Paris: 130 Tote, 350 zum Teil Schwerverletzte. Brüssel: 31 Tote, über 300 Verletzte. Der islamistische Terrorismus versetzt Europa in Angst und Schrecken. Wie schätzen Sie als Terrorismusforscher die Gefahr ein?
Zunächst einmal ist die öffentliche Fokussierung auf den sogenannten Islamischen Staat – oder Daesh*, wie man besser sagen sollte – ganz im Sinne der Terroristen. Denn das Ziel terroristischer Gewalt ist, unser Denken zu besetzen, die Terroristen stärker und gefährlicher erscheinen zu lassen, als sie…
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ist, unser Denken zu besetzen, die Terroristen stärker und gefährlicher erscheinen zu lassen, als sie eigentlich sind.
Heißt das, die Bedrohung, die wir angesichts der Bilder von Brüssel und Paris empfinden, ist unbegründet?
Nein. Die Bedrohung durch Terrorismus ist natürlich real, sie war es auch in den Jahren vor 9/11 oder vor den Anschlägen von Paris und Brüssel. Die Global Terrorism Database (GTD) der Universität von Maryland zählt allein für 2014 mehr als 16 00 terroristische Anschläge weltweit; seit 1970 kommt die GTD sogar auf mehr als 140 00 Anschläge. Was sich mit den Anschlägen auf das World Trade Center und das Pentagon 2001 verändert hat, ist unsere Wahrnehmung. Terrorismus, genauer: der islamistische Terrorismus erscheint uns heute als unmittelbare und existenzielle Bedrohung. Eine Tendenz, die die Anschläge von Paris und Brüssel nur noch verstärkt haben. Dass das Risiko, in Europa Opfer eines Terroranschlags zu werden – darauf hat der Risikoforscher Ortwin Renn hingewiesen –, geringer sei, „als die Gefahr, an einer Pilzvergiftung zu sterben“, spielt dabei keine Rolle. Unsere Bedrohungswahrnehmung hängt wesentlich von der medialen Repräsentation der terroristischen Bedrohung und der staatlichen Reaktion auf den Terrorismus ab: Gerade weil man dem islamistischen Terrorismus solche Aufmerksamkeit schenkt und massiv, etwa durch militärische Gewalt, auf ihn reagiert, erscheint er so gefährlich. Das ist Teil des terroristischen Kalküls.
Wollen Sie sagen: Würden die Medien und die Politik den terroristischen Anschlägen weniger Aufmerksamkeit schenken, wäre die Bedrohung geringer?
Die Bedrohungswahrnehmung sicherlich. Denn das Bedrohungspotenzial – also die Gefährlichkeit, die wir mit einem sozialen Akteur verbinden – ist eine psychologische Kategorie, die mit der öffentlichen Wahrnehmung terroristischer Gewalt korreliert und von der sozialen Konstruktion sogenannter Mind-maps terroristischer Organisationen und ihrer Unterstützer profitiert. Mindmaps sind Sätze von Vorannahmen und Vorurteilen über die soziale Welt und ihrer Akteure, die durch eigene Erfahrungen, aber auch kollektive Erinnerungen oder mediale Berichterstattung geprägt werden und die uns helfen, die Informationsflut einer überkomplexen sozialen Realität zu bewältigen. Damit erfüllen Mindmaps eine kognitiv entlastende Funktion, sie führen aber auch zu einer Wahrnehmungsbeeinflussung oder, wie es der Politikwissenschaftler Robert Jervis formuliert hat: „People perceive what they expect to be present“, also: „Menschen nehmen wahr, was sie erwarten.“ Entsprechend schätzen wir das Bedrohungspotenzial von radikalislamischen oder islamistischen Organisationen wie dem Daesh heute so hoch ein, weil sie scheinbar breite Unterstützung, auch in den westlichen Gesellschaften, genießen. Der Verfassungsschutz rechnet aktuell etwa 1000 Menschen zum „islamistisch-terroristischen“ Spektrum. Darunter sind etwa 420 sogenannte Gefährder, denen die Polizei Terroranschläge oder andere schwere politisch motivierte Gewalttaten grundsätzlich zutraut.
