bachelor statt Diplomstudium. Powernapping statt Mittagsschlaf. Digitales Partnershoppen statt analoges Rendezvous. Kurztherapie statt Psychoanalyse. Multitasking statt Konzentration.
Das Tempo unseres Lebens nimmt zu, wir gehen, lesen, entscheiden, arbeiten immer…
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zu, wir gehen, lesen, entscheiden, arbeiten immer schneller. Beschleunigung ist das Markenzeichen unserer Zeit. Sie verändert unser Leben, macht uns langsam mürbe. Wir fühlen uns überwältigt, überfordert, überreizt. Das Gefühl, keine Zeit zu haben (oder nicht genügend davon), nimmt überhand. Und der seltsamerweise daraus erwachsende Wunsch, dass alles noch schneller gehe, lässt uns hektisch auf den Liftknopf oder die Ampelschaltung drücken, wohl wissend, dass dies sinnlos ist. Aber schon eine kleine Wartezeit ist uns unbehaglich – denn wir „verlieren“ ja Zeit, die wir woanders dringend bräuchten.
Welche Veränderungen und welche Symptome die beschleunigten Lebens- und Arbeitsweisen bei uns hervorrufen, zeigt die Analyse von Lebensbereichen, die besonders vom großen Zeitdruck betroffen sind:
Arbeit: Der Kult der Dringlichkeit
In der digitalisierten und globalisierten Arbeitswelt muss immer mehr schnellstens und sofort stattfinden – in „Echtzeit“ also. Die französische Psychologin Nicole Aubert hat in vielen Berufen und Branchen einen „Kult der Dringlichkeit“ entdeckt. Arbeitsfelder, in denen Verdichtung und Beschleunigung besonders zunehmen, sind davon erfasst. Drei neue Formen, Zeit zu leben und zu erleben, sind entstanden:
– Die modernen Kommunikationstechniken (Internet, Handy, E-Mail) haben „das Augenblickliche“ etabliert: Alles kann sofort mitgeteilt, angestoßen, angeordnet oder nachgefragt werden. Eine Idee, eine Frage, ein Zweifel taucht auf – sofort kann darüber kommuniziert werden. Das wird nicht nur als praktisch empfunden, sondern ist fast schon eine Form von Allgegenwart und Omnipotenz. „Der Computer wirkt wie elektronisches Kokain“, urteilt der Neurobiologe Peter Whybrow von der University of California in Los Angeles. Einschlägige Forschungsergebnisse über die sogenannten nichtstoffgebundenen Süchte (wie etwa Spielsucht oder Pornografiesucht) zeigen, dass inzwischen auch Internetsucht – die Unfähigkeit, offline zu sein – im Gehirn genau so funktioniert wie eine Drogensucht.
– Die Möglichkeit, sofort auf Anfragen, Wünsche oder Anordnungen zu reagieren oder Antwort zu erhalten, erzeugen „das Unmittelbare“. Auch das ist zunächst eine angenehme und nützliche Errungenschaft, die zudem Zeit und Geld spart. Das Augenblickliche und das Unmittelbare erzeugen im Zusammenspiel eine „Hyperreaktivität“, deren Symptome so aussehen: Am Telefon fragt der Geschäftspartner in leicht angesäuertem Ton: „Ich habe Ihnen vor einer halben Stunde eine Mail geschrieben. Haben Sie die nicht erhalten?“ Die Amerikaner sprechen vom ICYMI-Syndrom: In case you missed it – für den Fall, dass Sie das verpasst haben. Weil alles jederzeit zugänglich ist, gibt es keine Ausrede mehr dafür, nicht zu reagieren.
– Und schließlich der größte Beschleunigungstreiber, die „Dringlichkeit“: Was früher einmal für Notfälle oder Krisen reserviert war, ist nun der Normalfall: Wir müssen jetzt ganz schnell handeln, jedenfalls früher als die Konkurrenz. Nicole Aubert prophezeit: Der Kult permanenter Dringlichkeit wird jede Firma, jede Organisation, jede Arbeit durchdringen.
