In Molières Komödie Don Juan fragt ein Diener seinen Herrn, woran dieser glaubt, und bekommt als Antwort: „Ich glaube, dass zwei und zwei vier ist und vier und vier acht.“ Darauf erwidert der Diener: „Wie ich sehe, ist Eure Religion also die Arithmetik.“ Die Moral von der Geschichte: An irgendetwas muss man glauben, wenn schon nicht an einen persönlichen Gott, dann beispielsweise an die Gültigkeit mathematischer Gesetze.
Religiöser Glaube ist aus allen Kulturen der Gegenwart und der überlieferten Geschichte…
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Gesetze.
Religiöser Glaube ist aus allen Kulturen der Gegenwart und der überlieferten Geschichte bekannt und zählt daher zu den anthropologischen Universalien. Es ist keine Übertreibung, den Menschen – unter anderem – auch als Homo religiosus zu charakterisieren, eine Spezies von Gläubigen. Neueren Studien zufolge sind mehr als 80 Prozent aller heutigen Menschen religiös in einem weiten Sinn des Wortes.
Wie aber verhält es sich mit den restlichen etwas weniger als 20 Prozent? Immerhin sind das mehr als eine Milliarde Menschen; Ungläubige also, die die Bindung an Gott verloren oder nie an ein „höheres Wesen“ geglaubt haben. Glauben die an nichts? Oder gibt es Formen „religiöser“ Überzeugungen, die mit den in den tradierten Religionen überlieferten Glaubensinhalten kaum etwas zu tun haben oder sich davon doch maßgeblich unterscheiden?
Albert Einstein bekundete einmal, dass er an keinen persönlichen Gott glaube, aber von „kosmischer Religiosität“ ergriffen sei, einer „grenzenlosen Bewunderung der Weltstruktur, soweit sie unsere Wissenschaft enthüllen kann“. Steht Einsteins Haltung stellvertretend für die weltanschauliche Überzeugung der im herkömmlichen Sinn als ungläubig geltenden Menschen? Oder zumindest für die Naturwissenschaftler unter ihnen?
Es ist hilfreich, sich hier zunächst eine elementare Erfahrung zu vergegenwärtigen, der sich kein Mensch in seinem Leben dauerhaft entziehen kann: die Erfahrung von Kontingenz, das heißt Unberechenbarkeit und Zufälligkeit. Der unerwartete Tod eines nahestehenden Menschen, das plötzliche Hereinbrechen einer Naturkatastrophe oder nicht einkalkulierte wirtschaftliche Engpässe sind Beispiele für eine Fülle von möglichen Ereignissen, die sich nicht vorhersehen, geschweige denn steuern lassen. Von Anfang an war der Mensch mit einer heimtückischen Welt konfrontiert, die allen seinen Bemühungen jederzeit einen Strich durch die Rechnung machen konnte.
Mit dem Erwachen seines Bewusstseins versuchte er, sich einen Reim auf diese Welt zu machen und auch alles Unberechenbare und Bedrohliche in eine Ordnung zu bringen. Diese Ordnung war zwar nicht direkt erkennbar. Doch auch als Projektion ins Unbekannte vermochte sie so etwas wie ein Gefühl von Sicherheit zu erzeugen.
Abgesehen von den Bestattungsritualen der Neandertaler und des frühen Homo sapiens, liegen die metaphysischen Welten unserer prähistorischen Vorfahren zwar im Dunkeln, aber es gibt interessante Resultate aus der entwicklungs- und kognitionspsychologischen Forschung, welche die „Metaphysikbedürftigkeit“ des Menschen erhellen. Eckart Voland, Professor für Biophilosophie an der Universität Gießen, berichtet von der Erkenntnis, dass Kinder bis ins Alter von etwa fünf Jahren über kognitive Mechanismen verfügen, die spontan religiöse Überzeugungen produzieren können. Kleinkinder weisen auch toten Gegenständen „geistige Eigenschaften“ zu und bezeichnen zum Beispiel einen Tisch als „böse“, weil sie sich an ihm den Kopf angeschlagen haben. Und sie denken finalistisch: Alles muss einen Zweck haben, es regnet etwa, damit die Blumen wachsen können, oder die Sonne scheint, damit es uns nicht kalt ist.
„Diese kognitiven Strategien“, schreibt Voland, „die nicht erst besonders gelernt werden, sondern als biologische Grundeinstellungen des menschlichen Verstandes die Welt interpretieren, bringen ganz spontan und anstrengungslos mentale Grundpfeiler religiöser Metaphysik hervor.“ Daher sind Kinder auch empfänglich für Märchen.