Da dem so ist – haben dann die Mindmaps nicht auch eine schützende Funktion? Sie erhöhen die Wachsamkeit und können unter Umständen vielleicht sogar Anschläge vereiteln?
Nicht unbedingt. Wie Mindmaps eine terroristische Bedrohung konstruieren, zeigt das Beispiel jenes Mannes, der am 22. Januar 2016 in einem Kölner Baumarkt Chemikalien gekauft hat, „aus denen man mit entsprechenden Kenntnissen ein explosionsfähiges Gemisch herstellen kann“, wie es die Kölner Polizei formulierte. Offensichtlich aber war nicht nur die Menge gekaufter Chemikalien für die Alarmierung der Polizei verantwortlich, sondern das Aussehen des Mannes als „aus dem Nahen Osten stammend“.
Das Problem an solchen Mindmaps ist, dass sie praktisch nicht falsifizierbar sind: Jede Information kann so interpretiert werden, dass sie mit den Vorannahmen zusammenpasst. Darum muss die Tatsache, dass es in Deutschland seit 1945 einen einzigen Anschlag mit islamistischem Hintergrund gab – im März 2011 tötete ein 21-jähriger muslimischer Kosovo-Albaner am Frankfurter Flughafen zwei US-Soldaten und verletzte zwei weitere schwer –, nicht zu einer Korrektur der Bedrohungswahrnehmung führen. Ebenso gut kann man das Ausbleiben islamistischer Anschläge als Indiz für die Effektivität des staatlichen Sicherheitsapparates werten – und an der Grundannahme eines bedrohlichen Islams festhalten. Eine analoge Bedrohungswahrnehmung durch einen rechtsextremen Terrorismus ist – trotz der Zunahme rechter Gewalttaten im vergangenen Jahr um mehr als 30 Prozent auf 13 46 Delikte – dagegen nicht festzustellen.
Auch wenn wir die Bedrohung überschätzen – die Anschläge sind real und die angegriffenen Staaten und deren Verbündete können nicht tatenlos zuschauen. Gerade nach den Anschlägen von Paris und Brüssel reden immer mehr Politiker von „Krieg“. Das bedeutet: militärische Aktionen?
Die Vermutung liegt nahe, dass gerade der Daesh militärisch zu bekämpfen sei, verfügt er doch – anders als andere terroristische Organisationen – tatsächlich über ein Territorium, auf dem er angegriffen und, einen entsprechenden Einsatz militärischer Machtmittel vorausgesetzt, auch geschlagen werden kann. Seit Januar beteiligen sich Tornado-Kampfflugzeuge aus Deutschland an der internationalen Anti-IS-Allianz, und mit Hans-Lothar Domröse hat sich einer dereinst ranghöchsten deutschen Generale der US-Forderung nach einem NATO-Einsatz in Syrien angeschlossen.
Auch die USA haben nach den Anschlägen von 9/11 zwei Kriege begonnen – gegen die Taliban in Afghanistan und das Regime von Saddam Hussein im Irak. Zwei Kriege, die beide in wenigen Wochen gewonnen waren; doch der eigentliche Krieg, der gegen den Terrorismus, schien ebenso schnell verlorengegangen zu sein: In Afghanistan sind die Taliban weiterhin ein bedeutender Machtfaktor, und der Irak ist heute das, was die Regierung Bush vor Beginn der Offensive 2003 behauptet hatte: Ein Spielfeld des nationalen und transnationalen Terrorismus.
Warum aber war der Krieg gegen den Terrorismus in den genannten Fällen so wenig erfolgreich?