Diese Art zu funktionieren und immer nur auf die unmittelbaren Anforderungen zu reagieren, führt über kurz oder lang zum psychischen und körperlichen Verschleiß, zu Symptomen wie Nervosität, Erschöpfung, gesteigerter Empfindlichkeit. Und zu einer „Korrosion des Charakters“, wie es der Soziologe Richard Sennett nennt: In einer Gesellschaft, die sich nur für das Unmittelbare interessiert und die von ihren Mitgliedern permanente Flexibilität und Reaktionsbereitschaft verlangt, können nicht nur keine dauerhaften sozialen Beziehungen entstehen, der Einzelne erfährt auch keine Selbstkontinuität mehr. Nicole Aubert registriert bei vielen Personen, die länger im Dringlichkeitsmodus gearbeitet haben, „völlig hysterische Reaktionsweisen“, vorzeitige Alterungsprozesse und Erschöpfungsdepressionen.
Ganz abgesehen davon, dass auch die Qualität der Arbeit leidet. Sofortentscheidungen, schnellstens gefundene „Lösungen“ und zusammengeschusterte Arbeitsergebnisse sind alles andere als optimal. Denn das Dringende ist bei weitem nicht immer das Wichtige. Und fatalerweise kann im Dringlichkeitsmodus gar nicht mehr unterschieden werden, was dringend und wichtig, was wichtig, aber nicht dringend, oder was nur dringend, aber nicht wichtig ist. Denn dazu bräuchte es – mehr Zeit. Zeit zur Problemanalyse, zur Reflexion. Und das wirklich Wichtige, von dem die Zukunft vielleicht abhängt und das mit größter Sorgfalt geplant und bedacht sein muss, das aber nicht unbedingt dringend ist, bleibt im puren Dringlichkeitsdenken auf der Strecke.
Lesen, Schreiben, Denken: Triumph der Flüchtigkeit
Der Computer ist nicht nur das zentrale Kontakt-, Informations- und Arbeitsmedium unserer Zeit. Er ist auch die dominierende Metapher für das Gehirn – wir begreifen uns selbst immer mehr als Informationsverarbeitungsmaschinen. Das digitale Lesen und Arbeiten gleicht sich immer mehr der Computernutzung an, er prägt unseren „Stil“: kurze Sätze, kurze Absätze. Lange und komplizierte Worte, komplexe, „schwierige“ Texte – all das, was Kunst, Literatur und Philosophie charakterisiert – gilt es zu vermeiden.
Die allgemeine Lesegeschwindigkeit beschleunigt sich immer mehr. Was umständlich oder langweilig ist oder irrelevant erscheint, wird übersprungen. Untersuchungen des Onlinelesens zeigen: Das lesende Auge hüpft immer schneller über den Text, bleibt immer seltener hängen – und überfliegt im Wortsinne immer mehr Worte und Zeilen. In einer Studie der Nielsen Norman Group in den USA wurden die Augenbewegungen beim Onlinelesen beobachtet. Die 232 Versuchspersonen sollten sich Tausende von sehr unterschiedlichen Websites ansehen. Sie taten das auf bemerkenswert gleichförmige Weise, nämlich in einem Muster, das einem F gleicht:
Die ersten Zeilen eines Webcontents werden horizontal gelesen und bilden den oberen Querbalken des F. Danach scrollen die Leser ein wenig weiter, lesen wieder ein paar Zeilen, allerdings nicht mehr bis zu deren Ende. Diese Zeilen bilden den unteren Querbalken des F. Nun prüfen oder scannen die Leser nur noch den linken Bereich der Webseite, scrollen dann weiter nach unten – das ist der vertikale Stamm des F.
Die Entdeckung dieses internettypischen Lesemusters hatte sofort weitreichende Auswirkungen auf die Gestaltung von Websites: Das Wichtigste – die Kernbotschaft, die zentrale Werbeaussage, das Product-Placement oder die teuerste Bannerwerbung– wird links oben platziert. Inhalte, die nicht mindestens den zweiten Horizontalstrich des F schaffen, fallen der nun folgenden Flüchtigkeit und Oberflächlichkeit des Lesens anheim.
Der Internetexperte und Autor Nicholas Carr schreibt: „Wenn das Netz ein Medium absorbiert, erschafft es dieses neu – nach seinem Bilde. Es löst nicht nur dessen physische Form auf, es reichert den Inhalt des Mediums an mit Hyperlinks, es bricht dessen Textstruktur auf und zerlegt sie in verschlagwortete Teilchen, und es umgibt diesen zerlegten Inhalt mit all dem Inhalt all der anderen Medien, die es bereits geschluckt hat.“ Aber diese Anreicherungen von Texten mit etwas, das irgendwie mit dessen Inhalt zu tun haben könnte, verändern das Lese- und Informationsverhalten des Users dramatisch.
