Fahrradfahren, zoologisch

Der Mann fährt vorne, die Frau dahinter. Einzig Freund Christoph macht es schon immer anders, schreibt Psychologie Heute-Kolumnist Andreas Maier.

Die Illustration zeigt eine Familie, die an einem Bach entlang Fahrrad fährt, während auf dem Wasser eine Entenfamilie ist
Eigentlich will Andreas nicht vorneweg fahren, es ist ihm zu klischeehaft. © Jan Robert Dünnweller

Heute kam mir Dennis entgegen. Oder nennt ihn Julius. Egal. Circa 35 Jahre alt, hat eine Weile in einer Gastwirtschaft gearbeitet, währenddessen studiert, etwas mit Werbung, Kommunikation und Design. Dann ist er in seinen Beruf eingestiegen, hat eine – für meine Begriffe – wunderschöne Frau kennengelernt. Die Beziehung war nie ganz einfach, einiges musste sich wohl zuerst abschleifen, eine Zeit waren sie getrennt. Jetzt haben sie zwei Kinder, das eine ist vier, das andere sechs.

Ich erfinde das übrigens…

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Kinder, das eine ist vier, das andere sechs.

Ich erfinde das übrigens gerade alles, es gibt diesen Dennis oder Julius gar nicht, auch nicht die wunderschöne Frau, die beiden Kinder ebenfalls nicht.

Dennoch kam mir vorhin genau ein solches Viererpaar entgegen. Ich stand vor einer Gartenwirtschaft und sah die Szene. „Dennis“ fuhr mit seinem Fahrrad vorneweg. Lassen wir unseren erfundenen Dennis (oder Julius?) trotzdem noch eine Weile konkret! Und tun wir so, als kennten wir sie.

Hallo Dennis! (oder Julius)

Er: Hallo!

Ich zum ersten Kind: Na, wo kommst du denn gerade daher?

Erstes Kind schaut mich an, sagt nichts, wirkt etwas verschüchtert.

Zweites Kind kommt jetzt auch mit dem Fahrrad angewackelt. Nach dem zweiten Kind kommt Mara angefahren, Dennis’ (oder Julius’) Frau, die ich, dem Klischee entsprechend, als wunderschön bezeichne (um ein möglichst ideales Bild von Familie zu zeichnen, und da ist noch immer eher die Frau wunderschön, der Familienvater aber fährt auf dem Fahrrad vorneweg).

Sie lässt sich nicht reinreden

Mara hält an, begrüßt mich freudig. Wir sprechen über dies und das, vielleicht über die neue Ausgabe der Zeit oder des Spiegels, Zeitschriften also, die diese ideal gezeichnete Frau gern liest. Sie versteht sich als aufgeklärt, selbständig, entschlossen. Mara würde sich bei Dingen nicht reinreden lassen.

Julius auch nicht. Oder hieß er Dennis?

Aber es naht ein Unglück. Wie wir so plauschen, fährt das jüngere Kind mit seinem kleinen Fahrrad an eine Straße heran. Ein Auto könnte kommen. Der Vater beginnt, hektisch zu rufen, die Mutter ebenfalls sofort. Der Vater legt die drei Meter zu dem Kind ganz schnell zurück, um es zurückzuholen bzw. in dem „feindlichen Raum“ dort vorne, wo ein Auto kommen könnte, zu schützen.

Als sich die Lage beruhigt hat, sind alle wieder beisammen, und ich spreche mit Mara über die Arbeit an meinem neuen Roman oder ihren geplanten Indonesien-Aufenthalt. Dort will sie an einem Projekt für Elefanten teilnehmen. Sie interessiert sich sehr für Elefanten.

Dasselbe Bewegungsmuster

Heute saß ich am Bad Nauheimer Kurparkteich. Gegen Mittag kam eine junge Entenfamilie über den Teich. Ich kenne die Mitglieder nicht namentlich, es handelte sich aber um das Elternpaar und drei Kinder.

Keiner hieß Dennis oder Julius oder Mara. Fahrräder gab es auch nicht.

Übrigens muss es keine Entenfamilie sein.

Ich könnte auch in Frankfurt am Mainufer sitzen, dann wäre es eine Nilgansfamilie, die gerade im Fluss in Ufernähe unterwegs ist, der Reihe nach wie an der Schnur aufgezogen.

