Transkontinentale Terrassentreffen

Schriftsteller Andreas Maier über den Tag, als ein amerikanischer GI und ein Heimatvertriebener in ihrem Garten aufeinandertrafen.

Ein Soldat trägt eine Uniform und einen Helm mit Wolkenmuster und steht vor einer Blumenwiese.
Andreas Meier erinnert sich an tägliche Besuche von US-Soldaten im Garten seiner Eltern in seiner Jugend. © Jan Robert Dünnweller

Und nun zum vergangenen Krieg und seinen Konsequenzen. Oder: Weltgeschichte im Hintergarten.

Da sind zum einen die Amis. Als ich dreizehn, vierzehn Jahre alt war, hatten wir fast täglich Besuch von US-Soldaten bei uns zu Hause. Der Grund dafür war a) die Besatzung infolge des Weltkriegs und b) meine Schwester, die einige von ihnen bei Kontakttreffen und in der einzigen Diskothek in unserem Kreisstädtchen, dem Central, kennenlernte.

Zunächst saßen sie unter Aufsicht meines Vaters mit meiner Schwester im…

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Zunächst saßen sie unter Aufsicht meines Vaters mit meiner Schwester im Wohnzimmer, aber nach dem ersten Winter trat eine totale Lockerung ein. Besatzer und Besetzte verbrüderten sich. Meine Schwester rückte aus dem Fokus, und die GIs besuchten jetzt die Familie.

Wie hat man sich das vorzustellen? Sie streunten einfach zu uns. War am Anfang der erste GI noch allein erschienen, so hatte sich nun eine Runde von mindestens zwei oder drei etabliert.

Zu Hause bei den Nachbarn

Wir hatten einen großen Garten und eine Terrasse, man sah von ihr aus auf die Usa, unseren kleinen Fluss. Manchmal, wenn ich aus der Schule heimkam, war niemand von der Familie da. Die Amis kletterten einfach über unseren niedrigen Zaun, der uns zur Straße abgrenzte, setzten sich auf die Verandastühle, genossen es, aus der Kaserne fort zu sein, und hatten vielleicht zwei, drei Dosen Bier dabei. Sie fühlten sich bei uns einfach wie zu Hause.

Ich setzte mich dann immer zu ihnen. He, wie lange seid ihr schon da? Vielleicht eine Stunde, konnte die Antwort lauten. Wir unterhielten uns über Gott und die Welt, verbrachten Weihnachten, Silvester, Geburtstage miteinander und lernten uns in diesem langsamen, behäbigen Rhythmus, der früher noch möglich war, immer besser kennen. Das waren eine Zeitlang wirkliche Freunde.

Allesamt stammten sie nicht aus einer Großstadt, sondern immer vom Land. Sie waren Patrioten, aber man konnte über alles mit ihnen reden, und sie hassten ihren naturgegebenen Feind, die Sowjetunion, gar nicht so sehr wie erwartet. Einer fiel etwas ab, Kevin, der kleinste von allen. Er wirkte nicht glücklich fern der Heimat, war unausgeglichen, hatte manchmal Stress in der Kaserne und war eines Tages einfach aus dieser und vom Erdboden verschwunden. Die Kasernenleitung rief deshalb sogar bei uns an! So hatten sich unsere transkontinentalen Terrassentreffen herumgesprochen.

Ein ziemlicher Bär

Und dann war da hinter dem Garten noch der Hintergarten, etwa von der Größe eines halben Fußballplatzes und mit einigen Apfelbäumen bestückt. Von unserer Veranda aus blickte man auf ihn herab, er lag etwas tiefer. Linkerhand war ein Rosenbeet mit verschiedensten Rosen, in Zweierreihen geordnet, vielleicht zehn Meter lang. Im Sommer und Herbst ein herrlicher Anblick.

Der Hintergarten war das Reich Herrn Giebels, der in unserem weltgeschichtlichen Spiel die andere Seite vertritt. Nein, kein Sowjet! Aber einer dieser in Friedberg gestrandeten Vertriebenen aus Schlesien bzw. Ostpreußen. Unser Haus lag auf einem so gewaltigen Gelände, dass die Gartenarbeiten unmöglich von meinem Vater allein ausgeführt werden konnten, auch wenn er dafür das halbe Wochenende aufwendete.

