Herr Bregman, wenn wir an die Geschichte denken, stehen wir Menschen nicht allzu gut da. Krieg und Gewalt prägten die letzten dreitausend Jahre. Aber Sie sagen, dass die Menschen eigentlich gut sind. Wie kommen Sie darauf?
Ich glaube, dass wir die freundlichste und grausamste Spezies der Evolution zugleich sind. Wir sind sowohl supersoziale Lernmaschinen als auch Gewalttäter, die Verbrechen begehen können, die es im Tierreich niemals geben würde – zum Beispiel Gaskammern bauen. Wenn Sie sich die Geschichte…
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die es im Tierreich niemals geben würde – zum Beispiel Gaskammern bauen. Wenn Sie sich die Geschichte der Evolution aber genauer anschauen, merken Sie schnell: Ohne unsere Freundlichkeit und Fähigkeit zur Kooperation hätten wir als Spezies gar nicht überlebt.
Wieso nicht?
Weil unser Gehirn im Lauf der Evolution geschrumpft ist, wir wurden immer schwächer, verletzlicher und kindlicher. Allein aufgrund unserer physischen Fähigkeiten hätten wir es wohl nie durch die Eiszeit geschafft. Wir sind stark, weil wir im Kern sozial und vernetzt sind, also zusammenhalten. Der Anthropologe Brian Hare spricht deshalb statt von Darwins survival of the fittest vom survival of the friendliest.
Aber zeichnet uns dieses Verhalten tatsächlich in Krisensituationen aus?
Der Mythos, dass die Menschen in ihrem tiefsten Inneren egoistisch, panisch und aggressiv sind, hält sich hartnäckig. Die Geschichte lehrt uns aber das genaue Gegenteil: Gerade inmitten der größten Katastrophen kommt häufig das Beste in uns zum Vorschein. Als der Wirbelsturm Katrina 2005 die Stadt New Orleans traf und fast zerstörte, waren die Zeitungen voll mit Berichten über Vergewaltigungen und Schießereien. Es gab sogar Geschichten über plündernde Gangster und Scharfschützen auf den Dächern.
Später, als das Wasser wieder abgelaufen war, stellte man fest, dass das alles gar nicht stimmte. Die Schüsse des Scharfschützen waren das Ventilgeklapper eines Gastanks gewesen. Es existierten keine Polizeiberichte über Morde oder Vergewaltigungen. Und die Plünderer waren hungrige Leute gewesen, die in der überfluteten Stadt in Geschäfte einbrachen, um etwas zu essen zu finden, manchmal sogar mithilfe der Polizei. Es stellte sich sogar heraus: Die Mehrheit der Stadt hatte prosoziales Verhalten gezeigt. Die Leute halfen sich!
Beruhigend zu wissen.
Eigentlich entspricht das Verhalten der Menschen in New Orleans genau dem wissenschaftlichen Bild, wie Menschen auf Katastrophen reagieren. Das Disaster Research Center in Delaware erforscht seit 1963 das Verhalten der Menschen in Katastrophen und kommt immer wieder zum Ergebnis, dass nach einer Katastrophe keine totale Panik ausbricht. Die Zahl der Verbrechen nimmt in der Regel ab. Stattdessen helfen sich die Menschen meistens. Und das auf eine häufig sehr effektive Weise.
So argumentiert auch der amerikanische Soziologe Nicholas Christakis in seinem Buch über Schiffbrüche.
Ja, das ist ein tolles Buch. Christakis hat Schiffbrüche der letzten Jahrhunderte untersucht und ist zum Ergebnis gekommen, dass diejenigen Passagiere die beste Überlebenschance hatten, die sich auf Schiffen befanden, auf denen Crew und Passagiere gut kooperierten. Diese Zufallsgemeinschaften von Menschen konnten sich also gegenseitig sehr gut helfen, wenn sie an einem Strang zogen. Wenn wir uns also kooperativ verhalten, wie wir es ja tatsächlich oft tun, können wir sehr viel erreichen.
Wenn wir wirklich besser sind, als wir denken: Woher stammt dann dieser Mythos, dass wir selbstbezogen und aggressiv seien?
Zum einen spielen die Medien eine Rolle. In den Nachrichten hören wir ständig Berichte über Gewalt, Aggression und Krieg, weil diese Ereignisse vermeintlich besonderen Nachrichtenwert haben. Tatsächlich weiß man aber am Ende einer Nachrichtensendung genau, wie die Welt nicht funktioniert. Schließlich gibt es um uns herum eben nicht ständig Gewalt und Aggression. Aber schaut man sich dann die westliche Geschichte an, merkt man: Die Idee, dass Menschen egoistisch sind, ist uralt und tief in unsere Kultur eingeschrieben.
Durch die Idee der Erbsünde?