Weil militärische Angriffe eben nicht nur die Organisationen, ihre Stellungen und Waffenlager, nicht nur die Kämpfer von al-Qaida oder Daesh, sondern immer auch unschuldige Zivilisten treffen. Was, wie die Erfahrung in Gaza, im Libanon, aber auch Nordirland lehrt, die Unterstützung für diese Gruppen nur verstärkt – wie auch die Überzeugung, die Organisationen kämpften für eine richtige, für eine gerechte Sache.
Die Frage, wer im Einzelfall tatsächlich im Recht ist – die Staaten, die gegen den Terror kämpfen –, ist für die Frage der Wahrnehmung und Bewertung der jeweiligen Maßnahmen von untergeordneter Bedeutung. Entscheidend ist, welche Seite die Emotionen besser nutzen und vermarkten kann, die durch die Gewalt erzeugt werden. Das jüngste Beispiel dürfte wohl die islamistische Al-Schabaab-Miliz sein, die in einem fast einstündigen Propaganda-Video die anti-islamische Rhetorik des republikanischen Präsidentschaftskandidaten Donald Trump nutzt, um neue Rekruten für den bewaffneten Kampf zu werben.
Ihr Fazit lautet also: Mit militärischen Mitteln ist der islamistische Terror nicht zu schwächen?
Ja, richtig. Eine Ausweitung der Kampfzone wird weder das Bedrohungspotenzial des Daesh noch die Bedrohungswahrnehmung in den westlichen Gesellschaften reduzieren. Zwar klingen die aktuellen Zahlen, die das Weiße Haus über den Kampf gegen den „Islamischen Staat“ in Syrien und Irak veröffentlicht hat, vielversprechend: In beiden Ländern habe diese Terrororganisation seit 2014 rund ein Fünftel ihrer Kämpfer verloren. Heute gehen die USAvon nur noch 19 00 bis 25 00 Kämpfern aus. Doch der Fokus auf diese Zahlen ignoriert das eigentliche Funktionsprinzip von Terrorismus – die Beeinflussung der Wahrnehmung. Um den Krieg gegen den Terrorismus zu gewinnen, muss der Daesh militärisch nicht gewinnen, er muss ihn nur spektakulär verlieren, in einem Kampf, der hässliche Bilder getöteter Menschen produziert, die – tatsächlich oder nur vorgeblich – auf das Konto der Anti-IS-Allianz gehen. Die Herkunft der Attentäter von Paris, London und Brüssel könnte uns hier eine mahnende Erinnerung sein, dass der IS es bereits heute schafft, Anhänger und potenzielle Kämpfer in den westlichen Gesellschaften zu rekrutieren. Diese Unterstützung für den IS wird, dafür spricht die historische Erfahrung, vom Kampf gegen eine multinationale Militärallianz, von der Gewalt und den Bildern des Krieges profitieren. Und dazu wird die Terrororganisation selbst durch die multimediale Inszenierung der Opfer sicher noch beitragen.
Wenn nicht militärisch, wie kann man auf den islamistischen Terrorismus reagieren? Sie schreiben in Ihrem Buch Terrorismus, man müsse einen „Krieg um die Herzen der Menschen führen“. Wie soll das funktionieren?
Es wird sicherlich nicht funktionieren, indem wir Muslime pauschal verurteilen und stigmatisieren. Wenn wir uns klarmachen, dass die Stärke eines jeden Terrorismus die freiwillige Unterstützung ist, die er gewinnen kann, dann spielen Politiker wie Donald Trump, der ein Einreiseverbot für alle Muslime fordert, oder der CSU-Europaabgeordnete Albert Deß, der in einem Twitter-Beitrag nach den Anschlägen von Brüssel erklärt hat, dass alle Terroristen Muslime seien, nur den Terroristen in die Hände. So wie übrigens auch die etablierten Parteien, wenn sie sich die rechtspopulistischen Parolen von AfD oder Pegida zu eigen machen und eine Differenz zwischen Deutschland und Islam, zwischen Deutschen und Muslimen konstruieren – eine Differenz, die so gerade nicht existiert.
