Der Bastelwahn

Warum wird heute wieder so viel gestrickt, gewerkelt und gegärtnert? Massenweise versuchen Do-it-yourself-Fans durch ihre kreativen Hobbys zu sich selbst zu finden und sich eine Auszeit vom Dauerlauf im Hamsterrad zu nehmen. Doch taugt das Selbermachen wirklich zu Entspannung und Entschleunigung?

Stricken, häkeln, basteln, gärtnern, einmachen: In Deutschland wird gewerkelt, was das Zeug hält. Aktuell sind hierzulande 22 Millionen Menschen aktive Heimwerker. Doch neu ist die Idee nicht, in der eigenen Küche, im Garten oder beim Hausbau selbst Hand anzulegen. Weshalb kommt den selbstgestrickten Handytaschen und im Hobbykeller gefertigten Kinderzimmerlampen dann nun solch eine mediale Aufmerksamkeit zu? Zum einen liegt dies daran, dass es längst nicht mehr nur Hausfrauen, Häuslebauer und…

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Aufmerksamkeit zu? Zum einen liegt dies daran, dass es längst nicht mehr nur Hausfrauen, Häuslebauer und Schrebergärtner sind, die selbst werkeln. Wenn Jugendliche in Strickclubs gemeinsam Mützen häkeln und Abtei­lungsleiterinnen nach Dienstschluss antike Möbel restaurieren, dann erinnert nur wenig an Großmutters eingeweckte Quitten.

Zum anderen nimmt das heimische Selbermachen aber auch volkswirtschaftlich beobachtbare Ausmaße an. Es hat sich ein Markt gebildet, auf dem individuell genähte Mutterpasshüllen und Kindergartentaschen Absatz finden. Doch Hauptmotiv für das Selberwerkeln ist meist nicht der Wunsch, Geld zu sparen oder einzunehmen. Nur die wenigsten können mit ihrem kreativen Gespür und handwerklichen Geschick tatsächlich Geld verdienen. In den meisten Fällen handelt es sich eher um ein teures Hobby als um einen guten Nebenverdienst.

Wenn es aber gar nicht darum geht, mit selbstgefertigten Produkten Geld zu sparen, weshalb verbringen Do-it-yourself-Fans ihre Freizeit dann nicht mehr im Biergarten oder auf dem Sofa, sondern im Hobbykeller oder Strickclub? Müssten wir uns in Zeiten von Burnout und Dauerstress nicht eher durch Outsourcing entlasten: also die Hecke dem Gärtner, die Fototapete dem Maler und das Dinkelbrot dem Bäcker überlassen, statt alles wieder selbst zu machen?

In einer Arbeitswelt, in der jeder Einzelne mehr oder weniger ersetzbar ist, bietet das Heimwerkeln die Möglichkeit, sich von der Masse abzuheben. Wer selbst hämmert und lackiert, hat die Möglichkeit, selbstbestimmt den eigenen Vorstellungen von einem einzigartigen Produkt zu folgen. Fernab von Massenware halten die Selbermacher dann ein besonderes Einzelstück in den Händen. Do it yourself (DIY) steht also ganz im Zeichen der Individualisierung. Mit dem selbstgeschnitzten Messerblock können die Bastler ihre persönlichen Spuren in der Welt hinterlassen. Beim Selbermachen wird folglich auch das Sendungsbewusstsein der Menschen angesprochen.

Einen großen Unterschied zum Arbeitsalltag stellt die Tatsache dar, dass man es beim DIY mit einem abgeschlossenen Arbeitsvorgang zu tun hat. Das Produkt ist irgendwann fertig und darf bewundert werden. Das Ende des Arbeitsprozesses ist absehbar, es kann selbst herbeigeführt werden. Keine endlos scheinenden Aufgaben, die einen bis in den Schlaf verfolgen.

