Im Juli 1990 stand die britische Heavy-Metal-Band Judas Priest in den USA vor Gericht. Kläger waren die Eltern zweier Teenager aus Nevada. Sie glaubten, unterschwellige Botschaften in Judas-Priest-Songs hätten ihre Söhne zu Suizidversuchen veranlasst – der eine Junge starb, der andere erlitt bleibende gesundheitliche Schäden und schwere Entstellungen.
Die eigentlich naheliegende Frage danach, was Ursache und was Effekt ist und ob junge Menschen vielleicht aufgrund dysfunktionaler Familien oder…
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oder gesellschaftlichen Anpassungsdrucks im Heavy Metal einen Zufluchtsort suchen, wurde von der Anklage ausgeklammert. Im Laufe des Prozesses stellte sich heraus, dass die beiden Jungen aus Problemfamilien stammten und Drogen konsumiert hatten – Freispruch für Judas Priest.
Der aufsehenerregende Prozess fand in einer Zeit statt, in der in Büchern und den Medien gerne vor den fatalen Folgen von Rock, Hardrock und Heavy Metal gewarnt wurde – wie es etwa Mitte der 1980er Jahre der christliche Autor Ulrich Bäumer in seinem in vielen Auflagen erschienenen Buch Wir wollen nur deine Seele tat.
Bäumer nahm darin keine Differenzierungen vor und verrührte alles, was verzerrte Gitarren und ein düsteres Image aufwies, zu einem Brei des Bösen: „Rockgruppen, die mit dem Okkulten spielen, öffnen sich damit automatisch satanischen Mächten und laufen Gefahr, dass sich der ursprüngliche ,Spaß‘ schneller mit teuflischem Ernst verbindet, als ihnen lieb sein kann.“ Solche alarmistischen Einlassungen zu Metal waren bis weit in die 1990er Jahre verbreitet.
Teil des Bildungsbürgertums
Heute sieht es ganz anders aus. Seit einigen Jahren haben die Medien sichtliche Freude an Berichten über mal mehr, mal weniger seriöse Studien zu Heavy Metal. Dabei fallen die Resultate überraschend positiv aus. Und so liest sich das: „Heavy Metal macht den Menschen gut und glücklich“ titelte die Tageszeitung Die Welt 2015 und verwies auf eine Untersuchung der University of California.
Auch „netter, ruhiger, friedlicher“ seien Metal-Adepten, behaupteten Forscher der University of Queensland im selben Jahr. Wie um die frohen Botschaften des Happy-Metal-Jahres 2015 auf den Gipfel zu treiben, veröffentlichte die Heriot-Watt-Universität eine Studie, laut der Heavy-Metal- und Klassikliebhaber identische psychologische Profile aufweisen. Metal goes Bildungsbürgertum – wer hätte das gedacht.
Andererseits zählt auch Friedrich Schillers skandalöses Frühwerk Die Räuber (1781) – eine Art theatrales Stück Metal avant la lettre – heute wie selbstverständlich zum bildungsbürgerlichen Kanon. Um 1800 fürchtete man, Sturm und Drang werde die Jugend verderben, wie man um 1980 fürchtete, Metal werde dasselbe tun. Im Jahr 2007 gab eine vielzitierte Untersuchung der University of Warwick Entwarnung – die beteiligten Forscher wollten herausgefunden haben, dass überdurchschnittlich begabte Jugendliche überdurchschnittlich oft Heavy Metal hörten.
Komplexe Strukturen
Nüchtern betrachtet überrascht das nicht. Heavy Metal ist eine komplexe, kognitiv wie auch emotional herausfordernde Musik, von handwerklichen und athletischen Aspekten ganz zu schweigen. Viele Autoren haben Parallelen zwischen Heavy Metal und klassischer Musik festgestellt – nicht nur mit Blick auf die oben erwähnten psychologischen Aspekte, sondern auch mit Blick auf kompositorische.
Vor allem im Gitarrenspiel nähere sich Heavy Metal den hohen Ansprüchen der Klassik an, stellt etwa der Musikwissenschaftler Dietmar Elflein in seinem Buch Schwermetallanalysen fest: „Elemente aus der abendländischen Kunstmusik [Klassik], insbesondere des Barock […] finden […] Eingang in das Gitarrenspiel jenseits des individuellen solistischen Ausdrucks.“
Zum spieltechnischen Anspruch und zur kompositorischen Komplexität vieler Metal-Stücke kommt mit der Verzerrung von Gitarre, Bass und der Stimme noch die charakteristische klangliche Dimension des Genres hinzu, die sich wie eine akustische Allegorie des modernen Großstadtlebens ausnimmt.