Der Vorteil – der neue Reichtum an Kontakten, Verlinkungen, Zusatzinformationen, also mehr connectivity, schlägt bald um in einen Nachteil: in Fragmentierung, disconnectivity. Der Inhalt wird, auch ein neues Wort der digitalen Welt, granuliert, man könnte auch sagen: zerbröselt. Die Hypertexte bilden eine ungeheure Menge von Stoff, der jedoch unverbunden nebeneinandersteht. Neue Fenster öffnen sich, eine Kette von Lese- und Schauanreizen drängt den Leser immer weiter. Diese Angebote fördern ein „assoziatives Lesen“, sprunghaft, im Multitasking-Modus.
Der Philosoph Mark C. Taylor beklagt in seinem Buch Speed Limits, dass nicht nur Texte und Inhalte mehr und mehr fragmentiert würden. Weil die digitalen Leser immer schneller in ein Labyrinth von Texten und Links und aufpoppenden Fenstern hineingezogen würden, blieben auch ihr Bewusstsein und ihr Textverständnis zerstückelt. Konzentriertes Lesen und die dazugehörige Reflexion und Einordnung des Gelesenen fänden kaum noch statt, Lesen mutiere zu einem Scannen und Hüpfen.
Körper und Seele
Wie wir Zeit überhaupt erleben, welches Verhältnis zu Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft wir entwickeln, vermittelt sich vor allem über den Körper. So werden etwa unsere frühkindlichen Befriedigungs- oder Frustrationserfahrungen und die vorsprachlichen Gefühle in den Körper eingraviert. Die Psychoanalytikerin Benigna Gerisch sieht im Körper die „Leibbühne“, auf der die Identitätsbildung symbolisiert und dargestellt wird. Unverdautes und unbenennbares seelisches Material – Konflikte, Traumata, Verletzungen – werde oft durch eine Körpersprache artikuliert, der Körper fungiert dann als „Symbol“. Das gilt nicht nur für die individuellen Erfahrungen – „verkörpert“ werden auch die dominierenden gesellschaftlichen und kulturellen Einflüsse einer Epoche. Die Beschleunigung des Lebens beeinflusst also auch das Verhältnis zum eigenen Körper und verändert dadurch die seelische Innenwelt.
Die neue „Kultur der Unmittelbarkeit und der Vergleichzeitigung“, so beobachtet Gerisch, bediene den Jetzt-und-sofort-Imperativ des Säuglings, dessen körperliche Vorgeschichte ja noch in uns steckt. Als Säugling konnten wir zwischen Augenblick und Dauer noch nicht differenzieren, das Sofort-haben-Wollen ist auch im Erwachsenen noch virulent. Dieses Muster wird nun durch die ständig auf uns einprasselnden Alles-haben-können-und-zwar-gleich-Angebote bedient. Sie lassen uns regredieren – das heißt, wir fallen auf eine frühere Entwicklungsstufe zurück. Die Bilder- und Informationsfluten der Mediengesellschaft geben uns keine Zeit mehr zu ihrer psychischen Verarbeitung. Zu schnell sind die Impulse der „Erregungsbranche“ getaktet, als dass wir sie einordnen, bedenken, also in biografisch brauchbare und wiederverwendbare Informationen verwandeln („mentalisieren“) könnten.
Die Folgen dieses missglückenden Verarbeitungsprozesses sieht Benigna Gerisch darin, dass der Körper immer häufiger zum Schauplatz eines sprachlosen Agierens werde: „Das Individuum befindet sich in der beschleunigten Welt in einem Dauerzustand von Überflutung durch nicht mehr integrierbare Informations- und Zeichenüberschüsse einerseits und Deprivation im Sinne von sich verflüssigenden Bindungen andererseits.“ Durch die Indienstnahme des Körpers versuchten die Menschen, diese Lage zu kompensieren. Da er in der permanenten Zeitnot „greifbar“ und „real“ bleibt, wird er zum Identitätsgaranten. In einer unüberschaubaren und bedrohlichen Welt erweist er sich als das einzig verlässliche und vermeintlich verfügbare Objekt.