Den immer komplexer werdenden geistigen Vorgängen im Arbeitsleben wird eine simple, einfache und handfeste Tätigkeit entgegengesetzt. Wer eine Hecke pflanzt, konzentriert sich auf diese eine Handlung. Da gibt es kein hektisches Hin-und-her-Springen zwischen verschiedenen Aufgaben, kein Gleichzeitigtun. Damit können die DIY-Hobbys beim Innehalten in schnelllebigen Zeiten helfen. Sie bilden ein Gegengewicht zur beschleunigten Gesellschaft. Zeit wird bewusst „verschwendet“. Und dennoch muss man sich am Ende des Tages nicht fragen, was man eigentlich gemacht hat und wo die Stunden hin sind.

Ein weiteres Manko der Schreibtischarbeit: Gleich mehrere unserer fünf Sinne verkümmern dabei. In der heutigen Smartphone- und Tabletwelt findet eine Entfremdung vom sinnlichen Erleben statt. Doch beim Basteln und Bauen haben die DIYler endlich wieder sinnliche Erfahrungen: Statt ausschließlich Maus und Tastatur zu berühren, dürfen sie mit den Fingern über ungehobeltes Holz fahren, die Hände im Teig oder in der feuchten Erde vergraben, statt angestaubter Akten riechen sie frischen Lack, Lavendel oder selbstgebrannten Lorbeerschnaps. Das Erleben mit allen Sinnen steht im Vordergrund und nicht die Reduzierung des menschlichen Körpers auf Gehirn, Hände und Augen für die Bildschirmarbeit. Und so wundert es nicht, dass es nicht mehr nur Hausfrauen und Großmütter sind, die stricken und einwecken. Seit einigen Jahren sind es auch immer mehr Jugendliche und neuerdings auch Männer, die stricken und sich etwa im Strick-Blog Maleknitting dazu austauschen.

Hinzu kommt, dass die kreativen Selbermacher Zugang zu einer verloren geglaubten Welt finden. Kenntnisse über die Herstellung der Dinge werden wieder ins Bewusstsein gerufen: Wo kommen Nudeln und Sommerkleider her, und wie entstehen sie? Verschüttete Zusammenhänge werden wiederentdeckt und zelebriert. Wer selbst werkelt, wird stärker in den Produktions- und Designprozess integriert. So kann Kontrolle über die eigene Welt (wieder)erlangt werden. Im Joballtag erkennen immer weniger Menschen die Wirksamkeit ihrer Arbeit und die Wichtigkeit ihrer Handlungen, da sie selbst nur einen kleinen Teilbereich einer großen Aufgabe bearbeiten. Im eigenen Garten dagegen sind sie selbst die Bauherren und genießen das Gefühl, Einfluss nehmen zu können.

Selbstbestimmtheit und Unabhängigkeit stehen beim Selbermachen also im Vordergrund. DIYler werden von der Fantasie einer gewissen Autarkie angetrieben. Die Vorstellung, dass man ganz allein für sich selbst sorgen könnte, wird durch das Selbermachen beflügelt. Unsere Welt ist durch das World Wide Web und die Globalisierung immer größer und grenzenloser geworden – beim Werkeln wird sie durch den Rückzug ins Private wieder begrenzt. Die Selbermacher sind nicht mehr nur davon abhängig, sich an Produkten des Marktes zu bedienen, sie können auch Produkte in den Markt einstellen. Das eingefahrene Machtgefüge zwischen Produzent und Konsument wird für einen kurzen Moment ausgeglichen: Der „Prosument“ ist geboren. DIY-Fans reagieren nicht mehr nur auf die Angebote des Marktes. Sie formulieren ihre Bedürfnisse wieder selbst.

In einigen Bereichen wird der Markt sogar maßgeblich vom Selbermachtrend beeinflusst, etwa bei Kleidung und Dekoartikeln. Vor allem aber wächst der Bedarf an DIY-Anleitungen, an Rohstoffen für die Bastler und an vorgefertigten Nähsets zum Fertigstellen für zu Hause. Der Gesamtmarkt für Handarbeitsbedarf ist 2012 um 15 Prozent gestiegen. Der Umsatz der Edition Fischer, die auf Ratgeber für Hobbykünstler spezialisiert ist, steigerte sich in den Jahren 2012 und 2013 um ganze 60 Prozent.

