Schulen im Digitalfieber

Führt die Digitalisierung im Klassenzimmer tatsächlich zu besserem Unterricht und mehr Lernerfolg?

Illustration zeigt Schüler mit Computern und Lehrern
Menschen brauchen nach wie vor andere Menschen – auch beim E-Learning © Riikka Laakso

Die Appelle klingen, als drohe Deutschland auf Drittweltniveau abzurutschen: Politiker, die Wirtschaft und ihre Stiftungen fordern, endlich alle Schulen digital „zeitgemäß“ auszustatten. Schnelles WLAN für jede Schule heißt das, in jedem Klassenzimmer statt der Tafel ein interaktives Whiteboard mit integriertem Beamer und vor allem: Computer für alle Schüler. „E-Learning“ soll den Stoff vermitteln, von Mathematik bis Deutsch: Da laufen Lernprogramme, Filme und Präsentationen auf Computern, Smartphones oder…

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Lernprogramme, Filme und Präsentationen auf Computern, Smartphones oder Whiteboards, und die Schüler recherchieren im Netz.

Wer zaudert, und sei es nur wegen der öffentlichen Finanzen, erntet eher Spott als sachliche Debatte. Schulen riskieren den Kalauer, sie steckten in der „Kreidezeit“ fest, falls dort noch jemand den Stoff in Echtzeit auf einer Tafel unterbringt. Zögerliche Lehrkräfte müssen mit der Diagnose rechnen, sie hätten eben „Angst“.

Tatsächlich scheinen längst nicht alle Lehrer für die digitale Schule zu brennen. Es ist jedoch nicht ihre Aufgabe, auf jeden Zug zu springen und immer das Neueste einzukaufen. Sie müssen sich darum kümmern, wie sie ihre Schüler im Unterricht so gut wie möglich dabei unterstützen können, sich Wissen und Verstehen anzueignen. Die Wissenschaft, die genau das überprüft, ist die empirische Lehr-Lern-Forschung, die klug ist, wenn sie dabei die Psychologie des Denkens und Lernens einbezieht. Auch Forschung zu digitalen Medien in der Schule muss deren Tauglichkeit für den Lernerfolg überprüfen. Nur wenn der Erfolg die herkömmlichen Methoden übertrifft, rechtfertigt das die jährlichen Milliardenkosten für die digitale Schule.

Computer als Lernfaktor 

Die bis heute berühmteste Studie zum Schulerfolg stammt von dem neuseeländischen Erziehungswissenschaftler John Hattie, der inzwischen an der Universität Melbourne in Australien lehrt. Hattie analysierte mehr als 50 000 Studien, in denen insgesamt 138 Einflussfaktoren auf das Leistungsniveau von Schülern untersucht worden waren, von „Lehrer-Schüler-Beziehung“ über „Lehrstrategien“ bis hin zu „Peer-Einflüssen“ oder „Familienstruktur“. Für jeden dieser Faktoren und für jede Studie berechnete Hattie aus den Daten einen Wert, der Effektstärke heißt und anzeigt, wie stark der Faktor den Schulerfolg beeinflusste. Effektstärken sind die Datenbasis für jede Metaanalyse. Für den Computer als Lernfaktor fiel die Prüfung ernüchternd aus: Er landete auf dem unbedeutenden Platz 71.

Doch Hatties Arbeit stammt von 2008. Wer wissen möchte, was inzwischen Stand der Forschung ist, muss sich an Kristina Reiss wenden. Sie leitet die School of Education der Technischen Universität München. Die Professorin für Didaktik der Mathematik und ihre Arbeitsgruppe haben eine vierstellige Zahl an Studien gesichtet, die seit dem Jahr 2000 erschienen sind. Sie wählten die 79 besten aus, mit Daten von mehr als 14 000 Jugendlichen, und unterzogen sie wie Hattie einer Meta­analyse. Dabei beschränkten sie sich auf die Sekundarstufe, auf die MINT-Fächer (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften, Technik) und auf die fünf wichtigsten E-Learning-Methoden. Die ersten Ergebnisse haben sie praxisorientiert für Lehrkräfte aufbereitet, die wissenschaftliche Publikation folgt.

Das zentrale Ergebnis fasst Reiss so zusammen: „Man kann schließen, dass Computer in der Schule positive Effekte haben. Die Effektstärke war zwar nicht sehr groß, aber mit 0,62 mittelgut.“ Die Effektstärke für Computer in der Hattie-Studie hatte bei 0,32 gelegen. Es scheint also Fortschritte zu geben.

„Richtig interessant wird es aber, wenn man dieses Gesamtergebnis aufschlüsselt“, sagt Kristina Reiss. So stellte sich heraus, dass die Jugendlichen am Computer besser lernten, wenn Lehrerin oder Lehrer in diesen Unterrichtsmethoden geschult waren. „Man darf Computer nicht unter der Hand einführen, man muss die Lehrkräfte dafür fortbilden“, folgert Reiss. Es ist also wie bei jedem anderen anspruchsvollen Hilfsmittel: Professionell kann man es nur nutzen, wenn man weiß, wie es geht. Erst dann profitieren die Schüler davon.