In der beschleunigten Welt, die viele Menschen überwältigt und überfordert, wird der Körper zu einer Art Gefäß, das Halt und Sicherheit gibt. Und der grassierende Körperkult und das Körper-„Enhancement“ sind die sichtbarsten Symptome dieser Entwicklung: Schönheitsoperationen, Anti-Aging-Programme, Diäten- und Schlankheitswahn. Aber auch Körperpathologien wie Essstörungen oder selbstverletzendes Verhalten wie Ritzen oder Selbstverstümmelungen sind Ausdrucksformen des neuen „Körperkonkretismus“ (Gerisch) und nehmen deutlich zu.
Die Angst, der beschleunigten Welt nicht mehr gewachsen zu sein, verstärkt die Suche nach Mitteln der Leistungssteigerung und Selbstoptimierung. Das sogenannte Neuroenhancement („Gehirndoping“) ist ein Ausdruck dieser Selbstmobilisierung: Neuroenhancement ist die mithilfe von Medikamenten wie Ritalin oder Amphetaminen angestrebte Leistungssteigerung bei gesunden Menschen. Aufmerksamkeit, Gedächtnis, Konzentration und andere kognitive Funktionen des Gehirns können und sollen „verbessert“ werden, nach dem Stand des wissenschaftlich Möglichen.
Der Medizinkritiker Peter Wehling sieht in diesem Versuch, das Gehirn sozusagen fortschrittstauglich und beschleunigungsresistent zu machen, eine fragwürdige Strategie. Ihr liege ein Denkfehler zugrunde: Traditionelle Mittel der Leistungssteigerung wie Lernen, Gedächtnisschulung, Meditation, Askese oder Konzentrationsübungen werden umstandslos mit den neuen pharmakologischen Techniken gleichgesetzt.
Selbstverlust und Beziehungsverlust
Zeitdruck, Zeitmangel und Zeitnot wirken sich direkt auf unser Seelenleben aus. Wir kommen buchstäblich nicht mehr zu uns. Das Lebensgefühl, sehr häufig „neben sich“ zu stehen, ist weit verbreitet. Dazu trägt auch bei, dass wir aus Ungeduld oder aus Zeitnot seelische Wachstums- und Reifungsprozesse und alle Erfahrungen, die auf Dauer gründen, möglichst verkürzen wollen. So bleibt das Selbst auf oft unbegriffene Weise unterentwickelt und undifferenziert.
Es gibt offenbar einen engen Zusammenhang zwischen der Beschleunigung und einer wachsenden Entfremdung – also dem Gefühl, längst nicht mehr das zu tun und der zu sein, was man eigentlich tun und wer man sein wollte. Häufig springen wir ins „Halbbekannte“, wir gehen uninformiert, flüchtig, gehetzt an Dinge heran, die meisten wollen wir eigentlich gar nicht tun, und wenn wir sie getan haben, sind sie nie wirklich abgeschlossen, wir haben oft nur halb gelesen, provisorisch etwas repariert und so weiter. Wir sind immer seltener „bei uns selbst“.
Und wir sind auch weniger bei anderen: Keine Zeit mehr für die Entwicklung und Pflege von tiefer Vertrautheit, von Freundschaften und Partnerschaften. Von dauerhaften Gefühlen gehen wir über zu flüchtigen Beziehungen: Kurzlebige, oft zweckorientierte und oberflächliche Kontakte sind im Arbeitsleben wichtig, und sie prägen mehr und mehr auch die privaten Beziehungen. Das Speeddating und der digitale Partnermarkt sind deutliche Zeichen dafür, dass die Beschleunigung auch unser Liebesleben im Griff hat.
Auf der Suche nach der verschwindenden Zeit
Die meisten Rezepte gegen die Beschleunigung – oder zumindest gegen deren schlimmste Auswirkungen– sind wohlbekannt. Sie laufen in der Regel darauf hinaus, das ansteigende gesellschaftliche Tempo durch individuelle Entschleunigungsprogramme erträglich zu gestalten. Eine Flut von Büchern beschwört die Notwendigkeit der Verlangsamung und die Wohltaten der Muße. Die Wiederentdeckung der Langsamkeit wird umso lauter ausgerufen, je deutlicher die Auswirkungen der Geschwindigkeit erkennbar sind. Durch Lifestyle-Bewegungen wie Slow Food, durch die Selbstimmunisierung gegen Stress und Burnout in Wellness-Oasen, Yoga- oder Meditationskursen versucht der Einzelne, der Beschleunigung wenigstens auf Zeit zu entkommen.