Schwer zugängliche Musik
Dieses Leben ist nicht nur vielschichtig und dynamisch, sondern auch, zumindest für neu Hinzugezogene, laut, chaotisch, verstörend. Es verlangt den Bürgern einiges ab, sich darin zurechtzufinden. Verzerrte Klänge bilden da eine passende symbolische Form. Doch erst „alles zusammen, also Verzerrung, Powerchords, Lautstärke und das dadurch hervorgebrachte größere Teiltonspektrum, verursacht den Eindruck der Härte.
Genau diese Härte ist es, die ungeubte Hörer überfordert und ihnen Metal als reinen Krach erscheinen lässt“ – so der katholische Theologe Sebastian Berndt in seiner brillanten Metal-Studie Gott haßt die Jünger der Lüge. Ein Versuch über Metal und Christentum. Unter anderem verteidigt er darin den klassischen Heavy Metal gegen immer wieder vorgebrachte Satanismusvorwürfe – ausgerechnet ein katholischer Theologe!
Die bürgerliche Annäherung an Metal geht mittlerweile so weit, dass Ulf Poschardt, Chefredakteur der Welt, den extremen Black Metal im Jahr 2016 zur „Musik der Stunde“ ausrief. Nicht der Black Metal, schrieb Poschardt, bringe Hass und Gewalt: „Solange es Hass und Gewalt gibt, gibt es Black Metal.“ Die Welt ist also schuld daran, dass es diese abgründige Musik gibt. Das klingt doch ganz anders als in Ulrich Bäumers Buch. Für Letzteren stand fest, dass Metal Hass und Gewalt erzeuge und nicht etwa eine kritische Reflexion derselben sei.
Metal als Resilienztraining
Die neue Entspanntheit im Umgang mit dem Metal und seine Aufwertung zeugen vom gesellschaftlichen Wandel in den liberaldemokratischen, säkularen Konsumkulturen des Westens. In kultureller Devianz sieht man nicht mehr reflexhaft einen Ausdruck psychischer Störungen oder moralischen Niedergangs, sondern eher ein Potenzial für Innovation und Kreativität sowie einen Sparringspartner für die Arbeit am Selbst.
Eine 2018 in dem Journal of Community Psychology veröffentliche Studie der University of South Australia kam zu dem Schluss, dass die devianten „Metal-Identitäten den Teilnehmern [dabei halfen], Stress in schwierigen Umgebungen zu überstehen und starke und nachhaltige Identitäten und Gemeinschaften aufzubauen, wodurch potenzielle Probleme der psychischen Gesundheit gemildert wurden“.
So betrachtet, kann Metal ein Resilienztraining sein. Mehr noch: In wohlstandsverwöhnten Konsumkulturen hilft er mit seiner Krisen- und Endzeitstimmung, die Neigung zu posthistorischer Erschlaffung zu durchkreuzen. Metal-Kids wachsen in apokalyptisch durchpulsten Symbolwelten und -atmosphären auf – Tod, Verderben, Zusammenbruch der Ordnung sind ihre ständigen Begleiter, auch wenn sie in einer vordergründig heilen Bullerbüwelt leben. Wenn diese Welt aus den Fugen gerät, sind sie zumindest nicht überrascht.
Wenn man sich auf das Schlimmste einstellt
Metaller wissen, dass das Leben mies und Armageddon nahe ist – sprich: Sie sind mental gewappnet. Sicherlich kann Metal in Einzelfällen Depressionen oder nervliche Überreizung verstärken. Doch für andere Menschen bilden die musikalische Härte und die inhaltliche Negativität des Metal ein Antidot gegen die schwer zu ertragende Süße der Konsumgesellschaften mit ihrem materiellen Überfluss.
Auf eine Formel gebracht, ließe sich sagen: Je softer das Leben im Westen wurde, desto härter wurde der Metal. Kann die westliche Moderne mit dem Soziologen Zygmunt Bauman als Versuch verstanden werden, den Schmutz, die Erbärmlichkeit und die Tragik der menschlichen Existenz in eine dicke, wohlriechende Parfümwolke zu hüllen, so bringt Metal im Ästhetischen etwas von jener existenziellen Härte zurück, die für frühere Generationen zur Normalität gehörte.
Und erscheint Metal mit seinen überdrehten, comicartigen Bild- und Textwelten zwar oft als peinlich, so ist er doch ein popkulturelles Bollwerk gegen das, was der Kulturkritiker Günther Anders als „Apokalypseblindheit“ bezeichnete – das Ausblenden von Gefahr durch Honigkuchenträume, naiven Fortschrittsglauben und Zweckoptimismus.