Auch E-Learning wird rasch langweilig

Kristina Reiss nennt drei Bedingungen, unter denen Schüler am besten mit digitalen Medien lernen. Erstens: wenn die Lehrkraft steuert, was mit dem Programm geschieht, und wenn sie einschlägige Fortbildungen besucht hat. Zweitens: wenn die Kinder am Computer zusammenarbeiten können. „Der Lernerfolg ist erheblich besser, wenn sie nicht einzeln vor dem Bildschirm sitzen, sondern sich dabei austauschen. Offensichtlich ist die menschliche Kommunikation auch hier nicht zu ersetzen“, sagt die Lehr-Lern-Forscherin.

Die dritte Bedingung für den Erfolg digitaler Lernprojekte betrifft die Dauer: Je länger Lehrkräfte mit Computerhilfe unterrichten, desto schwächer fällt der Effekt aus. Schon nach sechs Wochen ist er merklich kleiner. „Dann wird es den Schülern offensichtlich langweilig, es wird ein bisschen uninteressant“, vermutet Reiss. Spezifisch für das E-Learning sei das aber wohl nicht. „Es bestätigt doch nur die erziehungswissenschaftliche Regel, dass man Abwechslung in den Unterricht bringen muss. Man kann eben nicht jeden Tag mit der gleichen Methode reingehen.“ Egal mit welcher.

Betrachtet man die fünf untersuchten E-Learning-Methoden separat, dann sind sie unterschiedlich erfolgreich. Zwei wirken kaum; das sind einmal reine Übungsprogramme, zum zweiten „Hypermediasysteme“. Dort recherchieren Schüler wie in einem Onlinelexikon, in dem Texte, Grafiken, Ton und Filme verlinkt sind.

Erfolgreicher lernen Schüler, wenn sie digitale Tutorensysteme nutzen. Solche Programme vermitteln direkt Wissen, man könnte sie auch Frontalunterricht am Bildschirm nennen. Gut schneiden dabei vor allem „intelligente“ Systeme ab, die laufend prüfen, wie viel die Lernenden wissen, und die nächste Lerneinheit daran anpassen. Der Vorteil an Tutorensystemen generell ist, dass die Jugendlichen erklärende Sequenzen mehrfach wiederholen können, der Nachteil, dass sie auf ihren Fragen sitzenbleiben – außer eine Lehrkraft ist persönlich greifbar. Beide Tutorensysteme funktionieren daher viel besser, wenn sie in den Unterricht eingebaut sind.

Die fünfte untersuchte Methode waren Simulationsprogramme. Hier können Schüler zum Beispiel Daten direkt in eine Grafik überführen, auch solche, die sie selbst erhoben haben, etwa über die Neigungswinkeln von Tangenten oder darüber, wie sie selbst Wassertemperaturen wahrnehmen. So werden naturwissenschaftliche Inhalte plastischer, sind leichter verständlich und besser zu behalten. Auch hier, so Reiss, zeigt sich: „Was sich positiv auswirkt, ist nicht ein Medium an sich, sondern ein Medium, das den Unterricht sinnvoll ergänzt.“

Kein Lernen ohne Lehrer

Und die Prognosen, „autonomes Lernen“ mit digitalen Medien könnte langfristig Lehrkräfte ersetzen? „Das sind Illusionen“, meint Kristina Reiss. Gerade in kognitiv anspruchsvollen Fächern komme es ja nicht nur darauf an, Wissen zu vermitteln. Man müsse auch Interesse dafür wecken, vielleicht sogar Neugier, auch für Naturwissenschaften, Technik und Formales. Genau das tun motivierte und motivierende Lehrkräfte. „Wenn mir mein Fach gefällt“, so Reiss, „dann versuche ich doch, dieses Fach anderen näherzubringen. Ich wage zu bezweifeln, dass das beim Selbstlernen möglich ist.“

Die Didaktikerin erwartet auch nicht, dass digitales Lernen den Unterricht an sich auf den Kopf stellen wird: „Wir haben nicht jahrhundertelang erfolglos unterrichtet. Wir müssen nicht alles über den Haufen werfen, was sich als sinnvoll herausgestellt hat. Man muss vielmehr dafür sorgen, dass man die Geräte passend integriert.“

