Zweierlei Berührung

Eine Begegnung im Wald. Eine ganz andere im Bus. Wie die Zivilisation das Zwischenmenschliches verändert, beschreibt Schriftsteller Andreas Maier

Die Illustration zeigt zwei Spaziergänger, die aneinander vorbeigehen, und zwei blaue Schatten werfen
Jeder hat sie täglich unzählige Male: Zufällige Begegnungen © Jan Robert Dünnweller

Vor kurzem hatte ich zwei Begegnungen völlig unterschiedlicher Art. Die eine fand im Wald statt, die andere in einem Bus in Frankfurt. Bei beiden ging es um Berührungen.

Zuerst Wald: Bei uns in der Gegend sieht man öfter einen Menschen mit einem großen Dreirad umherfahren. Die Füße sitzen schief auf den Pedalen, die Schuhe klobig geformt, der Mann hat einen Helm auf, schräge Kopfhaltung, überhaupt sitzt er verwinkelt auf dem seltsamen Gefährt, und sein Tempo unterscheidet sich nur wenig von dem einer…

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dem seltsamen Gefährt, und sein Tempo unterscheidet sich nur wenig von dem einer Schnecke. Vom Sehen kenne ich den Mann seit vielleicht drei Jahren. Manchmal höre ich, wie er mit Vornamen gegrüßt wird: „Hallo ***, und, wieder unterwegs? Ist ja auch schönes Wetter heute!“, oder etwas in der Art.

Im Wald war ich ihm bislang nie begegnet. Vor kurzem also fuhr ich auf dem Fahrrad über meinen Waldweg, hatte es einigermaßen eilig und noch mehr als zehn Kilometer hinter mich zu bringen. Wie ich so vor mich hinfahre, sehe ich von weitem etwas Ungewöhnliches im Graben am Wegrand. Nach ein paar Metern erkenne ich, worum es sich handelt: um den Dreiradfahrer.

Das Bild, das sich mir bot, war Folgendes: Das Dreirad steckte vornüber im Graben, der Mann hatte die Kontrol­le darüber verloren. Er war nicht gänzlich in den flachen Graben gefahren, auch nicht umgestürzt, aber das Rad stand schief und musste herausgezogen werden. Ich sah den hilflos wirkenden Mann über das Fahrrad gebeugt.

„Oje“, dachte ich, bremste und stieg ab.

Huckepack im Wald

Ich fragte, ob ich ihm helfen solle, und stellte fest, dass der Mann offenbar fast nicht sprechen kann. Er schaute mich mit panischem und verzweifeltem Gesicht an. Ich sagte, ich würde ihm helfen, das Rad herauszuziehen. Aber schon beim ersten Versuch merkte ich, dass das Rad schwerer war als gedacht. Vor allem begriff ich, dass der Mann gar nicht versucht hatte, das Ding aus dem Graben zu bekommen, sondern sich offenbar einfach nur an dem Gerät festhielt, denn er konnte in der Situation kaum stehen.

Also sagte ich, er solle sich weiter am Rad festhalten, und versuchte, es nun Stück für Stück herauszuziehen, was sich aber als unmöglich erwies. Deshalb machte ich dem Mann klar, dass er sich von hinten an meinem Körper festhalten solle. Zur Verdeutlichung legte ich seine Hände an meine Seiten. So gelangte die seltsame Gruppe aus zwei Leuten und einem Rad aus dem Graben. Der Mann schnaufte und schien stumm zu weinen, sofern ich seinen Gesichtsausdruck lesen konnte.

Auf dem Weg angekommen, stellte ich nun erst wirklich fest, dass er fast nicht stehen konnte. Als ich sein Rad in die Gegenrichtung drehen wollte, fiel er fast um. Ich stützte ihn von hinten und legte dann wieder seine Hände an meine Hüften, woraufhin er sich festkrallte. So gleichsam mit ihm im Huckepack gelang es mir, das Rad zu drehen.

In dem Moment kamen zwei Frauen vorbei und sahen uns etwas befremdet an. „Äh, ist alles in Ordnung?“, fragte die eine. „Na ja“, sagte ich. „Haben Sie zur Sicherheit ein Telefon?“, fragte die Frau. Ich bejahte und fragte meinerseits, ob die Frauen den Mann vielleicht kennten. Wie gesagt, ganz unbekannt scheint er hier in der Gegend ja nicht zu sein. Die Frauen verneinten.