Musikgewordene Apokalypse
Genau deshalb schmeckte und schmeckt Metal den Eliten in sozialistischen Regimen nicht. Wo Optimismus zur Staatsdoktrin wird, da passt die Negativität und die spätestens seit Judas Priests technikkritischem Song Metal Gods im Genre fest verankerte Fortschrittsskepsis nicht ins offizielle Bild. Doch Optimismus rund um die Uhr ist psychisch schwer zu ertragen. Er erzeugt Frust und Stress, da er permanent mit der ambivalenten, hybriden Realität kollidiert. Metal verschafft Abhilfe – die musikgewordene Apokalypse als Erleichterung und Entlastung. Endlich kein Zwang zur guten Laune!
Mit einem Romantitel von Milan Kundera ließe sich spekulieren, dass die Entstehung des Metal im England der späten 70er Jahre auch eine Erwiderung auf jene „unerträgliche Leichtigkeit des Seins“ war, die Werbung und Massenmedien seit der Nachkriegszeit in den westlichen Konsumkulturen propagieren. Damit stellt Metal, ohne dass es so geplant gewesen wäre, einen Gegenentwurf zu jener speziellen Ausprägung des Kapitalismus dar, die Zygmunt Bauman im Jahr 2000 als „flüchtige Moderne“ beschrieben hat.
Seit der Nachkriegszeit versuche sich der Kapitalismus den Anschein von Leichtigkeit zu geben. Er inszeniere sich als „schwerelos“ und sei „mit leichtem Marschgepäck unterwegs“, immer guter Dinge, „auf der Suche nach kurzen Abenteuern“, schreibt Bauman. Die Lavariffs von Black Sabbath oder die bleiernen Themen von Metallica sind genau das nicht: leicht. Luftig. Unverbindlich. Schwerelos. Guter Dinge.
Mit einem leichten Leben unterfordert
Metal trat seine Reise durch das 20. Jahrhundert mit schwerem Marschgepäck an. Kurze Abenteuer waren seine Sache nicht, wenngleich er stets bereit für Neues ist – solange es nicht der Logik des „neuen Managements“ folgt: „dunner machen, verkleinern, auslaufen lassen“, wie Bauman es formuliert.
Während die Unternehmen schlank werden wollten, rüstete Metal auf. Dichterer Sound, mehr Equipment, mehr Personal, mehr Lastwagen, immer grandiosere Bühnenarchitekturen mit Burgen wie bei Ronnie James Dio, Flugzeugskeletten wie bei Motörhead, Pyrotechnik wie bei Venom oder Versatzstücken altägyptischer Bauten wie bei Iron Maiden. Aus psychologischer Sicht ist das vielsagend: Es gibt Menschen, die ein schweres Leben einem leichten Leben vorziehen, die sich mit Letzterem unterfordert oder nicht ernst genommen fühlen.
Eine andere These, die Katharsistheorie, besagt, dass Metal helfen soll, negative Energien abzubauen. Vor allem innerhalb der Metal-Szene selbst ist diese meist apologetische Sicht weit verbreitet. Prika Amaral, Gitarristin der brasilianischen Thrash-Metal-Band Nervosa, erklärte 2018 in einem Interview: „Zu aggressiver Musik kommt man zusammen, um gemeinsam negative Energien rauszulassen. Man kann natürlich auch ruhige Musik hören, um sich zu beruhigen. Therapeutisch wirksam ist es in jedem Fall.“
Innere Reinigung
Sabina Hirtz (vormals Classen), deutsche Thrash-Metal-Pionierin und Sängerin von Holy Moses, arbeitet heute als Psychotherapeutin bei Hamburg und bietet unter anderem Schreitherapien an. Auch aus ihrer Sicht ermöglicht Metal kathartische Erfahrungen. Im Gespräch betonte sie in diesem Jahr, „wie wichtig es ist, dass auch du als Therapeut etwas hast, bei dem du dich austoben kannst, um dann in eine große Zufriedenheit und Ausgeglichenheit zu gehen“. Dieses „etwas“ ist für sie ein Auftritt mit Holy Moses.
Hirtz geht aber noch einen Schritt weiter und vergleicht Metal mit tiergestützter Psychotherapie – ein Gedanke, der zunächst absurd erscheint und gerade in der gegenbewegten Frühphase des Metal wohl auf die meisten Musiker wie auch Anhänger lächerlich gewirkt hätte. Doch Hirtz hat ihre Gründe. Auf der Bühne nehme sie eine power position ein, erzählt sie. Die kraftvolle Energie, die sie dort aufbaue und präsentiere, könne sich auf die Fans übertragen – im besten Fall trügen diese etwas von der Energie mit nach Hause.