Ich habe es tausendfach gesehen, es ist immer dasselbe Bewegungsmuster: das Tier im Wasser oder zu Land und der Mensch auf dem Fahrrad. Entledigt aller Biografie, aller Herkunft und Erziehung, aller sogenannten Individualität. Wenn eine Familiengruppe unterwegs ist, egal ob Ente oder Julius-Dennis mit Mara und den beiden Kindern auf dem Fahrrad, immer wird eine Kette gebildet, die von einem Erwachsenentier angeführt und von dem zweiten abgeschlossen wird. Dazwischen der Nachwuchs.

Betrachtung aus der Zooperspektive

Manchmal, bei Tier wie Mensch, zischt eines der Kinder aus Übermut nach vorn. Auf freier Fläche ist das kein Problem. Wird es aber unübersichtlich und ist eine Gefahrenquelle zu vermuten, erfolgt ganz heftiges Warn- und Rufgeschnatter. Es muss laut, warnend, etwas panisch ausgerufen werden und als Stimme der Eltern zu erkennen sein. Das Entenkind zischt sofort zurück, von einem inneren Alarmismus zu immenser Retourgeschwindigkeit getrieben. Das Fahrradkind bleibt immerhin verdutzt stehen und wartet auf Vater/Mutter.

Ist man einmal auf ein Phänomen dieser Art aufmerksam geworden, lernt man bald die ganze menschliche Gesellschaft aus der Zooperspektive zu betrachten. Ich sehe es immer wieder an mir selbst und meiner Frau. Und zwar unter anderem an unserem Bewegungsmuster.

Exkurs: Wir haben es in unserer Kindheit immer seltsam gefunden, wenn auf der Straße ein osteuropäischer Mann einherkam und die Frau einige Meter hinter ihm lief. Er lief vorneweg, sie in einem für uns merkwürdigen Abstand hinterher. Das kam uns irgendwie paschahaft vor. Damals hatten wir noch keine Betrachtungsdistanz zu uns selbst! Wenn ich heute beobachte, wie wir beide, meine Frau und ich, uns im Verbund bewegen, sehe ich Muster, die mir ebenso patriarchalisch erscheinen (und ebenso gut dem Vogel- oder überhaupt dem Tierreich entstammen könnten).

Unfreiwilliger Mikropatriarchalismus

Man nehme zum Beispiel wieder das Fahrrad. Ich fahre oft vor. Das fällt mir seit Jahren auf. Seit es mir auffällt, will ich eigentlich nicht vorn fahren, weil es mir zu klischeeartig scheint. Also lasse ich meiner Frau den Vortritt. Sie strebt diesen Vortritt allerdings gar nicht an. Da ist er, der durchdialektisierte Mikropatriarchalismus, und ich kann mich nicht einmal dagegen wehren, weil er durch Gegenwehr nur reproduziert wird. Denn wenn meine Frau vor mir fährt, dann eher deshalb, weil ich ihr nahelege, bitte vorn zu fahren. Weil das aber auch wieder zu blöd ist, lege ich es ihr eben oft gar nicht erst nahe und fahre einfach doch wieder vor. Tja.

Sehe ich bei anderen das Muster reproduziert, denke ich immer reflexhaft: „Ah, typisch, Mann fährt vor, Frau dahinter.“ Das können junge sportliche Paare ebenso sein wie Rentner, die vom Schrebergarten kommen. Ist bei mir der Sinn dafür ausgeschaltet, weil er gerade mit anderem beschäftigt ist, fahre ich natürlich selbst wieder vor.

Dass der Mensch aber trotz allem ein völlig freies Wesen ist, sehe ich an Christoph, einem Schweizer Freund. Obwohl er in einer ähnlichen Paarbeziehung lebt wie ich, fährt er grundsätzlich immer hinten.

Aber vielleicht liegt es auch nur daran, dass er dabei Zigarren raucht.

Andreas Maier ist vielfach ausgezeichneter Schriftsteller. Auf elf Bände hat er seinen Zyklus „Ortsumgehung“ angelegt, 2021 ist der achte Band mit dem Titel Die Städte erschienen (Suhrkamp). In Psychologie Heute erdichtet er an dieser Stelle jeden Monat das Blaue vom Himmel.

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 11/2021: Egoisten