Eine halbwegs „gesunde Entwicklung“ vorausgesetzt, löst sich der Heranwachsende von der Märchenwelt und wendet sich der Realität zu, doch das grundsätzliche Bedürfnis, Ereignissen Zwecke zuzuschreiben, bleibt im Wesentlichen bestehen und führt letztlich zur Frage nach dem Sinn. Der religiöse Mensch kann sich in den Glauben zurückziehen, dass alles – selbst das anscheinend Sinnlose – einem göttlichen Plan folgt und letztlich einem höheren Weltenzweck untergeordnet ist. Und über die ertragene Unbill im Diesseits kann er sich durch den Glauben hinwegtrösten, dass ihm ein (besseres!) Weiterleben nach dem Tod bevorstehe. Was aber bleibt dem Atheisten, der an keinen göttlichen Plan und keine universelle Weltordnung glaubt? Und der an die Aussicht auf das unausweichliche Lebensende keine Hoffnung auf ein Weiterleben knüpfen kann?
Unglaube bedeutet keinen Werteverlust
Ein Blick auf die einschlägige Literatur lässt erkennen, dass Vertreter eines säkularen, atheistischen Weltbildes im Allgemeinen dazu neigen, den Sinn des Daseins auf das eigene Leben zurückzuführen und also im Diesseits zu suchen. Der Philosoph Bernulf Kanitscheider schreibt hierzu Folgendes: „Auf der Suche nach dem Sinn wird der Mensch auf sich selbst zurückverwiesen. Er darf nicht auf eine Führung durch die Welt warten, er muss sich selber seine Ziele setzen und durch die Vernunft leiten lassen, die Erfüllung seiner Ideale zu erstreben. Auf der Suche nach dem Sinn wird der Mensch reifer, er lernt mit der Kontingenz des Universums umzugehen, und er versöhnt sich mit der Idee, dass dieses nicht auf ihn ausgerichtet ist. Diese Erfahrung macht ihn zu einem freien Geist.“
Der Atheismus als alternative Geisteshaltung hat in den vergangenen Jahren nicht nur in den Medien verstärkt Aufmerksamkeit gefunden, sondern auch Kultur- und Sozialwissenschaftler dazu veranlasst, sich empirisch mit den Ungläubigen zu beschäftigen, sodass solche Aussagen repräsentativ erscheinen und weitergehende Schlussfolgerungen zulassen. So hat der amerikanische Soziologe Phil Zuckerman Ergebnisse zusammengetragen, wonach Religionslose stark wertorientiert sind. Demnach plädieren sie meist gegen die Todesstrafe, gegen Krieg und Diskriminierung, sie haben weniger Vorbehalte gegen soziale Randgruppen, und sie bekunden eine eher liberale Haltung gegenüber Drogenkonsum. Ihre Werteorientierung, so lässt sich daraus folgern, bleibt stets diesseitsgerichtet, sie glauben nicht an unwandelbare, absolute und ewige Werte, sondern huldigen eher einem Wertepluralismus.
Tatsächlich ist die unter gläubigen Menschen verbreitete Auffassung, wonach Atheismus mit Amoralismus gleichzusetzen sei, nicht haltbar. Zwar sind Atheisten nicht automatisch bessere Menschen, Verbrecher gab es unter ihnen genauso wie unter Gläubigen, aber ein Atheist wird weder sich selbst noch andere einem „höheren Wesen“ zu opfern bereit sein. Führt man sich die beispiellosen Gräueltaten vor Augen, die in der Geschichte bis zum heutigen Tag im Namen Gottes gegen die Menschlichkeit schon verübt worden sind, dann haben Atheisten sogar die besseren Karten. Sie wissen ihr eigenes Leben zu schätzen und zu genießen – weil sie sich ja auf nichts anderes verlassen können –, halten nichts von aufoktroyierten moralischen Zwängen und lassen sich nicht von jenen beeindrucken, die bei jeder Gelegenheit die Moralkeule schwingen.
Häufig anzutreffen ist auch die Meinung, dass Atheismus dem Nihilismus und der Verzweiflung Vorschub leistet. Dem lässt sich entgegenhalten, dass es viele sinnstiftende Momente im Leben eines Menschen gibt, auch wenn er glaubt, in einem insgesamt sinnlosen Universum zu leben. Einsteins „Religiosität“, um an obige Frage anzuknüpfen, kann in dem Zusammenhang als durchaus repräsentativ gelten. Wie schon im 19. Jahrhundert der englische Philosoph Herbert Spencer bemerkte, finden sich gerade unter jenen Leuten, welche die Religion (er meinte konkret den christlichen Glauben) aufgegeben haben, viele, die den „Rätseln des Daseins“ größte Aufmerksamkeit widmen.
Soweit ersichtlich, wurden dazu keine empirischen Studien durchgeführt, aber es leuchtet ein. Denn derjenige, der einfach und unhinterfragt daran glaubt, dass die sich uns darbietende Welt von Gott in einem Guss erschaffen wurde, darf sich in intellektueller Bequemlichkeit üben, während der kritische Naturforscher die komplexen Zusammenhänge dieser Welt und ihre Entstehung in mühevoller Kleinarbeit – unter Berücksichtigung unzähliger Details – ergründen muss. Das aber kann tiefe Befriedigung bereiten, hat vielleicht Ähnlichkeit mit Sisyphusarbeit – denn wie Albert Camus sagte, muss man sich Sisyphus als glücklichen Menschen vorstellen.