Doch die vermeintlichen Aus- oder Eigenzeiten sind längst „kontaminiert“: Die neuen Medien ermöglichen eine permanente Grenzüberschreitung zwischen Arbeit und Freizeit und zwischen unterschiedlichsten Lebensbereichen: Beim gemütlichen Treff abends mit Freunden mal schnell aufs Smartphone geguckt, und schon ist man, je nach Dringlichkeit einer Nachricht oder ihrer emotionalen Brisanz, ganz woanders. Vom Laptop-Mitnehmen in den Urlaub oder der permanenten Erreichbarkeit durch die Firma ganz zu schweigen.
Wo finden wir wirklich Hilfe? Vielleicht weniger in den neuesten Zeitsparmodellen und Organisationstricks als in eher philosophischen, grundsätzlichen Überlegungen.
Der Philosoph Odo Marquard glaubt, dass wir im Grunde immer ein „temporales Doppelleben“ führen, in dem wir die wachsende Schnelligkeit durch Langsamkeiten aller Art kompensieren. Das Bewusstsein für die Kürze unseres Lebens forciere auf der einen Seite die Schnelligkeit – wir wollen in der uns gegebenen Spanne möglichst viel möglichst schnell erreichen und erfinden deshalb immer neue Beschleuniger. Wir sind „zukunftshungrige Eiler“, weil Zeitmangel unsere menschliche Primärerfahrung ist– nur wer nicht weiß, dass er sterben muss, hat es nicht eilig. Auf der anderen Seite jedoch drängt uns dasselbe Wissen um die Endlichkeit dazu, „herkunftsdominierte Zögerer“ zu sein. Wir versuchen, langsam zu leben, die Zeit an- oder aufzuhalten.
Im Grunde sind alle menschlichen Institutionen dazu da, das Leben auf Dauer zu stellen: Verwaltungen und Verbände, Vereine, Parteien, Gewerkschaften, Familien und Gruppen aller Art – sie sind natürliche „Verlangsamer“ (siehe auch Heft 6/2015: Gemeinsam glücklich). Weil sie Traditionen und Riten pflegen, weil sie auf Grundsätze und Werte achten und weil sie schon allein durch ihre Gewohnheiten und Verfahrensweisen das Tempo der Einzelnen bremsen. Außerdem nehmen sie die Geschwindigkeit aus den Dringlichkeiten der Politik und den Innovationszwängen der Wirtschaft heraus. Dafür werden sie oft als Bremsklötze, als fortschrittsfeindlich, unmodern und so weiter gescholten. Manchmal zu Recht, oft zu Unrecht.
In der Kultur, in ihrer Bewahrung und Pflege liegt also die wahre entschleunigende Kraft. Und in den Gemeinschaften, in der Kommunikation, im Miteinander: Andere können uns zwar mitunter Zeit stehlen. Aber sehr viel häufiger können wir mit anderen unsere knappe Lebenszeit vermehren. Denn geteilte Zeit ist vielfache Zeit. Odo Marquard nennt es „mitmenschliche Multitemporalität“. Mit ihr lässt sich selbst die Beschleunigung aushalten.
Heiko Ernst ist Diplompsychologe und Publizist. Er war von 1979 bis 2014 Chefredakteur der Zeitschrift Psychologie Heute.
Literatur
Nicole Aubert: Dringlichkeit und Selbstverlust in der Hypermoderne. In: Vera King und Benigna Gerisch (Hg.): Zeitgewinn und Selbstverlust. Folgen und Grenzen der Beschleunigung. Campus, Frankfurt 2009
Benigna Gerisch: Körperzeiten.: Zur Hochkonjunktur des Körpers als Folge der Beschleunigung. In King/Gehrisch (Hg.): a.a.O
Nicolas Carr: Surfen im Seichten. Was das Internet mit unserem Hirn anstellt. Pantheon, München 2012
Odo Marquard: Endlichkeitsphilosophisches. Über das Altern, Reclam, Stuttgart 2013
Hartmut Rosa. Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstruktur in der Moderne. Suhrkamp, Frankfurt a.M. 2005
Harmut Rosa: Beschleunigung und Entfremdung. Suhrkamp, Frankfurt a.M. 2013
Mark C. Taylor: Speed Limits. Where time went and why we have so little left. Yale University Press, New Haven 2014
Peter Wehling: Warum immer besser werden? Blinde Flecken des bioethischen Diskurses über Neuroenhancement. In: West End, Neue Zeitschrift für Sozialforschung, 2/2014, 81-90