Herr Giebel war auf seine Weise auch kaserniert, er wohnte im Karl-Wagner-Haus, das solchen Leuten Obdach gab, und hatte dort ein Bett und einen Spind. Ich empfand ihn stets als reduziert: Er war ein ziemlicher Bär, wenn auch nicht allzu groß, hatte mächtige Oberarme, aus denen pelzartig Haare wuchsen, er artikulierte ziemlich unverständlich, wirkte nicht gerade gedankenschnell – aber mir war als Jugendlichem nicht wirklich bewusst, dass unser Herr Giebel (Kurt) einfach ständig unter Bier stand und deshalb so unbeholfen wirkte.

Kurzzeitige Verbannung aufgrund eines Ärgernisses

Samstags aß er mit uns zu Mittag, freilich in der Küche und nicht im Esszimmer, stets im Unterhemd und immer verschwitzt. Es wurde gesiezt. Mich duzte er. Herr Giebel war wohl um die 15 Jahre bei uns. Keine Ahnung, woher es ihn zu uns vertrieben hatte, von seiner Vergangenheit wusste ich nichts, und unter Bier neigte er eher zur Einsilbigkeit kurz vor dem Verstummen.

Vor allem unser Hintergarten war sein Lebensraum. Dort konnte er schal­ten und walten, fast wie er wollte. Im Sommer wuchs das Gras manchmal so hoch, dass man von Herrn Giebel nur noch die obere Hälfte sah, die Rosen waren dann ganz verschwunden, man sah sie von der Veranda nicht. Einmal wagte es Herr Giebel, dort hinten seinen körperlichen Bedürfnissen nachzukommen (was er sicher regelmäßig tat, sonst aber ohne entdeckt zu werden). Da herrschte ein gewisses Trara, und er durfte eine Weile nicht mehr erscheinen, bis er begnadigt wurde.

Eines Tages nun aber traf das ganze frühere Weltkriegsgeschehen, das sowohl die Amis als auch Herrn Giebel auf unser Terrain gespült hatte, noch einmal auf umgekehrte Weise zusammen, also mit vertauschten Rollen. Das Gras war wieder einmal hochgewachsen, mit Mohn durchsetzt, Herr Giebel zog seine Linien durch den Bewuchs, wie er dort arbeitete, und kam dann verdutzt zu meinem Vater, denn er hatte seltsame Spuren im Gras entdeckt. Was konnte das sein? Einmal sogar hatte er ein Huschen bemerkt, das sich schnell am Zaun entlang bewegte Richtung Usa, wo das Gebüsch ganz dicht gewachsen war.

Entdeckung im tiefen Gras

Mein Vater, ob er als Bewaffnung ei­ne Schaufel mitnahm? Jedenfalls stiegen die beiden Herren ins Gras, suchten es ab und fanden nach einer Weile jenen fahnenflüchtigen GI Kevin, völlig verängstigt, der sich schon den dritten Tag in unserem Hintergarten versteckt hielt. So wurde der Amerikaner von dem Deutschen aus den Ostgebieten gestellt, der damals seine Heimat verloren hatte und aufs Bier gekommen war.

Die deutsche Mutter startete sofort mit Versorgungshilfeleistungen für den Amerikaner, päppelte Kevin mit Brötchen und Kaffee auf, und mein Vater, Rechtsanwalt, übernahm das Regiment, rief in der Kaserne an, verhandelte, beschwichtigte, das junge Alter, die Entfernung von der Familie etc. Er schaffte es, dass nicht einmal die MP bei uns erschien, sondern fuhr den Soldaten selbst in die Kaserne, um unter Zusicherung von Straffreiheit den boy seiner Besatzungsmacht zurückzugeben, während Giebel daran ging, mal lieber das Gras zu mähen.

Andreas Maier ist vielfach ausgezeichneter Schriftsteller. Auf elf Bände hat er seinen Zyklus „Ortsumgehung“ angelegt, 2021 ist der achte Band mit dem Titel Die Städte erschienen (Suhrkamp). In Psychologie Heute erdichtet er an dieser Stelle jeden Monat das Blaue vom Himmel.

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 3/2022: Burn on