Auch bei der tiergestützten Therapie, argumentiert Hirtz, könne eine solche Übertragung von Energie stattfinden, etwa von Pferd zu Mensch. Und noch etwas verbinde diese Art der Therapie mit dem Metal: „Das Pferd urteilt nicht. Es nimmt an. Das ist zentral in der tiergestützten Therapie. Du darfst sein, wie du bist. Und im Metal – so zumindest fühle ich das – darf man auch sein, wie man ist. Da wird auch kaum verurteilt.“
Nach außen abgegrenzt, nach innen integriert
Zwar lässt sich diese Behauptung nicht wirklich verifizieren und verallgemeinern. Metal ist eine äußerst komplexe Popmaschine aus unzähligen Subgenres, von Power Metal über Black Metal und Death Metal bis hin zu Doom Metal und Drone Metal. Der Poptheoretiker Diedrich Diederichsen beschreibt den heutigen Metal treffend als „scheinbar unentwirrbares und immerfort weiterwucherndes Geflecht von Sub- und Nachfolgegenres […], deren Klassifizierung und Determinierung mittlerweile der Umzäunung von Parzellen in der Wüste gleichkommt“.
Auch ist die Gegenthese, dass Metal ebenso gut Aggressionen verstärken oder Hass Ausdruck verleihen kann, nicht von der Hand zu weisen. Und sicherlich haben Menschen Erfahrung mit Verurteilung, Ausgrenzung und Ablehnung im Metal gemacht. Doch Letztere betreffen eher die Menschen außerhalb der Metal-Szene, nicht ihre Anhänger selbst.
Innerhalb der Szenen und Subszenen ist Metal tatsächlich oft erstaunlich tolerant. So fand die US-amerikanische Genderforscherin Amber R. Clifford-Napoleone in einer Umfrage unter queeren Metal-Fans heraus, dass diese kaum je negative Erfahrungen in ihren jeweiligen Szenen machen: „Weniger als ein Prozent meiner Informanten hat jemals Gewalt aufgrund von Geschlechtsidentität oder Sexualität erlebt. Die hypermaskuline Fassade des Metal projiziert eine grassierende Homophobie, aber im Inneren des Metal-Queer-Scape scheint sie nicht vorhanden zu sein.“ Die Autorin führt dies auf die outsider togetherness zurück, die Metal-Fans verbindet.
Etwas holzschnittartig lässt sich sagen, dass im Metal nach außen abgegrenzt und nach innen integriert wird. Heavy Metal, ein safe space? Wer hätte das gedacht! Dabei ist der Gedanke gar nicht mal weit hergeholt. Der frühere Sänger der schweizerischen Grindcore-Band Fear of God und heutige Historiker Erich Keller sprach 2017 in einem Interview mit dem Schweizer Tages-Anzeiger vom Metal als einem „Fluchtraum“ der 1980er Jahre: „Beim Metal ging es darum, unter den Vorzeichen eines gewaltigen gesellschaftlichen Gegendrucks eine eigene Kunstform zu etablieren.“
Erst Protest, dann Bildungsbürgertum
Versuchten traditionalistische Gesellschaften, ihre jeweiligen Gegenkulturen zu eliminieren wie ein Immunsystem Eindringlinge, so zeugt die aktuelle Entwicklung des Metal davon, dass sich ein anderer Umgang mit Abweichlern durchgesetzt hat. Trotz Skepsis und Ablehnung werden die Renegaten früher oder später, solange sie nicht gerade zum bewaffneten Umsturz aufrufen, eingemeindet – die Künstler des Dadaismus beispielsweise ahnten nicht, dass sie dereinst als Erfüllungsgehilfen des Zürcher Stadtmarketings enden würden, die Generation der 68er bekleidete bald schon hohe Ämter, und das von Bildungsbürgern als infantil belächelte Comicgenre zählt mittlerweile zu den etablierten und subventionierten Kulturgütern.
Heute kann man sich sicher sein, dass die anfängliche Ablehnung einer verruchten Kultursparte ein heimliches Initiationsritual für die Aufnahme in den Kreis des Gangbaren ist. Novizen in Stammeskulturen mussten symbolisch von einem Ungeheuer verschlungen werden, um danach eine Reinkarnation als vollwertige Stammesmitglieder zu erleben. Genauso muss ein junges Element der liberaldemokratischen Konsumkultur zunächst von der Kritik verschlungen werden und einen symbolischen Tod sterben, um danach als Teil der Gemeinschaft wiedergeboren zu werden. So ist es auch mit dem Heavy Metal.
Literatur
Amber R. Clifford-Napoleone: Queerness in heavy metal music. Metal bent. Routledge, London/New York 2015
Sebastian Berndt: Gott haßt die Jünger der Lüge. Ein Versuch über Metal und Christentum. Tredition, Hamburg 2012
Paula Rowe, Bernard Guerin: Contextualizing the mental health of metal youth: A community for social protection, identity, and musical empowerment. Journal of Community Psychology, 2018. DOI: 10.1002/jcop.21949