Das Selbermachen lohnt sich also auch für die Industrie. Es findet eine regelrechte Kommerzialisierung der DIY-Welt statt. Und so kostet manches Nähgarn mehr als ein Kinder-T-Shirt im Kleidungsgeschäft um die Ecke. Die „Autarkie“ muss zum Teil also ein Traum bleiben. Die meisten DIYler werden ja durch die unternehmerischen Angebote überhaupt erst in die Lage versetzt, Produkte selbst zu gestalten. Wer aber von der Modeindustrie enttäuscht ist und sich ärgert, dass es in der Kinderabteilung nur noch Kleidung in Rosa und Hellblau gibt, der kann – Zeit und Geld vorausgesetzt – Produkte nach seinen eigenen Wünschen kreieren.

Und wer sich von sinnlichem Erleben entfremdet fühlt, vom Büroalltag gestresst und erschöpft ist, dem kann das Stricken und Einwecken bei Sinnsuche und Entspannung helfen. In der Freizeit etwas selbst herzustellen kann als optimales Gegengewicht zu Dauerbereitschaft, Multitasking und Bildschirmarbeit angesehen werden.

Doch taugen diese Tätigkeiten tatsächlich zum Entspannen? Stellen sie dann vielleicht sogar eine Möglichkeit der Prophylaxe für Menschen dar, die von Burnout bedroht sind? Der Diplompsychologe, Psychotherapeut und Erste Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft für Entspannungsverfahren, Björn Husmann, sieht Chancen für das Erholen durch das Selbermachen: „Menschen empfinden selbstbestimmte Aktivitäten als erholsam, die eine angenehme, persönlich erwünschte Herausforderung darstellen, die neben Freude, Erfüllung und Entspannung auch ein Ruhegefühl vermitteln, weil sie Gedanken–zum Beispiel an die Arbeit – in den Hintergrund treten lassen.“

Aber auch hier ist Vorsicht geboten, denn sonst droht die „Erholungskur“ ins Gegenteil umzuschlagen: Insbesondere Mütter erleben, wie der DIY-Trend nicht notwendigerweise zur Gesunderhaltung beiträgt, sondern diese sogar gefährden kann – wenn er zum Zwang wird. Alles Selbstgebastelte, -gekochte und -gebackene wird in der Mütter-Community als erstrebenswert dargestellt. Die Bewertung anderer Mütter, ihr Ansehen in Kita und Schule hängt allzu oft ausschließlich von dem Kriterium „aufwendig selbstgemacht“ ab. Die Prämisse ist dabei: Was keine Zeit kostet, ist auch nichts wert. Der DIY-Aufgabenkatalog für Mütter ist umfangreicher denn je: Einladungen zu Geburtstagen  o, Schultüten, Kostüme, Fotokalender und vieles mehr. Babytagebücher sollen geschrieben, Fotocollagen geklebt, Freundschaftsbücher ausgefüllt, Schwangerschaftsbauch- und Babyhandabdrücke gefertigt werden. Brei aus dem Gläschen gilt als verpönt. Die Torten für Kindergeburtstage in Schlangen-, Piratenschiff- oder Baggerform lassen selbst gelernte Konditoren vor Neid erblassen. Mütter, die zum Kindergartenfest nur Tiefkühldonuts beisteuern, werden ausgegrenzt und belächelt. Der immer mitschwingende Vorwurf, keine gute Mutter zu sein, sitzt wie ein tiefer Stachel im Selbstbewusstsein.