Auch Atheisten pflegen Rituale
Doch selbst wer sein Leben nicht damit verbringt, die Rätsel des Universums zu verstehen, hat – halbwegs passable Lebensumstände vorausgesetzt – keinen Grund zur Verzweiflung. Denn jedem Gottlosen steht es frei, in seinem eigenen Leben Höhepunkte hervorzuheben, um Hochgefühle entfalten zu können, wie sie der religiöse Mensch in seinem Dienst an Gott erfahren mag. Dazu gibt es auch empirisch begründete Resultate.
In Großbritannien wurde 2008 das Nonreligion and Secularity Research Network gegründet, das Informationen über nichtreligiöse, säkulare Weltanschauungen sammelt und sich auch mit den Beziehungen zwischen Religion und Unglauben befasst. Auf einer von diesem interdisziplinären Netzwerk 2012 in London ausgerichteten Konferenz wurden einschlägige Ergebnisse präsentiert. Demnach haben auch Gottlose das Bedürfnis nach Zeremonien und Ritualen, beispielsweise nichtreligiösen Taufen und Heiratsfeiern, und wollen die Beisetzung nahestehender Verstorbener feierlich begehen, obwohl sie nicht an ein Weiterleben nach dem Tod glauben.
Das entspricht auch der evolutionspsychologischen Erwartung. Wir Menschen neigen dazu, besondere – einmalige – Ereignisse in unserem Leben auch durch besondere Handlungen zu begehen. Feste und Feiern, selbst Trauerzeremonien entheben uns vorübergehend der Monotonie des Alltags, ventilieren unsere Gefühle und festigen soziale Bindungen. Ritualisierte Verhaltensweisen sind daher in unserer Spezies tief verwurzelt und obendrein in vielfältigen Formen aus dem Tierreich bekannt. Sie bedürfen also nicht des Glaubens an Gott.
So wie religiöser Glaube im traditionellen Sinn in sehr vielen verschiedenen Schattierungen auftritt – von strenggläubig bis moderat – und mit unterschiedlichen Inhalten gefüllt ist, so ist auch der Atheismus keineswegs eine einheitliche Weltanschauung. Gemeinsam ist wohl allen Atheisten, dass sie an keinen Gott glauben, der sich um den Menschen (oder andere Lebewesen) kümmert. Sie negieren einen Gott, der die Übel in der Welt zulässt. Die ersten Gotteszweifler in der Antike, unter ihnen Demokrit im fünften vorchristlichen Jahrhundert, wollten den Menschen die Angst vor den Göttern nehmen. Demokrit hatte auch schon eine plausible Erklärung für die Entstehung von Gottesbildern: „Als die Menschen der Vorzeit die Vorgänge in der Höhe sahen, wie Donner und Wetterleuchten, Blitzschlag … und die Verfinsterung von Sonne und Mond, gerieten sie in Furcht, weil sie glaubten, Urheber dieser Erscheinungen seien göttliche Wesen.“ Dem alten Griechen kann man somit psychologischen Feinsinn ebenso wenig absprechen wie eine, wenn auch noch dunkle Ahnung von der „Vorzeit“.
Mehr als zwei Jahrtausende später konnte Charles Darwin dann aber deutlicher werden. Er sah in der „religiösen Ergebung“ ein Phänomen, zusammengesetzt „aus Liebe, vollkommener Unterwerfung unter ein erhabenes, geheimnisvolles Etwas, einem starken Abhängigkeitsgefühl, Furcht, Ehrfurcht, Dankbarkeit, Hoffnung auf ein Jenseits und vielleicht noch anderen Elementen“. Neuere evolutionspsychologische Erklärungen der Religiosität gehen im Prinzip in die gleiche Richtung.
Man kann religiösem Glauben Evolutionsvorteile (Anpassungsvorteile) schwer absprechen. Damit ist aber nicht gesagt, dass Religiosität zwingend den Glauben an einen persönlichen Gott (oder mehrere persönliche Götter) voraussetzt. Er stärkt das (soziale) Zusammengehörigkeitsgefühl, doch der Umkehrschluss, Ungläubige seien unsozial oder gar asozial, ist nicht haltbar. Bekanntlich verzichtet der „Sozialismus“ in seiner ursprünglichen Form ausdrücklich auf Gott. Atheisten sind also durchaus vom Wert einer Gemeinschaft überzeugt, auch wenn sie diese nicht vom Glauben an ein höheres Wesen zusammengekittet sehen, sondern nur von einem uralten, stammesgeschichtlichen Prinzip: „Gemeinsam sind wir stärker.“ Im Übrigen bleibt dem Ungläubigen unter allen Umständen ein Fluchtweg in dieser unsicheren Welt – nämlich der Glaube an sich selbst.
Professor Franz M. Wuketits lehrt Wissenschaftstheorie mit dem Schwerpunkt Biowissenschaften an der Universität Wien und ist Vorstandsmitglied des Konrad-Lorenz-Instituts für Evolutions- und Kognitionsforschung. Jüngst erschien im Gütersloher Verlagshaus sein Buch Was Atheisten glauben.