In diesem Rahmen können Jugendliche außerdem „digitale Kompetenzen“ trainieren, allem voran, das Internet klug zu nutzen. Die Voraussetzungen dafür sind durchaus analog. So recherchiert kompetenter, wer schon viel zum Thema weiß und über ein gutes Gedächtnis verfügt. Ganz besonders wichtig ist die fundamentalste Kulturtechnik überhaupt: das Lesen. Carolin Hahnel und Kollegen aus Frankfurt ließen 416 Jugendliche im Rahmen der PISA-Tests von 2012 eine Rechercheaufgabe im Netz bearbeiten. Sie schnitten umso besser ab, je besser sie lesen konnten. Wer versierter liest, kann schon die Kurzanzeigen erheblich sicherer einordnen, ruft in der Folge mehr Webseiten auf und kann deren Qualität viel schneller prüfen. Hahnels Schlussfolgerung ist eindeutig: „Will man Kinder auf die Onlinewelt vorbereiten, ist es ein guter Anfang, ihnen das Lesen beizubringen.“

Dafür genügt Papier. Dieses ganz und gar nichtdigitale Medium hat zudem einen grundlegenden Vorteil für nachhaltiges Lernen. Das Gehirn überführt nämlich einen Inhalt nicht sofort längerfristig ins Langzeitgedächtnis. Dies geschieht erst im Schlaf, vor allem dann, wenn der Schlaf gut ist und ausreichend lange. Gleichzeitig ist gut belegt, dass Kinder und Jugendliche umso schlechter schlafen, je mehr Zeit sie vor dem Bildschirm verbringen. Zwei Stunden sind unerheblich, doch mit jeder zusätzlichen Bildschirmstunde wird der Schlaf schlechter.

Die Bildschirmzeit begrenzen

Optimal für den Schlaf und damit für den Lernerfolg wäre deshalb, wenn zumindest Kinder nicht mehr als zwei Stunden pro Tag vor dem Monitor verbrächten. Amerikanische Kinder- und Jugendärzte empfehlen genau das. Will man den Schlaf der Kinder schützen, muss man die Zeit am Computer in der Schule zumindest begrenzen. Es wäre sinnvoll, sie für Recherchetraining, Informatik und nachgewiesen erfolgreiche E-Learning-Programme zu reservieren.

Um die Etats der Schulen für Computer zu schonen, wird gerne vorgeschlagen, private Smartphones oder Tablets zuzulassen. BYOD, bring your own device, nennt man das. Kristina Reiss ist da zurückhaltend. Sie sieht zwei Nachteile: „Zum einen ist das keine Lehrmittelfreiheit mehr. Mit dem eigenen Smartphone zu arbeiten fördert die Ungleichheit, schließlich ist es teuer, immer das neueste Gerät zu haben. Das können sich nicht alle Familien leisten.“

Nachteil Nummer zwei hat mit der Betriebstechnik zu tun: „Die Lehrkräfte müssen dann ihren Unterricht so vorbereiten, dass sie mit jedem dieser verschiedenen Geräte zurechtkommen, weil die Programme nicht überall gleich laufen. Deshalb ist das unglaublich aufwendig und folglich eher nicht akzeptabel.“

Will eine Lehrkraft E-Learning professionell einsetzen, sollte sie auf einen Klassensatz Geräte zurückgreifen können, die alle aufgeladen, funktionsfähig und mit denselben Programmen bespielt sind, fordert Reiss. „Die Kinder sollen Inhalte lernen, sie sollen sich doch nicht mit Technik beschäftigen müssen.“ Wenn die Geräte nicht mehr benötigt werden, könnten sie dann an die nächste Klasse weitergereicht werden. Auch das spart Geld.

Überdies scheint das eigene Gerät die kognitive Leistung junger Leute keineswegs zu fördern. So untersuchte eine Arbeitsgruppe um Susan Payne Carter Studierendenklassen an der US-Militärakademie. Die schnitten in der Prüfung schlechter ab, wenn Computer im Klassenraum erlaubt waren, egal ob sie diese benutzt hatten oder nicht. Adrian Ward und Kollegen aus Austin, Texas testeten Arbeitsgedächtnis und Intelligenzleistung von 548 Studenten. Ein Drittel hatte das eigene Smartphone in der Tasche, ein Drittel legte es ausgeschaltet umgekehrt auf den Tisch, ein Drittel ließ alle persönlichen Dinge im Vorraum. Mit Abstand die besten Leistungen brachte diese dritte Gruppe. Einzige Erklärung: Das eigene Smartphone zieht schon dann Aufmerksamkeit ab, wenn es nur in der Nähe ist.

Revolutioniert E-Learning also das Lernen selbst? Ganz sicher nicht. Menschen brauchen nach wie vor andere Menschen, auch beim E-Learning. Gute digitale Lernprogramme können Schulbildung trotzdem unterstützen, falls sie professionell eingesetzt werden. Dann kann die Generation Smartphone nebenbei erleben, dass Computer Arbeitsmittel sind und mehr als Spiele bieten.

Literatur

Arnold Patricia, Lars Kilian, Anne Thillosen, Gerhard Zimmer: Handbuch E-Learning. W. Bertelsmann, Bielefeld, 2018 (5. Auflage)

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Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 10/2018: Geschwister