Die neue Hausfraulichkeit, die bei den DIY-Müttern ausgerufen wurde, ist nicht nur anachronistisch, sondern macht die Frauen auch unzufrieden und unglücklich. Der Zeitaufwand, den das Kochen, Backen, Nähen und Basteln mit sich bringt, ist enorm. Zeit, die Mütter gut gebrauchen könnten, um ein paar Minuten für sich zu haben oder auch um wieder in den Beruf einzusteigen. Insofern zementiert der DIY-Trend die traditionellen Geschlechterverhältnisse. Berufliches Engagement wird für die Selbermachmütter deutlich erschwert. Wer zu Hause stundenlang an der perfekten Torte bastelt und mit allerlei DIY-Projekten beschäftigt ist, hat keine Zeit mehr, berufliche Herausforderungen anzunehmen. Diese neue Hausfraulichkeit bewirkt also einen anti­e­manzipatorischen Rückzug ins Private.

Weshalb basteln, backen und kochen die Mütter dann? Warum lassen sie sich unter Druck setzen? Mütter werden auch heute noch fast ausschließlich über ihre Mutterschaft definiert. Die Ansprüche an die Mutterrolle sind ins Unermessliche gestiegen. Und so erleben sie sich permanent als defizitär, haben Schuldgefühle und ein schlechtes Gewissen. Daher versuchen Mütter sich selbst aufzuwerten, indem sie auf den DIY-Zug aufspringen – und sogar andere Mütter damit unter Druck setzen.

Grundsätzlich bieten DIY-Tätigkeiten zwar positive Entspannungseffekte für Personen, die Selbstbestimmung sowie echten Stolz auf ihre Arbeit vermissen und eine Auszeit von Multitasking und Dauerbereitschaft brauchen. Doch das eifrige Selberwerkeln sollte nicht überdecken, was im Berufsleben und Alltag für viele längst zur großen Belastung geworden ist: die besinnungslose Betriebsamkeit. So nutzen Berufstätige häufig jede Pause, jede Warteschleife, um sie mit sinnvollen Tätigkeiten zu füllen und den Output noch zu steigern. Viele haben Schwierigkeiten, Pausen mit Müßiggang und Tagträumen zu verbringen. Und gerade diese Personen verbringen dann ihre Freizeit oft mit DIY-Tätigkeiten, um auch hier keine Minute „ungenutzt“ verstreichen zu lassen.

Wer Selbstbestimmung, konzentriertes Arbeiten und Feierabendgefühle am Arbeitsplatz vermisst, dem wird auf lange Sicht nicht helfen, in seiner Freizeit Stühle zu restaurieren und Sonnenblumen zu pflanzen. Das Selberwerkeln sollte nicht zum Verdrängungsinstrument werden. Denn DIY-Aufgaben können das Hamsterrad nicht wirksam und dauerhaft entschleunigen. Wer am Arbeitsplatz seine Zufriedenheit und Gesundheit gefährdet sieht, sollte sich nicht ins Heimwerken flüchten, um Stress und Belastungen zu verdrängen.

Christina Mundlos, Jahrgang 1982, ist Soziologin und Germanistin. Sie ist Referentin im Gleichstellungsbüro und Leiterin des Familienservicebüros der Leibniz-Universität Hannover. Im Jahr 2012 erschien ihr Buch Mütterterror – Angst, Neid und Aggressionen unter Müttern.

Literatur

  • Helmut Gold, Annabelle Hornung, Verena Kuni und Tine Nowak (Hg.): DIY – Die Mitmach-Revolution. Ventil, Mainz 2011

  • Stephan Grünewald: Die erschöpfte Gesellschaft. Campus, Frankfurt a. M. 2013

  • Angela McRobbie: Feminism and the new ‘mediated’ maternalism: human capital at home. Feministische Studien, 31/1, 2013, 136–143

  • Christina Mundlos: Mütterterror – Angst, Neid und Aggressionen unter Müttern. Tectum, Marburg 2013

  • Birgit Richard, Alexander Ruhl (Hg.): Konsumguerilla – Widerstand gegen Massenkultur? Campus, Frankfurt a. M. 2008

  • Bärbel Wardetzki: Weiblicher Narzissmus. Kösel, München 2004

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 1/2015: Muss ich perfekt sein?