Egal wohin Sie schauen: die alten Griechen, die frühen Kirchenväter, die Aufklärer – sie alle hatten ein ziemlich negatives Menschenbild. Und das ist noch heute so, egal ob links oder rechts des politischen Spektrums, ob Christ oder Atheist. In den letzten fünfzehn bis zwanzig Jahren haben wir allerdings eine wissenschaftliche Revolution miterleben dürfen. Anthropologen, Soziologen, Ökonomen widerlegen heute die Doktrin des selbstbezogenen und egoistischen Menschen, wir kommen zu einem realistischeren Bild der Menschheit, das Kooperation und Solidarität in den Vordergrund rückt.
Dennoch ist unser Weg von den antiken Zivilisationen bis in die Gegenwart gepflastert mit Gewalt und Ausbeutung.
Das stimmt. Als Jäger und Sammler waren wir noch ganz friedlich. Aus der Anthropologie und Archäologie wissen wir, dass das Leben in der Steinzeit ziemlich relaxed war, man hat zwanzig bis dreißig Stunden die Woche gearbeitet und sich gesund ernährt, viel Gemüse, wenig Fleisch. Die Gesellschaften waren nahezu feministisch und sie waren insgesamt auf soziale Gleichheit ausgerichtet. Auch aus Analysen der Skelette können wir schlussfolgern, dass es bis vor 10000 Jahren kaum Gewalteinwirkungen untereinander gab. Die alte Geschichte, dass wir Wilde waren und erst durch die Zivilisation gezähmt wurden, stimmt also nicht. Im Gegenteil. Wir waren friedlich und prosozial. Erst als wir uns niederließen und begannen, Ackerbau zu betreiben, ging es abwärts mit uns.
Die Zivilisation machte aus unserer freundlichen also eine grausame Spezies?
Sie machte unser Zusammenleben zumindest konfliktreicher. Dörfer und Städte entstanden, die Bevölkerung wuchs, je nach Ernte plagten sie nun Hungersnöte und Krankheiten. Man begann, Besitz zu erwerben, Hierarchien zu schaffen und sich zweifelhaften Führern anzuvertrauen. Damit begann eine neue Ära in der Menschheitsgeschichte. Ab dann unterdrückte ein Prozent der Bevölkerung die restlichen 99 Prozent. So entstanden Kriege, Konflikte, der Staat. Eigentlich erst seit ein paar Jahrzehnten ist unser Leben zumindest in der westlichen Welt richtig angenehm. Wir leben heute in Wohlstand und meist auch in guter Gesundheit. Allerdings wissen wir nicht, wie nachhaltig das ist und wie lange wir diesen Lebensstil weiterführen können.
Wenn wir im Kern gut und prosozial sind, warum folgt die Menschheit dann so häufig gewalttätigen Führern?
Wir sind zwar nicht von Natur aus aggressiv und antisozial, aber wir neigen dazu, uns manipulieren zu lassen und anderen unkritisch zu folgen. Unsere großen Stärken – unsere Fähigkeit zur Kooperation, unsere soziale Anpassungsfähigkeit, unser Bedürfnis, gemocht zu werden – sind manchmal auch unsere größten Schwächen. Deshalb nenne ich unsere Spezies gern Homo Puppy, also „Homo Hundewelpe“. Eigentlich mögen wir gar keine Gewalt, aber wenn man uns hart genug bearbeitet, sind viele zu Bösem imstande.
Das ist schwer zu verstehen, wenn man allein an die vielen Genozide im vergangenen Jahrhundert denkt, die Menschen begingen, etwa die Shoah, den Völkermord in Ruanda 1994, das Massaker im bosnischen Srebrenica im Jahr 1995.
Dennoch haben viele Studien ergeben, dass Menschen große Hemmungen haben, Gewalt auszuüben. Im Amerikanischen Bürgerkrieg etwa wurden die Bajonette von Soldaten kaum benutzt, weil kein Soldat sein Gegenüber von Angesicht zu Angesicht erstechen wollte. Nach dem Zweiten Weltkrieg begannen Historiker Kriegsveteranen zu interviewen und stellten fest, dass über die Hälfte von ihnen nie einen Gegner gezielt erschossen hatte. Die meisten Soldaten im Zweiten Weltkrieg wurden durch schwere Geschütze und Raketenwaffen, die aus großer Distanz abgeschossen wurden, getötet.
Wie wird die Gewalt entfesselt, wenn wir sie eigentlich nicht mögen?
Das Böse im Menschen muss meist mühsam an die Oberfläche gebracht werden. Zum Töten verhelfen nicht nur Langstreckenwaffen, sondern auch Maßnahmen, welche die psychologische Distanz zum Feind vergrößern. Heute macht es uns zum Beispiel die Technologie leichter zu töten, wir schicken einfach eine Drohne los. Aber auch eine innere Distanz tut ihren Zweck: Wenn man andere entmenschlicht, fällt es leichter, sie unmenschlich zu behandeln. Eine dritte Option: Drogen. In Paris haben die deutschen Besatzer im Zweiten Weltkrieg insgesamt 35 Millionen Methamphetamin-Tabletten eingenommen, ein Wirkstoff, der sehr aggressiv machen kann. In Vietnam wiederum wurden US-Soldaten auf Gewalt gedrillt, indem sie gewaltverherrlichende Bootcamps besuchen und „Kill, kill, kill“ schreien mussten.