Der vielgescholtene frühere Bundespräsident Christian Wulff hat mit seiner Feststellung, dass der Islam zu Deutschland gehört, nicht nur recht – er hat damit die Forderung, dass man die Herzen der Menschen gewinnen müsse, auf eine begrifflich-inhaltliche Formel gebracht: Muslime sind integraler Bestandteil unserer Gesellschaft. Und als solche sind sie Verbündete im Kampf gegen den Terrorismus. Wenn wir aber bei der Integration versagen, wenn wir zulassen, dass eine Differenz konstruiert wird zwischen „uns“ und „den anderen“, dann wächst bei diesen „anderen“ auch tendenziell die Bereitschaft, sich von dem Staat und der Gesellschaft abzuwenden, zu denen sie ja nicht gehören sollen. Kurz: Integration ist der beste Schutz gegen Terrorismus.
Sie sprechen von den Mindmaps, die unsere Wahrnehmung verzerren. Angesichts der Terrorbilder wird es so manchem schwerfallen, seine Bedrohungsgefühle unter „Wahrnehmungsverzerrung“ abzubuchen. Müssen wir nicht das Gefühl von Handlungsfähigkeit behalten, um uns nicht hilflos und ohnmächtig zu fühlen?
Das stimmt. Und doch sind wir als politisch mündige Bürger genau dazu aufgefordert: uns zu fragen, inwieweit unsere subjektive Bedrohungswahrnehmung, unser Bedrohungsempfinden mit der empirisch überprüfbaren Realität zusammenpasst. Was ja gerade nicht heißt, Handlungsfähigkeit zu verlieren. Im Gegenteil. Wenn wir uns klarwerden, von wem oder durch was wir tatsächlich bedroht sind, können wir auf diese Bedrohung auch reagieren und verantwortungsvoll handeln. In Deutschland leben mehr als vier Millionen Muslime. Und so wenig wie die Brandanschläge auf Asylunterkünfte oder die Übergriffe auf Flüchtende etwas über „die Deutschen“ aussagen, sagen die Anschläge von Paris oder Brüssel etwas über „die Muslime“ aus. Wenn wir es schaffen, diese perzeptive Verkürzung zu reflektieren, reduzieren wir unsere Bedrohungswahrnehmung und gewinnen Handlungsfreiheit zurück. Umgekehrt sind wir, wenn wir uns von den Schreckensbildern aus Paris und Brüssel unsere Reaktion diktieren lassen, nicht frei, sondern getrieben.
Besteht auch in Deutschland die Gefahr eines islamistischen Anschlags?
Natürlich. Es gibt keinen absoluten Schutz vor gewaltbereiter Radikalisierung. Und doch ist das Risiko, in Deutschland Opfer eines terroristischen Anschlags zu werden, nicht sonderlich hoch. Die aktuell größere Gefahr besteht meines Erachtens darin, dass wir durch die pauschale Stigmatisierung des Islam als gefährliche Religion beziehungsweise von Muslimen als Terroristen, die in der Politik wie im gesellschaftlichen Diskurs zunehmend zu beobachten ist, eine tiefe Spaltung der Gesellschaft riskieren. Das wird die Gewaltbereitschaft an den extremen Rändern tendenziell nur weiter erhöhen.
*Daesh ist ein Akronym für den arabischen Ausdruck „Islamischer Staat im Irak und der Levante“. Die Verwendung dieses Begriffs ist ein politisches Signal: Der Anspruch des „IS“ wird damit zurückgewiesen, ein Staatsgebilde mit weltweitem Herrschaftsanspruch zu sein. Zum anderen aber erinnert Daesh an andere arabische Begriff, die für „Zwietracht säen“ oder „zertreten“ stehen, und wird vermutlich allein schon darum vom „IS“ selbst strikt abgelehnt.
Dr. Andreas M. Bock ist Professor für Politikwissenschaft, internationale Not- und Katastrophenhilfe an der Akkon-Hochschule für Humanwissenschaften in Berlin und Lehrbeauftragter am Lehrstuhl für Friedens- und Konfliktforschung der Universität Augsburg.