Urbane Abschottung

Der Mann atmete immer noch, schien sich aber etwas zu beruhigen. Als er nicht mehr so panisch wirkte, half ich ihm aufs Rad, da ich inzwischen überzeugt war, im Sattel sei er sicherer als auf dem Erdboden. Ich zeigte ihm, in welche Richtung er zurückfahren müsse. Er hatte etwa zwei Kilometer vor sich. Für ihn keine ungewöhnliche Distanz. Ich hoffe bis heute, dass er zurückgefunden hat. Als er losfuhr, liefen auch die beiden Frauen weiter. Ich rief der einen Frau zu: „Sie haben ihn ja noch eine Weile im Blick! Haben Sie denn ein Telefon?“ „Ja“, sagte sie.

Später stellte ich fest, dass ich mit Schlamm überzogen war. Seine Hände hatten sich überdies klebrig angefühlt. Nicht leicht zu vergessen: den sehr großen Kopf mit diesem stumm-panischen Ausdruck und dieser existenziellen Hilf­losigkeit direkt vor sich zu sehen, aus unmittelbarer Nähe und quasi im Zustand gegenseitiger Umarmung.

Nun zur Busbegegnung. Es stieg eine vielleicht achtzehnjährige Frau ein. Sie blickte nicht um sich, Ohrstöpsel, allgemeine Abschottung gegen das blöde Draußen. Das hundertprozentige Gegenteil von dem Menschen im Wald. Der war aus anderen Gründen in sich abgeschottet. Sie setzte sich eineinhalb Meter vor mich in die nächste Vierersitzgruppe, den Rücken zu mir. Der Rucksack stand sperrangelweit auf. Vielleicht war er ja leer, vielleicht war er das absichtliche Symbol einer demonstrativen Verhuschtheit.

Als sie wieder aufstand, sah ich allerdings, dass der Rucksack voller Gegenstände war, unter anderem dem Portemonnaie der jungen Frau. Es befand sich kurz vor dem Herausfallen. Da Gedränge war, konnte ich nicht vor die Frau kommen, dann hätte ich vielleicht irgendwelche dämlichen Winke-winke-Bewegungen vor ihren Augen machen können. Von hinten ansprechen ging nicht aufgrund der Ohrstöpsel.

Schrankenüberschreitung

Es hätte mir egal sein können, schließ­lich hatte ich mit der Person nichts zu tun, ebenso übrigens wie mit dem Mann im Wald. Der Verlust eines Portemon­naies nimmt einen allerdings gewöhnlich ein paar Tage in Anspruch. Die Delikatesse der Situation war mir bewusst: Auch hier würde es nicht ohne eine Berührung abgehen, und sie würde nicht der gesellschaftlichen Konvention entsprechen (im Wald war das völlig egal gewesen).

Ich berührte ihre Schulter, um auf mich aufmerksam zu machen. Sie drehte sich um und schaute mich an wie ein Alien. Eine totale Schrankenüberschrei­tung! Schließlich, als die dunkelsten Wolken aus ihrem Blick verschwunden waren, zog sie einen Stöpsel heraus, weil sie ahnte, dass vielleicht doch etwas vorliege. Oder um mich zu beschimpfen. Dann nahm sie auf meinen Hinweis den Rucksack ab, schaute ihn erstaunt an und sagte widerwillig: „Okay, ja, gut, stimmt.“ Sie sagte es, indem sie mich immer noch grundlegend verdächtig fand oder als sollte ich in ihrer Welt möglichst gar nicht vorkommen.

Beim Aussteigen murmelte sie einen Dank, mied jeden Blick und verschloss draußen im Gehen den Rucksack, um sich dann wieder den Stöpsel einzustecken. Das, dachte ich, ist Gesellschaft. Zivilisation. Im Wald dagegen waren wir bei uns gewesen, der Mann und ich. Einfach so und mit bloßer Notwendigkeit.

Andreas Maier ist vielfach ausgezeichneter Schriftsteller. Auf elf Bände hat er seinen Zyklus „Ortsumgehung“ angelegt, 2021 ist der achte Band mit dem Titel Die Städte erschienen (Suhrkamp). In Psychologie Heute erdichtet er an dieser Stelle jeden Monat das Blaue vom Himmel

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 7/2022: Sehnsucht