Sie wurden abgestumpft.
Ja, aber viele kamen mit posttraumatischen Belastungsstörungen aus dem Krieg zurück. Denn Gewalt ist nun mal für die meisten von uns nichts Natürliches. Wir finden es schrecklich, sie auszuüben. Um zu verstehen, wie massive großflächige Gewalt entstehen kann, müssen wir in die Geschichte schauen. Meist stecken sehr komplexe Phänomene dahinter.
Das ist sicherlich richtig. Dennoch ist es schwierig, Ereignisse wie Auschwitz mit einem fundamentalen Gutsein des Menschen zusammenzubringen.
Das stimmt. Aber auch der Holocaust wurde im Großen und Ganzen nicht von Menschen angerichtet, die sich plötzlich in blutrünstige Bestien verwandelt hatten. Die meisten Täter waren überzeugt, auf der richtigen Seite der Geschichte zu stehen, schauen Sie sich doch Adolf Eichmann an. Natürlich gab es auch in Ausschwitz Menschen, die Gewalt liebten, ideologisch motivierte Psychopathen, Narzissten, Wahnsinnige. Aber die sind eher selten. Auschwitz war der Endpunkt eines langen historischen Prozesses, in dem sich das Böse als das Gute tarnte. Die meisten Deutschen, die an den Verbrechen der Nationalsozialisten beteiligt waren, hatten sich indoktrinieren lassen und handelten aus einer verfehlten Form der Pflichterfüllung heraus. Außerdem gab es eine gezielte und schrittweise Enthemmung und Entgrenzung, die immer mehr Gewalt möglich machte.
Die Idee, dass der Homo Puppy einer Art Gehirnwäsche unterzogen wurde, hört sich fast an wie eine Entschuldigung. Wo bleibt da die individuelle Verantwortung des Menschen?
Das entschuldigt natürlich gar nichts. Jeder Mensch hat die Pflicht, rational über seine Handlungen nachzudenken und sich auch für die Lebenswelten anderer Menschen zu interessieren. Wir denken ja schnell, dass unsere Familie und Freunde und wir selbst allesamt gute Leute sind und die anderen nicht, also diejenigen, die wir noch nicht kennen, die eine andere Kultur oder Religion haben oder vielleicht im Ausland leben. Das zu durchbrechen ist die moralische Pflicht jedes Einzelnen von uns.
Glauben Sie, dass die meisten Menschen das können?
Ich glaube, dass die meisten Menschen im Kern ziemlich anständig sind. Aber der Blick darauf ist uns verbaut worden. Vor allem seit Beginn des neoliberalen Zeitalters werden wir beherrscht vom Dogma, dass der Mensch selbstbezogen und gierig ist. Alles dreht sich nur noch um Gewinnmaximierung und Leistung. Die Ergebnisse sind Armut, Ungleichheit, Misstrauen, Einsamkeit, die Finanzkrise, der Brexit, Donald Trump. Aber was würde passieren, wenn Schulen und Unternehmen, Ministerien und Regierungen vom Guten im Menschen ausgingen? Wir müssen zu einem neuen neorealistischen Menschenbild kommen, um unsere Welt daran auszurichten und sie zu einem besseren Ort machen zu können.
Wie sähe dieser bessere Ort aus?
Inzwischen gibt es viele tolle und hoffnungsfrohe Ansätze. Es gibt heute viel mehr Möglichkeiten, an der Demokratie aktiv mitzuwirken. Auch die Arbeitswelt wird weniger hierarchisch, Energiegenossenschaften und Bürgerinitiativen werden gegründet. Das sind großartige Ideen, die aber alle einen neuen Blick auf die Menschheit fordern. Wenn ich zum Beispiel für ein bedingungsloses Grundeinkommen plädiere, sagen mir viele Leute: Das klappt nie, die Menschen sind zu egoistisch. Ich sage: Nicht nur Hass, auch Vertrauen ist ansteckend. Probiert es doch einfach mal!
Nun befinden wir uns inmitten einer Pandemie. Hat das Verhalten der Menschen in dieser Krisensituation Ihr positives Menschenbild verstärkt oder eher infrage gestellt?
Corona ist eine riesige Prüfung für unsere Gesellschaft. Es ist noch zu früh zu sagen, welche Effekte die Krise auf unsere Gesellschaft haben wird. Aber ja, im Großen und Ganzen sehe ich meine Theorie bestätigt. Die große Mehrheit in meiner Heimat, den Niederlanden, verhält sich hilfsbereit und prosozial. Es gibt eine Explosion von solidarischen WhatsApp-Gruppen und Hilfsinitiativen. Hier gilt ebenfalls: Nicht nur Corona, sondern auch das Verhalten der Menschen ist ansteckend. Jedes Mal, wenn du Panik schürst, dann beeinflusst das andere Menschen. Jedes Mal, wenn du etwas Gutes tust – dann auch.
Rutger Bregman
lebt als Historiker und Journalist in den Niederlanden. Sein Buch Im Grunde gut. Eine neue Geschichte der Menschheit erschien dieses Jahr bei Rowohlt